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🇨🇱 Auszeit 2022 - Chile

Die Vorgeschichte

7. September 2022 - Bienchen muss nach Hamburg

Die Inspektion nach der langen Kaukasusreise ist gemacht. Komplett neue Bremsen, neuer Riemen, neue Reifen, Elektrik heile machen, alle Öle, Ventile, Zündkerzen und und und... War richtig teuer, aber was sein muss, muss sein und selber machen ist schlecht, ich habe keine Garage mehr.

Und heute geht's nach Hamburg. Im Gepäck, alles, was ich erst in Südamerika brauche und ich nicht durch Neuseeland mitschleppen möchte. Die Fahrt dauert keine zwei Stunden, die richtige Adresse im riesigen Hamburger Hafen finde ich schnell. Alles ist unglaublich groß und gewaltig. Ozeanriesen werden durch die Hafenbecken gezogen, Portalkräne überall, Straddle Carrier, Reach Stacker mit Hubkräften von 50 Tonnen eilen durch enge Lagergassen und verteilen Container als seien es Streichholzschachteln. In einer bescheidenen Ecke einer Lagerhalle stelle ich mein Motorrad in die Reihe der anderen Motorräder, die schon auf die Verschiffung warten. Fast durchweg Enduros, alle im Tiefschlaf, still und voller Erwartung dessen, was da kommt. Manche mit Aufklebern, die bedeuten, dass es nicht die erste Reise auf den südlichen Kontinent Amerikas ist. Ein netter Hafenarbeiter zeigt mir meinen Platz. Ich ziehe mich um, verstaue die Motorradklamotten samt Helm in einem großen Gepäcksack und ziehe die mitgebrachten Zivilklamotten an. Batterie abklemmen, Koffer- und Zündschlüssel mit Kabelbinder an den Lenker und alles gut verzurren. Das ist ein verdammt komisches Gefühl, die Karre samt Schlüssel einfach hier abzustellen. Als Gegenwert bekomme ich ein DIN A4 Dokument der Anlieferung: Motorrad, 1 Stück, unverpackt. HU Nummer, Datum, Zielhafen. Das war's. Ein paar Fotos, dann rede ich Bienchen gutmütig zu, dass alles gut gehen wird und wir uns in ein paar Wochen in Südamerika wiedersehen werden und eine tolle Reise machen werden. Das Gefühl bleibt komisch. Ich fahre bei Sonnenschein mit der Hafenfähre und der Bahn und mit vielen Gedanken wieder nach Tecklenburg.

28. September 2022 - Bienchen ist auf Hoher See

Heute ist mein Motorrad schon unterwegs und auf hoher See Richtung San Antonio in Chile. Gerade habe ich die Bill of Lading per Mail bekommen. Ende Oktober soll es planmäßig ankommen, dann werde auch ich in Chile sein. Bis dahin begleitet mich gerne in Neuseeland

14. Oktober 2022 - Schlechte Nachrichten

Soeben habe ich Post von meiner Spedition bekommen, dass sich die Ankunft meines Motorrades um knapp 14 Tage verzögert, Die Reederei lädt in Ecuador um, damit der verspätete Containerdampfer wieder in den normalen Fahrplan kommt. Den Weitertransport übernimmt ein kleineres Schiff. Das bedeutet, ich muss die Zeit bis zum geplanten Übernahmetermin am 11.11. in San Antonio sinnvoll füllen. Da wird mir sicher was einfallen...

29. - 31. Oktober 2022 - Von Auckland nach Santiago de Chile

Es ist Samstag, der 29.10. und heute um 19:40h soll mein Flug nach Santiago gehen. Am Ende werden es zwei zusätzliche, ungeplante Tage in Auckland. Doch der Reihe nach.

Ich sitze gegen Mittag in Auckland Downtown bei hervorragenden Eggs Benedict in einer der netten Kneipen, die ich nach mühevollen Erkundungsgängen entdeckt habe, als mich mit einem leisen Ping auf dem Handy die Nachricht erreicht, dass mein Flug annulliert wurde. Drei Stunden vor Check In. Leider ist die Informationslogistik meiner Airline nicht die Beste. Die Informationen von App, Website und meinen erhaltenen Emails sind widersprüchlich, mindestens aber uneindeutig. Also flott zum Flughafen, mein Taxi kommt eh gleich.

Eine Repräsentanz meiner Fluggesellschaft gibt es natürlich nicht in Auckland, die lokale Bodencrew ist allein auf weiter Flur mit dem ganzen Rudel echauffierter Fluggäste. Respekt, was die drei Mädels für Nerven haben, beim Verteilen der zu knappen Hotel-Vouchers! Nee, da habe ich keine Lust drauf. Ein Glück, dass ich ein super Hotel habe, das mit Verzicht auf Ein- und Auscheckzeiten in meiner Situation sehr entgegenkommend ist und das mir noch zwei zusätzliche Nächte in meinem tollen Zimmer freigeschaufelt hat. Insgesamt bin ich an den zwei Tagen dreimal mit Gepäck zum Flughafen gefahren, ich habe schon die persönliche Telefonnummer meines Taxifahrers bekommen inklusive Sondertarifzusage. Sogar nachts um 1:30h hat er mir geholfen. Um die Uhrzeit ist der kleine Airport wie ausgestorben, wartende Menschen wandeln wie halbtote Gestalten durch die leeren Hallen, offizielles Personal gibt es nicht. Ich finde ein Telefon am Infostand, „Null wählen“ steht da! Dann tu ich das mal. Ein freundlicher überforderter Mensch kennt nicht einmal meine Flugnummer, das macht mich unruhig. Und in diesem Augenblick kommen die drei Mädels von gestern den Gang entlang, wie aus dem Nichts. Und tatsächlich haben die die Informationen aus dem Kopf parat, samt Flugnummer, Check In Time und Gate sowie neue Abflugzeit. Ich bin beeindruckt, aber gut sind die Infos nicht. Meine Maschine geht erst am Abend, also in ca. 18 Stunden. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. Nochmal Taxi zurück, der Nachtportier im Hotel hat mich wieder eingecheckt und ich darf ausschlafen so lange ich möchte. Kurzfassung: Ausschlafen, Duschen, Brunch, zielloser Stadtbummel Teil 3, Eis essen und wieder mit dem Lieblingstaxi zum Airport.

Es gibt einen Schimmer am Horizont, mein neuer Flug steht auf der Anzeigetafel, es werden schon Check In Plakate mit Filzstift gemalt und aufgehängt und dann dauert es nochmal zwei Stunden bis ich tatsächlich mein Gepäck los bin und meine Bordkarte in der Hand halte. Die Security ist im wörtlichen Sinne ein Durchlaufposten, jetzt stehen die letzten vier Stunden im Transit bereit, um totgeschlagen zu werden. Welches Gate überhaupt? Oh, mein Flug fehlt schon wieder, diesmal auf den Gate-Anzeigen. Nun ja, es ist noch Zeit. Jetzt nichts Böses denken, Blumenwiese, Blumenwiese, Blumenwiese...

Ich suche mir eine stille Ecke mit Stromanschluss neben einer dieser Anzeigetafeln und fasse mal die letzten Tage in einem Reisebericht zusammen. Und denken wir mal positiv, ich muss ja auch noch ein Hotel in Santiago buchen. Dann ein Blick auf die Anzeige, hurra, da ist mein Flug! In Rot und zweisprachig: New time / Nuevo horario. Da meine bescheidene Mehrsprachigkeit beides versteht, ist die Kreuzdiagnose valide. Ich warte mit der Hotelbuchung besser noch etwas.

Noch 60 Minuten bis Boarding! Lautlos und unangekündigt informiert mich der riesige Fernseher über meinen Flug, der jetzt offensichtlich pünktlich zu sein scheint. Dann nimmt alles seinen gewohnten Gang. Letzter Aufruf, Boarding in Gruppen, alles geht sehr zivilisiert von statten, denn die Maschine ist nicht ausgebucht. An Bord Teufel, Engel und blutverschmierte Flugbegleiter. Ach, ja, es ist Halloween! Nun, wer’s mag, Hauptsache die Jungs im Cockpit erschrecken uns nicht. Mein Nachbarsitz ist leer, was ich äußerst komfortabel finde und als es endgültig dunkel ist heben wir ab und es beginnen lange elf Stunden über dem Pazifik. Auf Wiedersehen, Neuseeland! Ich kann die Sterne sehen und das Wetter bereitet uns einen wunderbar ruhigen Flug. Gegen Morgen schlafe ich tatsächlich ein Stündchen und der Anflug auf Santiago ist beeindruckend. Die Gipfel der Anden ziehen vorbei, dann landen wir leise im Talkessel der Hauptstadt. ¡Una cálida bienvenida!

Es ist sommerlich warm, die Einreiseformalitäten sind unkompliziert, mein Gepäck ist auch da. Ich bin in Südamerika angekommen. Ein Wiedersehen mit dem Kontinent nach ziemlich genau 38 Jahren. Nur dieses Mal gönne ich mir ein Taxi und nehme nicht wie damals üblich den billigsten Bus, um in die Innenstadt zu kommen. Ich habe mir ein Zimmer im Barrio Brasil gebucht, das ist nah am Zentrum, so dass ich viel zu Fuß machen kann. Das Hotel ist ganz nett, schönere Zimmer hatte ich auch schon, nun ja, es soll reichen. Den Luxus Neuseelands werde ich in den nächsten Wochen noch öfter vermissen. Check In und erstmal ein wenig auf’s Ohr hauen, ich bin recht platt vom Flug. Viel passiert heute nicht mehr. Später gehe ich an einem netten Imbisswagen noch einen Taco essen, das war’s für heute. Da ich heute Nacht die Zeitgrenze passiert habe, ist es immer noch der 31. Oktober!

Der Bericht

1. November 2022 - Santiago de Chile, der erste Tag

Guten Morgen, Chile! Ich habe herrlich geschlafen heute Nacht. Draußen scheint die Sonne, es ist warm. Der Jetlag zeigt wieder den Früh-Wach-Effekt, ich bin einer der ersten beim Frühstück, der Kaffee ist heiß und gut.

Heute ist ein „Actiontag“. So haben wir damals immer die Tage auf Reisen genannt, an denen wir irgendwelchen organisatorischen oder amtlichen Kram regeln mussten wie Visaverlängerungen, Impfungen, Permits, Tickets besorgen usw. Bei mir ist es heute Bargeld beschaffen und die Rückerstattung meiner Auslagen für die zwei Wartetage in Auckland zu veranlassen.

Nun, es war schon mühevoll, die Zuständigkeiten bei der Airline herauszufinden, dann die Adresse eines Büros auszumachen und dann dieses Büro auch noch zu finden in Santiago. Am Ende lerne ich bei dem Anlass schonmal U-Bahn fahren und gewinne einen geografischen Überblick über die Stadtviertel, die Barrios. Die U-Bahn von Santiago ist die größte Südamerikas und ziemlich schnell. Das ist gut, denn mein Ziel liegt am Stadtrand, aber wie sollte es anders sein, das laut Website am günstigsten gelegene Büro gibt es natürlich nicht mehr. Der Telefonservice von LATAM hätte mir das nicht vorher am Telefon sagen können? Ein kleiner Wachmann im riesigen Einkaufszentrum weiß das sofort und er weiß auch wo das nächstgelegene Büro ist. Ich bin beeindruckt. Das ist wieder Südamerika, wie ich es kenne. Je offizieller die Leute sind, die man fragt, umso unzuverlässiger ist die Information. Hier gibt man nicht zu, etwas nicht zu wissen. Je näher man aber bei den „kleinen“ Leuten ist, umso höher ist die Informationsqualität. Dann am besten noch drei bis fünf Menschen das Gleiche fragen und den Mittelwert bilden! Mit diesem optimierten Verfahren finde ich schnell das Büro der Airline, wo ich sehr nett bedient werde, allerdings kein Wort Englisch gesprochen wird. Mein verkümmertes Spanisch reicht aus, zumal ich vorbereitend gestern Abend alles auf Spanisch aufgeschrieben und ausgedruckt habe. So, alles fertig, jetzt bin ich gespannt, was von LATAM kommt. Für mich jedenfalls kommt jetzt wieder lustiges U-Bahn fahren, denn ich bin gerade am südlichen Stadtrand und Santiago ist nicht klein.

Die zweite „Action“ heute ist Bargeld zu besorgen. Ein immer wieder unangenehmes, und frustrierendes Unterfangen, da es erfahrungsgemäß eine ganze Weile dauert, einen nicht kriminellen Automaten eines nicht kriminellen Geldinstituts zu finden. Das bedeutet, eine Automaten-Bank-Kombination, die keine unverschämten Gebühren verlangt und Betragslimitierungen missbraucht, um häufigere Abhebungen zu provozieren. Der Trick ist simpel und die offizielle „Banco de Chile“ schießt den Vogel ab. Der Abhebebetrag ist limitiert auf umgerechnet 230€ und je Abhebung werden 9,80€ verlangt. Andere Banken liegen ähnlich. Und jetzt kommt schon wieder, genau wie heute Morgen, ein kleiner Wachmann einer Bank ins Spiel, die ich gerade kopfschüttelnd verlasse. Er nimmt mich mit einem vertrauensbildenden „¡Venga, venga!“ am Arm mit auf die Straße und zeigt mir den Weg zu einer Art Kiosk. Der sei gut, und der habe immer auf, ist seine überzeugte Empfehlung. Über der Tür steht nur ein Schild „24h“. Ich habe keine großen Hoffnungen, dass es ein guter Tip ist, vermutlich ist das der Laden seines Onkels oder man bekommt bestes Falschgeld, aber einen Versuch ist es ja wert. Und siehe da, kein Limit und nur 0,9% Provision. Ab heute werde ich in allen Situationen immer zuerst Wachpersonal fragen! Damit sind meine Aufgaben für heute erledigt.

Ein bisschen müde bin ich schon noch. Den fehlenden Schlaf des langen Fluges habe ich offensichtlich noch nicht ganz kompensiert. Ich lasse mich vom Plaza de Armas zum Hotel zurücktreiben und gönne mir ein Nickerchen, bevor ich mich aufmache zum „Dinner en la Calle“.

Was mir sehr gefällt, sind die vielen bunten Häuser. Meist in knalligen Farben, aber in erster Linie bunt. Manchmal nur schön angestrichen, ein anderes Mal mit aufwändigen Graffitis verschönert. Ich bin auf dem Weg zum Plaza Brasil und drehe sogar noch ein paar extra Häuserblocks, die Straßen sind voll mit farbenfrohen Gebäuden. Als das Licht für Fotos zu wenig wird, drehe ich um und mache mich auf zum besagten Plaza.

Der Plaza Brasil ist ein großer quadratischer Stadtpark, wie man ihn oft in Südamerikas Städten findet. Abends ist er ein Treffpunkt der Menschen aus dem Barrio und Zentrum des lokalen Nachtlebens. Es gibt viel Musik, Flohmarktstände, Restaurants, Kinder spielen hier und unter den Bäumen liegen knutschende Pärchen. Ich suche mir meinen Weg durch die vielen spielenden Hunde und bin nicht so wählerisch mit meinem Restaurant. Gleich an der Ecke gibt’s einen Laden der Tijuana Tacos heißt, der ist rappelvoll und es riecht schon auf der Straße nach Maisfladen. Genau das habe ich doch gesucht. Ich bestelle irgendwelche Tacos mit Salat, Avocado und was weiß ich allem und was soll ich sagen, das ist sowas von lecker, schade, dass ich keinen großen Hunger habe. Ich überlasse meinen Patz den Wartenden, bezahle und schlendere durch die bunten Straßen zurück ins Hotel. Ein erfolgreicher und schöner erster Tag in Südamerika.

2. November 2022 - Unfreiwilliger Pilger mit katholischer Katze

One thing a day. Dieses Motto habe ich mir in Neuseeland angewöhnt und auch hier in Santiago findet es heute Anwendung. Ich möchte gerne auf den Cerro San Cristóbal, das ist der Hausberg von Santiago, benannt nach Christoph Kolumbus. Der alte Name Tupawe ist irgendwie schöner, aber so sind Invasoren und Kolonisten eben. Es gibt eine Seilbahn, mit der ich sehr bequem und bei toller Aussicht nach oben kommen möchte und nach der Besichtigung der großen Marienstatue, dem Wahrzeichen Santiagos, möchte ich auf der andern Seite mit der Funicular de Santiago, einer Standseilbahn, den steilen Berg wieder hinunter. Schau‘n wir mal.

U-Bahn fahren kann ich ja jetzt, in knapp 20 Minuten bin ich im Viertel Bellavista, wo auch der Gran Torre, das höchste Gebäude Südamerikas steht. Von dort mache ich einen kleinen Spaziergang durch das etwas bessere Stadtviertel zum Parque Metropolitano de Santiago. Tja, was soll ich sagen, heute - gerade heute - ist die Seilbahn geschlossen wegen Instandhaltungsarbeiten. "Sie können aber zu Fuß hochwandern", informiert mich die freundliche, junge Frau im Kassenhäuschen, lächelt mich herzerwärmend an und nimmt einen großen Schluck dampfenden Kaffee aus ihrer Tasse. Rückzieher wäre jetzt Schwäche - ich meine als Antwort auf ihr Lächeln. Ich bedanke mich und mache mich halt zu Fuß auf den Weg. Nun ja, schlimm ist der Weg nicht, er windet sich etwas unordentlich durchs Gebüsch und wechselt sich mit der Serpentinenstraße für den Parkbus ab. Ein paar lebensmüde Radfahrer schießen mir bergab entgegen und an den herrlichen Aussichtspunkten lasse ich mir viel Zeit und genieße das Stadtpanorama vor der imposanten Bergkette der Anden. Es wird warm, aber es ist nicht mehr weit, dann bin ich oben auf dem Gipfel.

Die Stufen hinauf zur Marienstatue sind noch einmal steil und anstrengend, der Ausblick allerdings entschädigt für alles! Hier oben läuft sakrale Popmusik aus unzähligen Lautsprechern, alles ist bunt bepflanzt und es duftet fliederartig. Ich setze mich auf die Stufen, über mir die schneeweiße Statue der „Virgen María“, dem Wahrzeichen der Stadt. Ein paar Pilger sind auch hier oben, die so wie ich zu Fuß den Berg erklommen haben und Opfergaben in Form von bunten Marienbildchen, blinkenden Jesusfiguren oder Kerzen mitgebracht haben. Auch wenn ich persönlich die Institution Kirche kategorisch ablehne, liebe ich diese lateinamerikanische Mischung aus Kitsch und Kirche. Dieser völlig überzeichnete Devotionalienkult, alles im Dienste der Förderung der Frömmigkeit. Eine kleine Erfrischung im Maria-Kiosk habe ich mir verdient und kaum, dass ich sitze, legt sich eine katholische Katze (hier ist alles katholisch!) neben mich und bittet voller Vertrauen um eine Spende körperlicher Liebkosung. Ich erfülle ihr den Wunsch und sie beginnt zu beten (bei katholischen Katze ist Schnurren eine Gebetsform!) Nun, dann ist das heute mein erster Pilgerweg, den ich nur wegen des Lächelns einer Frau begangen habe, die Kaffee trinkt. Das Leben ist oft herrlich amüsant.

Nun, konsequenterweise ist auch die Standseilbahn außer Betrieb, aus dem gleichen Grund wie die Kabinenseilbahn. Einen Fußweg hinab gibt es auf dieser Bergseite nicht, ich könne nur die Straße zu Fuß hinuntergehen, informiert mich eine Parkaufseherin. Sie lächelt aber nicht und trinkt auch keinen Kaffee, also nehme ich den Parkbus! Damit fällt zwar auch der Besuch im Hause von Pablo Neruda aus, aber ich hatte mir ja vorgenommen „one thing a day“. Den Weg zum Hotel lege ich schon ohne kartografische Hilfsmittel zurück, dann duschen und ausgehfein machen.

Der Ablauf fürs Dinner ist ähnlich wie gestern und auch die Wahl fällt erneut auf den Plaza Brasil. Allerdings lande ich dieses Mal bei einem netten, aber einfachen Peruaner, ich bin zu faul, lange nach was Besserem zu suchen. Ich bestelle Arroz, also Reis, und schon bei der Aussprache des Worte habe ich intensivste Assoziationen 38 Jahre zurück. Damals haben wir uns gefühlt drei Monate nur von Arroz ernährt. So macht Reisen Spaß. Ich freu mich auf Morgen.

3.-5. November 2022 - Mercado, Museos und wunderbares La Chascona

Das Motto “one thing a day” habe ich in den letzten Tagen streng eingehalten. Abgesehen davon, dass ich einen so langen Aufenthalt in Santiago gar nicht erwartet hatte, gibt es für meinen Geschmack auch nicht so riesig viel zu sehen. Alle, die jetzt zu Recht protestieren möchten, dass Santiago eine wunderbare, vielseitige und sehenswerte Stadt sei, in der man Monate verbringen könne, mögen bitte die adverbiale Bestimmung noch einmal lesen: "...für meinen Geschmack". Ich bin nicht so recht auf Städtetour eingestellt, das ist mir alles zu laut und zu naturfern.

Natürlich interessieren mich das Land, die Menschen und die Kultur brennend, weshalb ich mir durchaus einige Kreuzchen auf dem Stadtplan mache. Da sind für die nächsten Tage der große Mercado Central, das Kunst- und das Nationalmuseum und für den persönlichen Höhepunkt nehme ich mir sogar einen ganzen Tag Zeit: Der Besuch von La Chascona. Das ist der Wohnsitz von Pablo Neruda in Santiago gewesen, bis die Schergen der Pinochet-Militärdiktatur im Zuge des Putsches 1973 alles plünderten und das Haus zerstörten. Neruda konnte rechtzeitig fliehen, bis heute ist ungeklärt, ob Pablo Neruda etwas später an seiner Erkrankung starb oder vom Pinochet Regime im Krankenhaus ermordet wurde. Seine Geschichte als Schriftsteller und Dichter sowie als Diplomat und Politiker ist unglaublich spannend und vielfältig. Als Dichter hat er sich der Bekämpfung von Faschismus und Diktatur verschrieben, als Politiker war er weltweit ein angesehener Repräsentant der demokratisch gewählten Regierung Salvador Allendes. Der private Mensch Neruda besaß sehr viel Sinn für Kunst und Kultur, war unter anderem befreundet mit Pablo Picasso, García Lorca und Edgar Allen Poe. In seinem Haus im Stadtteil Bellavista hat er seine Leidenschaften, seine Kunst, seine Erlebnisse und seine Liebe zu seiner Frau Matilde manifestiert. Ein Gang durch die Räume und Gärten ist ein Gang durch sein und Matildes Leben. Ich habe selten ein so persönliches Museum gesehen wie dieses, ich war für über eine Stunde in einer anderen - nicht immer glücklichen - Zeit und in der Geschichte Chiles unterwegs. Leider war das Fotografieren in den Innenräumen strengstens verboten.

Bleiben wir bei den Museen, denn da ist ja noch das Museo de Bellas Artes und das Nationalmuseum, die ich an zwei anderen Tagen zum Thema hatte. Allerdings kann ich es kurz machen. Bellas Artes hat mir sehr gut gefallen. Neben ein paar ganz amüsanten Skulpturen begegnen mir kreative zeitgenössische Kunst mit der Ausstellung „Illasawiri“ von Aruma, einem bolivianischen Künstler, und eine tolle multidisziplinäre Ausstellung zum künstlerischen Widerstand der 80er in Santiago, die aber ad hoc zu viel Hintergrundwissen von mir verlangt. Ich lasse mich deshalb einfach von der enormen Dokumentationskraft der Fotos und anderer Objekte in ihren Bann ziehen. Und schon wieder bin ich in einer anderen Zeit und in der Geschichte Chiles. 

Das Nationalmuseum ist mein nächstes Ziel. Es liefert zwar auch eine wichtige Dokumentation der chilenischen Geschichte, allerdings langweilt es durch eine Flut überflüssiger Relikte der Postinvasoren, Imperatoren, Mächtigen, Reichen und Schmarotzer des Kolonialismus. Das Museum ist Vergangenheit. Einmotten, in den Keller damit und Platz schaffen für Neues und Frisches.

Ein weitere gewisse Enttäuschung war auch der Mercado Central. Es stimmt die Information, das hier tatsächlich ein reges Treiben und Handeln herrscht, allerdings überwiegt das Angebot von Schund und Plastikmüll im fetten Speckgürtel des historistischen Bauwerks. Den Vogel schießt ein Gift- und Biozidhändler ab, der mit Schockwerbung hanebüchene Chemikalien zur Vernichtung von vermeintlichen Schädlingen bis hin zu Katzen zu verkaufen versucht. Im Gebäude selbst dominieren immer noch die traditionellen Fischhändler mit ihrer reichen Auswahl an Fisch und Meeresfrüchten. Allerdings finde ich nicht das so oft gelobte kulinarische Mekka mit seinen Restaurants und Ständen. Die meisten Restaurants sind irgendwie lieblose Fressbuden mit Mangel an Gästen und leeren Tischen, die den nicht immer angenehmen Gerüchen des Marktes hilflos ausgesetzt sind. Ich habe hier nichts mehr verloren.

Und zwischen den Ausflügen gibt es immer wieder Wege durch diese lebendige Stadt, die gesäumt sind von Graffitis und viel Musik. Besonders im Abendlicht ist es richtig schön. Und dann ende ich wie jeden Abend am Plaza Brasil.

6. November 2022 - Moneda, Desaparecidos und die Wurzeln Santiagos

Heute muss ich noch einmal ins Barrio El Golf, ein paar Dinge organisieren für den Besuch eines Nationalparks. Hier steht auch der Gran Torre, den ich nun aus nächster Nähe betrachten kann. Danach steht auch schon wieder etwas Geschichte auf dem Zettel. Mich lässt dieser unsägliche Putsch nicht in Ruhe, der 17 Jahre ungesühnte Menschenrechtsverletzungen, Terrorherrschaft, ungezählte Verschleppungen und Morde über Chile brachte. Auch wenn das schon dreißig Jahre vorbei ist, die Wunden heilen nicht so schnell. Wie lange historische Ereignisse brauchen, um verinnerlichte Geschichte zu werden, wissen wir Deutsche ja am allerbesten. In der Wiese des Plaza de la Constitución direkt vor der Moneda, dem Regierungspalast, stehen noch immer viele mahnende Holzschilder mit Steckbriefen und Fotos der Verschwundenen - der Desaparecidos. "No a la impunidad" (Nein zur Straffreiheit), ein verzweifelter und vermutlich aussichtsloser Ruf der Hinterbliebenen nach Gerechtigkeit und Aufklärung.

An der Moneda selbst sind keine Spuren der gewaltsamen Machtübernahme von 1973 mehr zu sehen. Glatt, sauber, abgesperrt und von freundlichen Polizisten bewacht. Im Inneren ist ein modernes Kulturzentrum eingerichtet, an der Seite steht wiedererrichtet und stolz die Figur von Salvador Allende und hinter dem Palast auf dem Plaza la Bandera weht die riesige Fahne Chiles wie ein Symbol des Triumphes über dunkle Zeiten. Vielleicht ist es auch nur der Lappen, mit dem man etwas wegwischen möchte. Ich maße mir nicht an, das aus dem Ärmel fundiert beurteilen zu können. Deshalb lasse ich es auch und ziehe weiter.

Zurück geht der Weg über den etwas heruntergekommenen Plaza de Armas. Einst stolzes historisches Zentrum der Stadt ist der Ort heute eine abgeschwächte Art Straßenstrich und Treffpunkt komischer Gestalten geworden. In vorkolonialer Zeit existierte an dieser Stelle vermutlich eine wichtige Inkastadt, die vom Gründer Santiagos Pedro de Valdivia als Fundament für eine neue Stadt missbraucht wurde. Santiago hat hier seine Wurzeln. Nun ja.

Dann geht’s auf bekannten Wegen wieder „nach Hause“ ins Barrio. Como siempre.

 

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