🇳🇱 Auszeit 2022 - Amsterdam
12. September 2022 - Ich gehe wieder auf Reisen...
Heute ist wieder ein Tag, an dem etwas Neues beginnt. Diese Tage sind meine Lieblingstage! Die letzten vier Wochen seit der Rückkehr von meiner Kaukasusreise wohnte ich auf dem Landgut meiner Schwester und ihres Mannes. Es war ein Konglomerat aus Terminen, Organisation, Aktionen, Entspannung und Planung, wie man es sich kaum wilder vorstellen kann. Nicht, dass es nicht zu bewältigen gewesen wäre oder vieles schief gegangen wäre, ganz im Gegenteil, letztlich hat alles prima geklappt und ich hatte im Grunde viel zu viel Zeit. Und wenn wir dann auf längeren Eselspaziergängen mal etwas Kontemplation fanden, spürte ich das innere kleine Chaos. Mein mesolimbisches Vorderhirn taumelte noch im Rausche der Erinnerungen an die Erlebnisse der Kaukasustour, derweil verwaltete das Großhirn bereits die Termine, Zeiten und Telefonnummern des anstehenden Umzugs meiner Mutter in ihr neues Zuhause. In der Seele wuchs die neue Sehnsucht nach Übersee heran und in den Knochen pochte meine Müdigkeit und verlangte nach Entspannung und Regeneration. Ich bin in diesen Tagen sechzig Jahre alt geworden, aber damit hat das sicher nichts zu tun!
So verging die Zeit manchmal im Fluge, manchmal im Schneckentempo. Wir waren viel draußen, genossen den Wahnsinns-Sommer und bekämpften die beängstigende Dürre in der Waldschonung. Wir quatschten an den kaum kühleren Abenden bis tief in die Nacht und manchmal, wenn mein Gemüt unter der nicht vorrücken wollenden Zeit zerfiel, bin ich meinen Gastgebern auch gehörig auf die Nerven gegangen. Danke für Eure Nachsicht, ich mache das nie wieder ;-)
Dass mein Motorrad schon im Hamburger Hafen verladefertig auf die lange Reise nach Südamerika wartet, haben viele von Euch ja schon gelesen, aber was tun mit der langen Zeit bis zur Ankunft? Verreisen? Nun ja, dann mache ich mich mal auf! Ich verabschiede mich vom Landhaus und meinen Lieben und dann geht es neuen Zielen entgegen.
Ein frühes Taxi und eine Regionalbahn eher bringen mich mit ausreichend Puffer zum Bahnhof Osnabrück. Natürlich ist heute alles pünktlich, ich erreiche den Schnellzug problemlos und habe nun etwas Zeit, ein paar Zeilen für Euch zu schreiben. Gerade passieren wir Apeldoorn und eiern durch die Niederlande, am Nachmittag werde ich pünktlich in Amsterdam Centraal sein.
Mich empfängt die berühmte aber beschauliche Altstadt mit ihren engen Grachten und den kleinen bunten Häusern rechts und links. Mein Hotel ist gleich um die Ecke des Bahnhofs, das spart Zeit, die ich für einen spontanen Spaziergang nutze. Die Sonne scheint noch sommerlich, ein angenehmes Treiben belebt meine Sinne und ich genieße die Stadt. Ich bin wieder unterwegs, das ist so wunderbar.
Die Stunden vergehen und irgendwie macht sich dann doch ein unangenehmer Beigeschmack bemerkbar. Nein, ich bin nicht völlig bekifft, obwohl das nicht verwunderlich wäre, denn die Gassen sind gefüllt mit den Abgasen des fröhlichen Graskonsums. An allen Ecken verraten die verdampften Terpene die Liebhaber von Joint und Bong. Und das sind nicht mehr die Hippies der 70er, sondern die Hippster der 2020er. Es ist wie in so vielen berühmten Städten einfach zu viel geworden. Zu viel urban lifestyle, pure Reizüberflutung. Die gnadenlose Vermarktung von Attitüden, die Amsterdam berühmt gemacht haben. Aber es ist schlicht zu wenig, wenn Sex, Cannabis und Fressmeilen das einzige Überbleibsel einer Stadt sind, die eine der ganz großen Handelsstädte nicht nur der europäischen Geschichte darstellt.
Eine kleine Grachtenfahrt soll mir helfen. Bei schönster Abendstimmung schippern wir eine gute Stunde durch die zum Teil winzigen Kanäle. Ich lerne etwas über die Handelsgeschichte, über das mit 1(!) Meter schmalste Haus in Amsterdam, die pittoresken kleinen und großen Handelshäuser mit so netten Namen wie „die beiden Brüder“, „die beiden Schwestern“ oder „Vater und Sohn". In Amsterdam wachsen die meisten Ulmen der Welt, was sogar von der UNESCO honoriert wurde. Wir passieren das Wohnhaus von Rembrandt hinter der Sluyswacht, das weithin sichtbare Science Center NEMO und die Kopie eines gesunkenen Hong Konger Mega-Restaurants am Oosterdokseiland. So gefällt mir das schon besser.
Zum Abschluss des Tages suche ich mir ein kleines portugiesisches Restaurant aus, denn auf die landestypischen Bitterballen habe ich heute keine Lust. Bodenständiger Bacalhau à Brás mit einem einfachen Vinho Verde und tatsächlich, die Inhaber sind Portugiesen. Wie schön der Wohlklang der Sprache und wie verrückt die unmittelbare Assoziation zu meinem Portobesuch im letzten Winter. Es ist schon spät und ich schlendere durch Leuchtreklame und Cannabisgeruch zurück ins Hotel, wo es hoffentlich nicht zu laut wird im Zimmer, denn mein Fenster geht direkt in eine gemäßigte Rotlichtzone. Gute Nacht.
13. September 2022 - Riesenschlangen in Schiphol
Die Nacht war mäßig erholsam, es war warm im winzigen Zimmer. Die Fenster konnte ich wegen des Partylärms nicht öffnen. Dennoch fand ich mich gegen neun Uhr gut gelaunt beim dürftigen Frühstück. Schaumbrot, hauchdünner Gouda und noch dünnerer Kaffee, H-Milch zum Müsli, hartgekochte Eier kalt, Dosenobst. Natürlich alles im dreistelligen Zimmerpreis inklusive. Toller Start in den Tag, er kann nur besser werden.
Ich mache mich auf in die morgendlichen leeren Gassen, in denen vor wenigen Stunden noch das Leben tobte. Nun dominieren beschwingte Reinigungskräfte, Müllfahrzeuge und Lieferanten das Bild, beliefern die Läden mit frischer Nahrung und neuen Drogen für den nächsten Partyzyklus. Alles wird richtig herausgeputzt, neu arrangiert und präsentiert und die größeren Kollateralschäden werden mit viel Wasser gereinigt und in die Kanalisation gespült. Nicht hinsehen, ich habe just gefrühstückt.
Ein kleines Café an der Paulusbroederssluis lädt mich zu einem Smoothie und einem Öko-Cookie ein, hier wird gesurft, gechattet und online gearbeitet. Das tue ich jetzt auch. Ich schreibe ein paar Zeilen für Euch, bearbeite meine neusten Fotos und checke immer wieder die Situation am Flughafen Schiphol. Gigantische Warteschlangen sind ja seit COVID normal, aber schon gestern meldeten die Medien einen „Peak-day“ für heute. Ich werde etwas nervös und kann die Situation von hier aus nicht zuverlässig einschätzen. Die Entscheidung fällt dann schnell: Vorwärtsterminierung!
Zurück zum Hotel, Tasche aus der Gepäckaufbewahrung geholt und auf zum nahen Bahnhof. Ticket 4,70 EUR und keine 25 min später erreiche ich den Flughafen Schiphol. Es ist erstaunlich ruhig, allerdings sehe ich auffällig viel Personal der Airlines. Alle sammeln ihr Fluggäste ein und die Check-Ins sind schon weit vor den offiziellen Zeiten geöffnet. Tasche abgeben, Bordkarte, fertig. Und jetzt zum Ende der Schlange. Der Weg dorthin führt aus dem Empfangsgebäude hinaus, entlang der Straße. Ein schier endloser Zeltgang mit Boardwalk, gelegentlichen Toiletten, Kaffeeständen, Belüftungsventilatoren und Überdachungen ist angelegt um die Passagiere vor dem Wetter zu schützen und bei Laune zu halten.
Ich mache es kurz, die Schlange war geschätzt über 600 m und es dauerte „nur“ 1h50min bis die Security hinter mir lag. Es war die richtige Entscheidung, denn der nette Niederländer, mit dem ich die Zeit komplett verplaudert habe, berichtete schon von der doppelten Länge. Jetzt muss ich noch knappe zwei Stunden füllen bis zum Boarding, was nicht schwer sein sollte. Normalerweise habe ich nämlich immer zu wenig Zeit, die Reisegeschichten aufzuschreiben. Und ganz ehrlich, ich bin sehr froh, dass ich es geschafft habe und freu mich auf meinen Flug AF8499. Das war’s für heute, schlafen werde ich im Flieger.