Weihnachtliche Wanderungen

🇵🇹 Madeira

Tag 1 - Samstag 12. Dezember 2020

Eine Insel namens Holz

Eine dunkle Wolke steht am Horizont, das war das einzige, wovon die Seefahrer berichteten. Dann stachen sie in See, um dieses Geheimnis zu lüften, noch unter der Annahme, die Erde sei eine Scheibe. Wieviel Mut oder Verzweiflung mussten die Menschen gehabt haben, sich zu dieser Reise aufzumachen. Doch was sie fanden, belohnte sie reich: Eine unbewohnte Insel mitten im Ozean mit riesigen Lorbeerwäldern und goldenen Stränden, lange vor der Entdeckung Amerikas.
Was erwartet man, reist man auf eine Insel, die wörtlich übersetzt „Holz“ heißt? Der Name ihrer Hauptstadt Funchal, sprich [fʊnˈʧɑːl], leitet sich vom vitaminreichen Fenchel ab, der hier bei der Entdeckung der Insel im Jahre 1419 durch João Gonçalves Zarco, Tristão Vaz Teixeira und Bartolomeu Perestrelo, in seiner Wildform (Foeniculum vulgare) weite Verbreitung fand. Und zack, war die neue Insel strategischer Stützpunkt, die reichen Wälder wurden nach und nach für den Schiffsbau restlos abgeholzt - daher auch der Name „Holz“. Ein Schicksal, das viele Inseln so oder so ähnlich ereilte, wurden sie erst einmal entdeckt. Heute nennt man das Eiland im Atlantik auch die Blumeninsel, obwohl viele vermeintlich charakteristische Blumenarten, wie Hortensien oder Strelizien niemals hier heimisch waren, sondern aufgrund des vorteilhaften Klimas vom Menschen hier eingeführt wurden.

Und fliegt man wie ich heute von Frankfurt nonstop nach Funchal, dauert das keine vier Stunden. Das kleine Menü in der Business Class - hier ist der Abstand zum Nachbarn größer - war sehr lecker, es gab Zucchini Mozzarella Antipasti, Heilbutt und ausgewählte Käse mit Feigensenf. Dazu Mineralwasser, ich muss ja nach Ankunft noch Auto fahren. Die schneebedeckten Picos de Europa ziehen leise unter mir hinweg, dann geht’s über das Minho und hinaus auf den Atlantik. Schon eine Stunde später die eindrucksvolle Landung. Nach harter Rechtskurve setzen wir weich auf der kurzen Landebahn auf. Sie steht zur Hälfte auf Stützpfeilern, so wenig flaches Land gibt es hier. Chegada!
Warmer Wind und Sonne begrüßen uns auf dem Vorfeld. Fieber messen, registrieren, Corona Test vorlegen, Shuttle, Mietwagen und auf geht’s von der Sonne in den Nebel. Auf etwa 800 Meter liegt mein kleines, wunderschönes Haus, mitten im üppigen Grün an den steilen Hängen des kleinen Vale Paraiso. Ein weicher Douro tinto, Serras de Penela, Salpicão, e um pouco de pão. Filomena, meine Gastgeberin hat mir eine Tüte des traditionellen Broas de Gengibre auf den Schreibtisch gelegt. Droga, estou bem!

Tag 2 - Sonntag 13. Dezember 2020

Über den Wolken

Die Nacht war still und erholsam, der Morgen kühl, grau und nebelig. Heißer Tee, Obstfrühstück, Sachen packen und los. „Die Berge sind wolkenfrei“, rief mir Pedro zu, der Mann von Filomena. Das sind beste Aussichten auf einen tollen Tag. Auf zum Pico de Arieiro! Eine gute halbe Stunde fahre ich auf abenteuerlichen Straßen im dicksten Nebel steil bergauf. Der kleine Cinquecento ist lustig, fährt sich prima, kann aber nix. Den vierten Gang brauche ich gar nicht. Dann reißt so nach und nach der Himmel auf. Hier und da ein kleines Loch, ab und zu blitzt sonniges Himmelblau durch die Wolken. Noch bin ich nicht oben. Es wird heller, bald sind diffuse Schatten zu erkennen, dann steigt die Straße endgültig aus den Wolken heraus in die klare Bergluft und ein atemberaubender Blick über die Gipfel Madeiras öffnet mir das Herz. 

Hier oben am Observatorium beginnen viele Wanderwege über die höchsten Bergspitzen der Insel. Ich werde heute aber nur einen kleinen Abstecher zum Miradouro Ninho da Manta machen. Zu eindrucksvoll sind die steilen Berghänge und das unvorhersagbare Spiel der Wolken, als dass ich nicht alle paar Meter verweile, um mit Hingabe an diesem Schauspiel teilzuhaben. Die Wege sind erschlossen, aber Touristen sind derzeit wenige hier oben, trotz Sonntagnachmittag. Mag es an Corona liegen, es soll mir recht sein. So gelingt es auch, die Ruhe dieser Bergwelt einzusaugen und sich satt zu sehen an ihrer Schönheit. Ich bin fasziniert von der Gewaltigkeit und der Größe dieses Naturschauspiels. Niemals wird der Mensch Dinge schaffen, die auch nur annähernd an diese Dimensionen heranreichen werden. Alles geschieht leise, langsam und unaufhaltsam. Demut verdrängt das erste Gefühl der Faszination, ja, dafür bin ich hierhergekommen.

Nach drei Stunden komme ich zurück zum Observatorio. Ein Cappuccino in der Sonne und im Souvenirladen nebenan kaufe ich eine Landkarte und einen tollen Wanderführer, die mir helfen sollen, die nächsten Touren besser planen zu können. 
Dann geht es mit dem Auto hinunter durch die vielen Tunnel, die einem den Eindruck geben, als führe man durch einen Schweizer Käse. Es dauert gerade mal 35 min, um von 1800 Meter bis auf Seehöhe zu gelangen. Die Abendsonne an der Baia d‘ Abra taucht den Pico do Furado und die Insel São Laurenço in warmes, goldenes Licht. Es ist angenehm lau und ein wunderbarer Ausklang des Tages.

Tag 3 - Montag 14. Dezember 2020

Das Ziel bleibt unerreicht

Der Mensch wird vom Licht wach. Die Sonne scheint in mein Schlafzimmer, der Wetterbericht hatte recht. Es ist neun Uhr und ich bin ausgeschlafen. Tür auf, die frische warme Luft verdrängt den Atem der Nacht. Herrlich! Tässchen Earl Grey, Joghurt, Obst. Alles auf der kleinen Terrasse in der Sonne. Ich habe keine Lust auf detaillierte Wanderplanung, dafür war es gestern Abend auch zu spät. Also wähle ich den pragmatischen Ansatz: Anfahrt kleiner eine Stunde, Rundweg, Gehzeit unter fünf Stunden, Lage hoch wegen der Sonne, Level leicht oder mittelschwer. Enter! Der Wanderführer gibt als Ergebnis den Weg Nr. 20 aus: Fajã da Nogueira.
Schon kurze Zeit später bin ich mit dem Auto auf bekannter Route über die Berge unterwegs, vorbei an Poiso bis Fajã do Gedro Gordo. Dann kommen zwei Kilometer schlammige, grobe Dreckspiste, für die ich mir eher meinen australischen „Jimmy“ (Toyota Buschtaxi) gewünscht hätte und nicht einen Cinquecento. Aber, er hat’s gemacht, rispetto!

Schuhe zu, Rucksack aufschnallen, auf geht’s. Vom ersten Schritt an geht es nur bergauf. Dicht bewachsen steht satt grüner Urwald an den Hängen, viele Lorbeerbäume, riesige Farne und unzählige mir unbekannte Pflanzen. An den senkrechten felsigen Wänden wachsen prächtige endemische Sukkulenten (Aeonium glandulosum). Nach einer guten halben Stunde erreiche ich zwei uralte Lorbeerbäume, die geradezu mystisch auf mich wirken, mache ich mir bewusst, dass ihre Wurzeln älter sind als die Entdeckung dieser Insel im Jahr 1419. Das sind mehr als 600 Jahre! Außer den riesigen Baobab im südlichen Afrika habe ich nie ältere Bäume gesehen. Ich verweile etwas, eine kleine Quelle löscht meinen Durst, dann setze ich meinen Aufstieg fort. Der Weg zieht sich, es ist warm, aber feucht. An den felsigen Stellen hört man ständig Eidechsen rascheln, sie sind zu schnell, um sie zu sehen, geschweige denn zu fotografieren. Zwei Geräusche begleiten mich und es soll bis zum Ziel so bleiben. Es ist das Plätschern von Wasser, das unaufhörlich von den Wänden tropft und es ist das monotone Rauschen der vielen Wasserfälle in diesem großen Tal. Es dauert fast zwei Stunden bis ich die ersten Levadas erreiche. Das sind die kilometerlangen Wasserkanäle, in denen man seit Jahrhunderten das Gebirgswasser einsammelt und weiterleitet, um weit entfernte Obstplantagen und Ackerflächen zu bewässern. Ab hier ist die Steigung nicht mehr zu spüren, es geht fast waagerecht immer an den Levadas entlang. Viele Tunnel liegen auf dem Weg, in denen man sich den Fußweg mit dem rauschenden Wasser teilt. Eine gute Taschenlampe ist nötig, wenn man nicht in tiefe Pfützen oder gar in die Levadas selbst hineintreten möchte. 

Der letzte von 10 Tunneln ist mehr als 100 Meter lang und stockduster, ein mystisches und gleichermaßen gespenstisches, bedrohliches Tropfen begleitet den Durchgang. Meine Hightech-Stirnlampe bringt zwar filmtaugliche Helligkeit in den uralten Stollen, aber Wohlbefinden kann auch sie mir nicht bieten. Dieser düstere Durchgang durch den Berg ist wie eine verhornte Wunde, die der Berg einfach nur duldet. Ich bin irgendwie froh, als ich das andere Ende erreiche und der Berg mich wieder freigibt. Es wird immer nasser und ich nähere mich dem Ziel meines Weges, den Wasserfällen am Fajã da Nogueira. Fajãs nennt man kleine Ebenen oder flachere Geländeabschnitte, die durch vulkanischen oder erosiven Einfluss entstanden sind. Doch es sollte nicht sein, ein gewaltiger Bergrutsch hat den gesamten Weg samt Levadas weggerissen. Ein Weiterkommen wäre nicht unmöglich, aber es ist zu gefährlich. Zudem kann man die vielen Wasserfälle auch von hier in ihrer ganzen Schönheit sehr gut beobachten. 
Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht, nur die herabkriechende, feuchte Kühle der Wolken erinnert mich daran, dass ich den Abstieg ja noch vor mir habe. Eine letzte Brotzeit zur Stärkung, Schuhe nachschnüren und abwärts des Weges, den ich gekommen bin. Es ist nicht einfach nur der Rückweg, sondern ein ganz eigenes Erlebnis. Ein wunderbarer Weg an einem wunderbaren Tag.
Casa Azalea und ein leckeres Abendbrot warten auf mich. Um belo dia ficou para trás.
 

Tag 4 - Dienstag 15. Dezember 2020

Allein mit dem Wasser und den Bäumen

„Don't expect to be alone there.” So steht es in meinem englischen Wanderführer, den ich vorgestern auf dem Pico de Arieiro erwarb. „Of course I do not“, aber ich bin dann doch alleine dort, soviel sei vorweggenommen. „Bom dia.“, so der Gruß der letzten Wanderer, die mir entgegenkommen auf meinem Abstieg zur Cascata do Risco. Ja, es soll ein guter Tag werden - ein bemerkenswerter.
Es ist wieder das Plätschern und Flüstern des allgegenwärtigen Wassers, das mich schon gestern begleitete. Nein, es ist nicht nur ein Geräusch, es ist eine Sprache, es hat unbestritten einen Klang, eine Phonetik, eine wahrnehmbare Botschaft. Als wolle es mir etwas erzählen, wiederholt sich der „Text“ dieser Wassersprache an jedem kleinen Zufluss, an jedem Quell, das den moosbewachsenen Felswänden entspringt und meinen Weg säumt. Aber nicht jedes Wasser sagt mir etwas anderes. Nein, alles ist eins, wie ein Chor, der sich entlang des Caminho aufgestellt hat und kanonartig zu mir spricht, mir etwas berichtet aus lange vergangenen Zeiten, mir etwas zuflüstert, mich informiert, vielleicht sogar warnt vor Gefahr. Ich kann es nicht verstehen.

Auf dem kleinen Weg ist es nass und modrig. Sinnlos erscheint mir der komfortable, massentourismustaugliche Ausbau des Weges. Es ist doch niemand hier. Mein Schritt hat sich verlangsamt, ich wandere nicht mehr zügig, ich gehe jetzt ruhig und besonnen durch die uralten Baumtunnel, gefolgt vom Wasser in der Levada do Risco, das langsam rechts neben mir fließt. Die knorrigen Bäume sind verkrüppelt und verwachsen durch jahrhundertelange Wetter. Sie haben widerstanden mit stoischer Geduld und Anpassung, sind dem Wanderer weder wohl noch schlecht gesonnen, sie sind einfach da. Was kümmern diese Bäume die Kreaturen, die seit Urzeiten an ihnen vorbeiziehen? Sie, die Bäume,  werden noch hier sein, wenn längst keine Menschen mehr durch ihren Schatten wandeln.
Das dominante Rauschen der Cascata do Risco kommt näher, ich bin am Ende des Tals angekommen. Glück und Demut zugleich erfüllen mich beim Anblick des Katarakts, der aus immenser Höhe in mehreren Stufen und Seitenströmen zu Tal stürzt. Das ist kein Flüstern mehr, das ist eine ganze Sinfonie. Ich suche mir einen Platz und lehne mich zurück, um die ganze Kraft dieses Wasserfalls in mich aufzunehmen. Einige kleine Vögel setzen sich nur wenige Zentimeter neben mich. Unbekümmert, unerschrocken. Sie sind die Gastgeber an diesem Ort. A vida pode ser um presente maravilhoso. Obrigado!

Tag 5 - Mittwoch 16. Dezember 2020

Das Element Luft

Nachdem ich mich gestern und vorgestern ausgiebig dem Element Wasser gewidmet habe, durfte ich heute das Element Luft in Form von Wind erleben. Das Ziel war der 1861 Meter hohe Pico Ruivo.

Der Pico Ruivo ist die höchste Erhebung auf Madeira. Vom Achada de Teixeira ist es eher ein Spaziergang als eine Wanderung zum Ruivo. Hier auf Madeira sind die meisten Gipfel erschlossen und die Wanderwege dorthin sind luxuriös ausgebaut. Und wieder war wenig touristischer Andrang, zumal ich mich erst am frühen Nachmittag auf den Weg machte. In der zweiten Tageshälfte ist das Wetter in den Bergen meist besser, das heißt, die Chance auf Wolkenfreiheit ist höher, aber der Preis kann extremer Wind sein. So war es heute.

Wasserbeladene Wolken hüllten mich bei meinem Aufstieg ein, mal nieselte es, mal war es nur dichter Nebel. Mal war es windig und dann wieder völlig windstill. Ich atmete ein, wünschte, die blasse Sonne setzte sich durch. Nur für Sekunden erfüllte sich dieser Wunsch und die nächsten massiven Wolken stürmten mit Macht aus dem nördlichen Tal von Santana herauf. Sie versperrten die Sicht auf das Dach Madeiras, alles war grau und nass und kalt und hoffnungslos. Warum heute? Wieso gehe ich eigentlich bei diesem Wetter auf den Gipfel? Werde ich oben überhaupt etwas sehen können? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, ich erwog kurz die Umkehr und eine Verschiebung dieser Tour. Nee, ich geh‘ da jetzt rauf. Wird schon. Aber es wurde zunächst nicht wirklich besser, obwohl schon kleinste sonnige Momente das Gemüt erheiterten und motivierten durchzuhalten. Die letzten 1,1 Kilometer bestehen aus Stufen. Steil, unregelmäßig, nass und deshalb glitschig. Bis nach oben, bis auf die Gipfelplattform. Immer noch rasten wilde Wolkenfetzen von Norden über den Sattel, um dann sofort tief ins südseitige Nogueiratal zu stürzen und sich dort aufzulösen. Der Wind war auf den letzten Stufen zum Pico so stark, dass ich langsamer gehen musste, um meine Trittsicherheit zu behalten. Eindrucksvoll! Ich war oben, 1861 Meter. Höher geht es auf dieser Insel nicht. Menschenleer, nur der Pico Ruivo, der Wind und ich. Es stürmte. Für Sekunden - und das ist eine genaue Zeitangabe - öffnete sich der Himmel und man konnte den Nachbargipfel auf der anderen Seite des Tals klar und deutlich sehen. Den Pico de Arieiro. Dann zog sich der undurchdringliche Nebelvorhang wieder zu.

Eine gute halbe Stunde hielt ich es hier oben aus, meine Finger waren eiskalt vom Zusammenschrauben des Aluminium-Statives, durch jedes Loch meiner Kleidung fegte der Wind. Dennoch, es war herrlich, diese Naturgewalt sicher erleben zu dürfen, es bestand keinen Moment Gefahr, es war nur eindrucksvoll und es hat mal wieder die Relationen geradegerückt, was Natur alles vermag, wie stark sie sein kann. Auf dem Rückweg noch einmal vorbei an den windgebeugten Bäumen, die hier oben allem trotzen und selbst wenn ihre Lebenszeit abgelaufen ist bleiben sie noch wie Botschafter für lange Zeit stehen, als wollten sie den nachfolgenden Generationen mitteilen, was sie hier oben erwartet. Zum Abschluss auf dem Rückweg den Sonnenuntergang vom Pico de Arieiro erlebt, nicht weniger windig, aber der warmen Dusche und einer heißen Suppe zum Abendbrot näher. Ein wunderbarer Tag!

Tag 6 - Donnerstag 17. Dezember 2020

War ganz einfach

Nieselregen, ausschlafen, Brunch, Film- und Fotobearbeitung, Wanderführer studieren, schlafen gehen. Auch so geht ein Tag um.

Tag 7 - Freitag 18. Dezember 2020

Bei schönstem Wetter wieder draußen

Ich besuchte die Fajã Quebrada Nova. Fajãs bezeichnet man speziell hier und auf den Azoren küstennahe Landflächen, die einst durch massive Erdrutsche entstanden sind. Sie sind flach und landwirtschaftlich bebaubar und auf Madeira an vielen Stellen zu finden. Typisch sind ihre exponierten Lagen unterhalb der hohen und steilen Berghänge, aus denen sie entstanden sind. Besiedelt wurden die Fajãs im Laufe der Geschichte von autarken Bauern, die den fruchtbaren Boden zusammen mit dem milden Meeresklima zu nutzen wussten. Jahrhunderte lang waren diese Bauerndörfer nur zu Fuß über steile und gefährliche Wege erreichbar. Alles, aber wirklich alles, musste heruntergetragen werden, denn Schiffen ist es unmöglich, an der wilden Atlantikküste anzulanden. Der Bau der Seilbahn ist erst eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.

Mein heutiger Weg von Achadas da Cruz führte mich von der Bergstation eben dieser Teleférico in zwei spannenden Stunden hinab ans Meer. Es hat geregnet (siehe Tag 6) und das machte den kleinen gewundenen Weg zu einer regelrechten Rutschpartie. Nicht angenehm mit Foto- und Filmtechnik in der Hand. Abgesehen davon war es aber ein Genuss, an den atemberaubend steilen und dicht bewachsenen Hängen auf manchmal nur 20 cm breiten Wegen abzusteigen. Es duftete nach den unterschiedlichsten Pflanzen, von denen ich nur eine sicher identifizieren konnte: Liebstöckel, der „Wildschweingeruch“! Ich musste mich entscheiden: Gehen oder Natur und Ausblick genießen. Beides gleichzeitig hätte unweigerlich zu Stürzen mit Landung in roter Matsche geführt. Das Rauschen des Meeres war den ganzen Weg schon deutlich vernehmbar, aber am steinigen Strand angekommen, entfaltete es ein Tosen und dumpfes Dröhnen, das einem mit jeder Welle Ehrfurcht abverlangte. Obwohl die See ruhig und kaum Wind wahrnehmbar war, türmten sich die Wellen bis zu 5 Meter auf und brachen in beeindruckender Harmonie vor der steinigen Küste in sich zusammen. Ein Schauspiel, das ich noch Stunden hätte genießen können. Die gerade mal 20 Häuser auf der Fajã waren kaum bewohnt, ein paar Arbeiter reparierten die fortgespülten Wege, dann machte ich mich auf den Rückweg nach oben. Nein, nicht zu Fuß, sondern mit der Teleférico - ich fahre doch so unglaublich gerne Seilbahn! Ein wunderbarer Ausflug endet mit einer spektakulären Aussicht! Was will man mehr?

Tag 9 - Sonntag 20. Dezember 2020

Geliebte Riesenfarne und alles fließt

Ribeiro ist Portugiesisch und bedeutet auf Deutsch Rinnsal, Bach oder kleiner Fluss. Auch der Nachname Ribeiro entstammt genau dieser Bedeutung und man findet ihn recht häufig in Portugal, Galizien und Brasilien. Wer früher an einem Bach oder Fluss wohnte, hatte eben oft diesen ortsbezogenen Nachnamen. 
Der Weg, den ich heute gehe, ist der PR18 zum „Ribeiro Bonito“, dem schönen Bach. Er ist das Ziel der Wanderung und der natürliche Zufluss am Ende des PR18, der aus den Bergen herabstürzt und die Levada do Rei befüllt. Und immer an der Levada do Rei entlang schlängelt sich auch der knapp 11 Kilometer lange fast ebene Pfad. Das gesamte Tal ist UNESCO Weltnaturerbe, da es eine unvergleichbar große Anzahl an Pflanzen und Tieren beherbergt, die in dieser Diversität auch bei der Entdeckung der Insel vorgefunden wurden. Besonders beeindruckend sind die riesigen Baumfarne, der Geruch von Eukalyptus und die Ruhe des gleichmäßig dahinfließenden Wassers der Levada. Auf dem Hinweg stromaufwärts, zurück mit dem Strom. Es ist trotz Wärme und Sonnenschein sehr matschig, was nicht verwunderlich ist, denn das Wasser tropft und plätschert auch hier vielerorts unaufhörlich von den steilen, moosigen Felswänden hinab und schenkt dem Tal Unmengen an Feuchtigkeit, was mit einer überaus üppigen Flora belohnt wird.

Anfangs dachte ich bei mir, es könnte vielleicht etwas eintönig werden, gut fünf Kilometer Levada, durch Urwald, meist im Schatten und dann alles wieder zurück. Aber schon nach kurzer Zeit übertrug sich die Ruhe und Gleichmäßigkeit des dahinfließenden Wassers auf mein Gemüt. Fast laminar strömt es mir in der nicht mehr als 30 cm breiten und knöcheltiefen, rechteckigen Rinne entgegen. Kein Kräuseln, kein Schaum, keine Bläschen oder Stromschnellen. Ich lasse mich mit meinen Gedanken treiben, folge meinen Sinnen und unterwerfe mich dieser selbstverständlichen Stetigkeit. Ein kleiner gewundener Tunnel, ein Wasserfall, den ich nicht ohne Zwangserfrischung passieren kann. Und am Ende des Weges stehe ich dem Ribeiro Bonito gegenüber, der irgendwie aus dem steilen Grün des Urwaldes herunterrauscht und den Ursprung der Levada darstellt. Es ist nass hier und mittlerweile auch recht kühl, sodass ich mich auch zügig wieder auf den Rückweg mache. Jetzt laufe ich mit dem Strom der Levada und da dachte ich mir, mal schauen, wer schneller ist. Mein Rivale ist ein Rhododendronblatt, das ich aufs Wasser in der Levada setze. Ich muss mich sputen, hier oben hat die Rinne etwas mehr Gefälle und das schwimmende Blatt hängt mich schnell ab. Nach dem zweiten einströmenden Wasserfall kann ich wieder aufholen und nutze die Verlangsamung des rinnenden Wassers. Da ist das Blatt wieder, ich überhole es und gewinne an Vorsprung und hänge es chancenlos ab.

Noch einmal die Wasserfalldusche, jetzt bin ich echt pitschnass, Gott sei Dank liegt der restliche Rückweg überwiegend in der Sonne. Ein paar riesige Farne ziehen mich in ihren Bann. Woooh, sind die schön. Wunderschön! Ich erkläre dem Blatt, dass es verloren hat und widme mich mit meiner Kamera ganz dieser prähistorischen Erscheinung. Ich könnte jetzt seitenweise über Farne schreiben, es gibt hunderte in Europa und über 10.000 Arten weltweit, sie gehören zu den ältesten botanischen Zeugen der Erdgeschichte, folgen in ihrer fraktalen Morphologie dem Mandelbrot’schen Prinzip der Selbstähnlichkeit. Sie gehören zu meinen absoluten Lieblingspflanzen. Hin und weg!
Ach ja, Menschen traf ich nur wenige, obwohl es Sonntag war, das bekannte, willkommene Privileg in diesen Zeiten. Und so geht es dann auch bis unten zur Wasserstation, wo mein saudreckiger Cinquecento steht. Es war ein herrlicher Tag an der Königs-Levada.

Tag 10 - Montag 21. Dezember 2020

Die Konjunktion

Heute war so ein Keine-Lust-auf-was-Besonderes-Tag. Ich bin gut 3 Stunden bis nach Funchal gelaufen. Der Wanderweg geht direkt an meinem Haus vorbei, so dass ich mein Auto heute gar nicht bewegen musste. Entlang der Levada Sierra do Faial, wenig Steigung, vorbei am Fußballstadion, wo Cristiano Ronaldo mit seinem Gehabe vermutlich schon in der D-Jugend seinen Trainer zur Verzweiflung brachte, bis zur Teleférico des Botanischen Gartens. Eine gemächliche Talfahrt von Babosas über die Dächer von Funchal hinweg bis hinunter in die Altstadt. Ich bin noch nie mit einer Seilbahn mit Atlantikblick gefahren. Ein kleiner Rundgang durch den sehr dünn besuchten Mercado schloss sich an und die Rückfahrt war komfortabel für 2,20€ mit dem lokalen Bus Nr. 129 bis ins Vale Paraiso, fast vor meine Tür. Das war's schon.

Und als die Sonne unterging fiel mir ein, dass heute doch Jupiter und Saturn fast in einer Linie stehen. Konjunktion nennt man das in der Astrophysik (vorm. Astronomie), habe ich gelesen. Wollen wir doch mal sehen. Und tatsächlich, nach kleiner Recherche im Internet (ich wusste nämlich gar nicht, in welche Richtung ich blicken sollte), da war sie! Die Begegnung der beiden Riesenplaneten, mit dem bloßen Auge zwei kleine Pünktchen, fast nicht zu erkennen. Das Tele der Filmkamera gab dann mehr her als ich erwartet hätte. Toll, sowas habe ich noch nie gesehen. Doch noch ein bisschen aufregend der Tag.

Tag 12 - Mittwoch 23. Dezember 2020

Baumriesen

PR 14 oder Curral Falso war der Weg der Wahl heute. 7,2 Kilometer von Fanal bis zur Hälfte und dann der Rest noch einmal soweit. Es war wieder einer dieser schönen aber einsamen Wege an der Levada entlang, schattig und eher für die heißen Sommermonate geeignet, an denen man nach Schatten und Kühle verlangt. Heute hätte ich mir gewünscht, in der Sonne zu wandern, aber es ist wie es ist. Ich folgte also dem einsamen, sich schlängelnden Weg, über Brücken und an Wasserfällen vorbei bis Kilometer 7,2 an der Hochlandstraße 203. Aber das war es noch nicht, ich hatte auf dem Rückweg nach Fanal ein Rendezvous mit den Baumriesen. Meist Lorbeerbäume, die älter als die Entdeckung der Insel (1419) sein sollen - manche von ihnen zumindest. Der Anblick der riesigen, knorrigen Gestalten lässt diese Annahme realistisch erscheinen. Man tritt ihnen ehrfürchtig gegenüber wie einer weisen Gottheit, von der man Antworten auf die grundlegendsten Fragen dieser Welt erwartete. Doch wie das bei Weisen oft so ist, sie hüllen sich in Schweigen, beugen sich wie eh und je dem Wind und erlauben dem Vieh zwischen ihnen glücklich zu grasen. Dennoch strahlten sie Ruhe und Optimismus aus, nach dem Motto: Schau uns an, wir sind 600 Jahre alt und das Leben geht immer noch weiter. Mach Dir keine Sorgen um die Welt, sie wird überleben, auch wenn der Mensch vielleicht in ein paar Jahrhunderten keine entscheidende Rolle mehr in dieser Inszenierung spielt. Wer weiß das schon?

Zurück ins Jetzt, ich genoss die Weite und die Gesellschaft dieser uralten Zeitgenossen, erfreute mich an den friedlich grasenden Kühen und ihren Kälbern und schlenderte die restlichen Kilometer zurück zu meinem Auto. Trotz schlechter Wetterprognose ein wunderbarer Tag - man soll wie immer eben nicht alles glauben, was so vorausgesagt wird.

Tag 15 - Samstag 26. Dezember 2020

Letzter Tag

Nach den heftigen Regenfällen gestern war das Wetter heute durchwachsen und durchaus mit sonnigen Abschnitten geschmückt, wenn man am richtigen Ort war. Da ich noch meine Klamotten zusammenpacken musste und auch noch was Leckeres kochen wollte, hielt sich die Aktivität für heute zeitlich in Grenzen. Eira do Serrado und Cabo Girão erschienen mir da ganz recht. Zwei sehr schöne Aussichtspunkte auf großer Höhe. Der Eira ist ein "Miradouro", der heute eine Sackgasse ist. Von der alten Straße nach Curral das Freiras sieht man nur noch Überreste in den senkrechten Felsen und fragt sich, wie diese Straße einst nach unten geführt haben kann. Unmöglich! Das Panorama ist grandios und das Wolkenspiel lässt einen die Zeit vergessen. Dennoch mache ich mich bald wieder auf, hinab über die endlosen, steilen Serpentinen. Ohne Gegenverkehr ein richtiger Spaß und die leeren Straßen lassen mich zügig zum Capo Girão gelangen. Auch hier treffe ich kaum Besucher an, alles leer. Genügend Zeit also, die atemberaubende Aussicht von der höchsten Steilklippe Europas auf den Atlantik zu genießen.

Runde 590 Meter soll sie hoch sein und ein begehbarer Glasboden für die, die selbst diesen wunderbaren Ort nicht ohne Schnickschnack genießen können, gibt es auch - nun ja, wer’s braucht. Man blickt auch so hinunter in die Tiefe auf die Fajãs der Girão, die noch heute wie damals landwirtschaftlich genutzt werden. Auf Madeira ist halt jeder Quadratmeter bebaubare Fläche kostbar. Cabo Girão bedeut übersetzt „Kap der Umkehr“. Woher diese Bedeutung kommt, konnte ich bislang nicht eindeutig herausfinden, aber deute ich das mal ganz subjektiv, so ist das Kap der letzte Ort, den ich auf Madeira besuche, bevor ich umkehre und nach zwei wunderschönen Wochen auf der Blumeninsel im Atlantik morgen die Rückreise antrete. Passt doch!

Der Rückflug am nächsten Tag war ruhig und in Deutschland erwarteten mich nach später Ankunft in Frankfurt Schnee und Regen auf der nächtlichen Autofahrt. So ist das eben mit Reisen im Winter.