Das Herz der Seidenstraße

🇺🇿 Usbekistan

Die Vorgeschichte...

Alles begann am 8. März 1991 am Bahn­hof Zoo in Berlin. Es war ein überwiegend sonniger Tag im Vorfrühling, und meine anstrengende Uni­wo­che war – wie jeden Freitag – soeben mit der Physik­vor­le­sung zu Ende gegangen. Wie immer freitags führte mich der schnellste Heimweg die Hardenberg­stra­ße entlang und durch die Unter­füh­rung des Bahnhofs Zoo. Dort befand sich damals noch – mitten unter der stählernen Gleis­brü­cke und im ohren­be­täu­ben­den Lärm der vorbeiratternden Züge – die berühmte Heinrich-Heine-Buch­hand­lung. Ein winziger, bis unter die Decke mit feinster linker Literatur voll­ge­stopf­ter Buchladen. Vor der Tür stand stets – aus schierer Platznot – ein Drahtkorb, in dem Bücher zum Schleu­der­preis feil­ge­bo­ten wurden, die drinnen keinen Platz mehr fanden. Obenauf lag an diesem Tag ein Kunst-Reise­füh­rer mit Hochglanz­ein­band und dem Titel "Sowjetischer Orient". Das Deckblatt zeigte die leuchtend türkisfarbene Kuppel einer Mo­schee vor blauem Himmel. Die Außen­wände der Moschee waren kunstvoll mit islamischen Mo­sa­i­ken verziert und die umrahmenden Bäume kündigten mit ihren Knospen den nahenden Frühling an. Ich war vollkommen fasziniert von diesem Bild – und vielleicht auch von der Tatsache, dass mir der Begriff "Sowjetischer Orient" irgendwie fremdartig vorkam. Ich wusste damals nicht einmal, dass die Sowjetunion überhaupt irgendeine Be­rüh­rung zum Orient hatte. Auf der Innen­seite des Einbands war mit Bleistift der Preis von 8,- DM notiert. Ich kaufte das Buch, ohne einen Blick hinein­ge­wor­fen zu haben. Mein einziger Gedanke – und daran kann ich mich genau erinnern – war: Dorthin möchte ich eines Tages reisen!

Und dieser Tag ist heute…

Samstag, 27. September 2025

Die lange Reise: Frankfurt - Istanbul - Taschkent

Der Wecker klingelt um sieben Uhr, ich bin noch ziemlich müde und der Gedanke an die bevorstehende Reise erleichtert mir das Aufstehen nur geringfügig. Gestern war wieder so ein Alles-erledigen-Tag: ordentlicher Abschluss aller Aufgaben, ein paar Meetings moderieren, bei denen ich zugegebenermaßen nicht mehr ganz bei der Sache war, Reste aus dem Kühlschrank zu einer kreativen Mahlzeit verarbeiten und dann noch die kleine Tasche packen. Ja, richtig, die kleine Tasche. Die Dimensionen sind Handgepäck-konform, das Gewicht ist auf 8 kg begrenzt. Nicht einfach, aber es gelingt mir ohne Schwierigkeiten oder den Verzicht auf liebgewonnene Reiseutensilien. Jetzt steht sie da, gelb und schön. Rucksack wollte ich auf dieser Reise nicht. Zuviel Packerei am Flughafen, denn unverpackt machen die Kofferkünstler vom Baggage-Service nur wieder alles kaputt – es wäre nicht das erste Mal. Also kleine gelbe Tasche.

Mein Plan ist, mit dem Auto in die Nähe des Flughafens Frankfurt zu fahren, es dort einem Parkplatzpächter zu übergeben und mich zum Terminal bringen zu lassen. Das klappt – viel zu gut – denn der üppige Zeitpuffer, den ich mir eingerichtet hatte, wird nicht benötigt. Check-In brauche ich nur mit Handgepäck ja nicht, Security ist leer, Passkontrolle geht per Scan, während die Beamten arbeitslos auf ihren Handys daddeln. Ich bin viel zu früh am Gate. Also suche ich mir eine gemütliche Ecke mit Ausblick und bereite schon einmal den Blog vor.

Unmittelbar vor meinem Fenster auf dem Vorfeld werden gerade die Bugräder eines größeren Fliegers gewechselt. Gemäß AMM immer beide, das vermeidet das gefährliche Shimmy! Weiter hinten am anderen Terminal steht die 16 Uhr-Maschine nach Istanbul, was auch mein erstes Ziel für heute ist. Schade, die Maschine würde mich früher nach Istanbul bringen, wo es vielleicht etwas wärmer ist als hier in Frankfurt. Nun ja, das bunte Treiben lenkt mich ab und vertreibt mir die Zeit, bis es dann endlich soweit ist, mich zum Gate zu begeben. Ich packe meinen Krempel zusammen und jetzt geht die Reise richtig los – dieses geliebte Aufbruchsgefühl stellt sich ein – ich bin unterwegs. Next Stop Istanbul!

Pünktlich, kurz vor der Dämmerung, verlassen wir Frankfurt. Wir tauchen irgendwo über Wien in die Dunkelheit ein, dann überfliegen wir nur noch Lichtpunkte, die ich nicht mehr identifizieren kann. Ich denke drei Jahre zurück, als ich irgendwo da unten auf dem Balkan mit meinem Motorrad gen Kaukasus unterwegs war. Auch wenn mir dadurch einmal mehr das rasante Verstreichen unserer kostbaren Lebenszeit gewahr wird – es ist ein schöner Gedanke. Und der Gedanke ist noch nicht ganz zu Ende gedacht, da kreisen wir auch schon über dem Lichtermeer von Istanbul. In der Ferne kann ich das goldene Horn ausmachen, Üsküdar und die große Brücke der Märtyrer über den Bosporus. Wir landen.

Der Flughafen Istanbul Havalimani ist so riesig, dass ich eine geraume Zeit unterwegs bin zum neuen Abfluggate D4. Das nannte mir der Fluganzeiger: Taschkent, 1:20h, Gate D4. Eine ganze Weile gleite ich über endlose Menschenförderbänder, Rolltreppen und durch die trügerisch glitzernde Welt der Flughafen-Mall. Eine Traube von Menschen belagert bereits den Einsteigeschalter an D4. Bepackt mit Tüten und Kisten, alles ist etwas chaotisch und just, als das Boarding beginnt, fällt mir auf, dass meine Flugnummer gar nicht angezeigt wird. Und die Airline kenne ich auch nicht. Noch einmal kurz zurück zum Fluganzeiger, um sicher zu gehen. Und tatsächlich, es gibt zwei Flüge zur selben Uhrzeit nach Taschkent. D4 ist nicht meiner. Ich muss den ganzen Weg zurück zu B18 und das in nur neun Minuten. Sowas ist mir noch nie passiert. Etwas außer Atem erreiche ich aber mein Gate noch pünktlich. Glück gehabt!

Mein Atem hat sich schon wieder beruhigt, als der Flug aufgerufen wird. Erfreulich zügig und geordnet geht die Einsteige-Zeremonie von statten, den etwas engen Sitzplatz eingerichtet, dann rollen wir auch schon und dreieinhalb Stunden bis Taschkent liegen vor mir.

Die kurze Nacht erscheint mir lang und wie das so ist bei Flügen Richtung Osten fehlen einem die Stunden Schlaf – wichtige oder moderne Menschen nennen es Jetlag. Die Sonne färbt den Horizont schon orange, unter mir zieht die turkmenische Steppe vorbei. Dann geht die Sonne endlich auf und wir landen in Taschkent.

Zum Gepäckband muss ich nicht und die Einreiseformalitäten vollziehen sich ohne Warteschlange schnell und unkompliziert. Die Beamten sind sogar zum Scherzen aufgelegt und auch wenn sich mir der Witz im Kern nicht ganz erschließt, lächle ich freundlich und wir amüsieren uns. Ein für diese Uhrzeit zu gut gekühltes Elektrotaxi bringt mich zum Hotel, der Fahrer öffnet die Fenster, als er merkt, dass ich friere. Die warme Morgenluft tut gut, oh, wie ich diese ersten Fahrten an neuen Orten liebe. Sie sind so etwas wie die Prologe meiner Reiseerlebnisse. Ich bin angekommen.

Sonntag, 28. September 2025

Medresen, Moscheen, Märkte und Metro

Übergangslos beginnt mein erster Tag in Usbekistan. Der morgendliche Check-In im netten Hotel gibt mir die Chance auf ein wohltuendes Nickerchen, denn ich bin todmüde von der Anreise.

Als ich gegen elf Uhr wieder aufwache, ist auch meine Wahrnehmung insofern korrigiert, dass gefühlt ein neuer Tag angebrochen ist. Ausgeruht – was keinesfalls ausgeschlafen bedeutet – bestelle ich mir ein Taxi über die lokale Alleskönner-App Yandex-Go, die dem Usbekistan-Touristen die organisatorischen Notwendigkeiten des Alltags erheblich vereinfacht. Vier Minuten später hält ein winziges Taxi mit einem älteren Fahrer am Treffpunkt. Er begrüßt mich, brummelt anschließend vor sich hin und aus seinem Smartphone lärmt irgendetwas, das man zwischen Adhān und chinesischer Klapper-Oper einordnen könnte. Nun ja, er bringt mich sicher zum gewünschten Ziel. Meine kleine Tour für heute kann beginnen.

Der Hazrati Imam Komplex im Norden der taschkenter Altstadt ist mein erster Programmpunkt. Auch als Khast-Imam bekannt ist er das spirituelle Zentrum des Islam in Usbekistan und ein bedeutendes architektonisches Ensemble in der Altstadt. Die Hauptbauphase und die Errichtung der ältesten monumentalen Bauwerke des Komplexes begann bereits im 16. Jahrhundert. Doch ist von den geheimnisvollen Schwarzweiß-Abbildungen in meinem alten Reiseführer vom Bahnhof Zoo nur wenig auf Anhieb wiederzuerkennen. Prächtig und sorgfältig restauriert präsentieren sich die uralten heiligen Stätten des wichtigsten Ortes der islamischen Religion und Kultur in Usbekistan. So beispielsweise die Medrese Barak-Chan mit ihrem hochaufragenden Portal, in deren Sahn (Innenhof) sich heute kleine Läden mit hübschen Touri-Souvenirs befinden.

Mitten auf dem Hauptplatz, unmittelbar vor der Hazrati Imam Moschee, steht die kleine Moyie Mubarek Bibliothek. Hier liegt eines der weltweit ältesten erhaltenen Exemplare des Uthman-Korans aus dem 7. Jahrhundert. In einem Glaskasten und lichtgeschützt unter einem dunkelgrünen Samtteppich kann man das wuchtige Manuskript bewundern. So groß wie ein Reisekoffer – nur ungleich würdevoller. Seine Papyrusblätter – es sollen über 350 sein – sind über die Jahrhunderte wellig geworden, dennoch liest sich die Hand hohe kufische Schrift noch immer klar und deutlich. Der Einband ist schwer und aus dickem Hirschleder gefertigt, er unterstreicht das historische Gewicht des Werkes auf bedeutungsvolle Weise. Fotografieren nachvollziehbar verboten.

Ein Gebäude suche ich in meinem Reiseführer jedoch vergeblich: die Hauptmoschee. Sie ist eine zeitgenössische Ergänzung des Ensembles und setzt die uralte Tradition dieses Ortes in der Moderne fort. Konsequent folgt sie islamischer Architektur: geometrisch, filigran, spirituell. Sie stammt aus den frühen 2000er Jahren und besitzt im Inneren einen weiten Gebetsraum, den Madschid, den ich sehr gerne besucht hätte. Doch die Enttäuschung ist groß. Wegen Bauarbeiten geschlossen! Lärmende Steintrennscheiben und Feinstaubwolken habe ich vor wenigen Minuten schon auf dem großen Zentralplatz erleben müssen. Jetzt das! Ich versuche im Geiste den prunkvollen Portalen mit ihren bemerkenswerten Steinmetz- und Keramikarbeiten den Eindruck von orientalischer Schönheit abzugewinnen. Leider nur mit mäßigem Erfolg, die Bauaktivitäten und Absperrungen nehmen diesem Ort doch sehr viel seiner Ausdruckskraft und Erhabenheit. Wie schade.

Ein gelangweilter, sehr junger Polizist weist mich unaufgefordert darauf hin, dass die Hauptmoschee geschlossen ist. Sie öffne in circa einem Monat wieder und ich benötige ein Umhänge-Badge, das mich als Besucher ausweist, das ich jedoch heute leider nicht erwerben kann, aber er könne mir eines besorgen. Mit eher unglaubwürdiger Autorität gebietet er mir abzuwarten, bis er all diese überflüssigen Informationen in seine Übersetzungs-App eingetippt und mir zum Lesen vorgelegt hat. Nein, ich brauche nichts und finde mich auch sehr gut allein zurecht. Mit übertriebenem, aber bewusst unterwürfigem Dank – auch wenn ich nicht weiß, wofür – vermeide ich eine weitere Belästigung durch seinen Mitteilungsbedarf, entferne mich mit einem freundlichen Winken und ziehe meines Weges.

Zu Fuß ist es nicht weit zur Koʻkaldosh-Madrasa, die eher unauffällig neben den vielspurigen Straßen und aufdringlich großen Plätzen liegt. Doch vorher müssen diese riesigen Straßen erst einmal überquert werden. Dazu stehen klotzige Betonbrücken für Fußgänger zur Verfügung, die vermutlich noch aus frühkommunistischen Zeiten stammen. Jedenfalls legen die emotionslose Architektur und der Verzicht auf jegliche Farbgestaltung diese Vermutung nahe. Auf dem Weg passiere ich noch eine Stätte brutalistischer Architektur im „kosmischen Stil“ der 1970er Jahre. Ursprünglich entworfen nach dem Vorbild einer fliegenden Untertasse und nach späterer Überarbeitung dann angeblich von einer usbekischen Teetasse, der Piala. Wie auch immer, jedenfalls residiert hier seit eh und je der bekannte Taschkenter Zirkus, was durch die großen Lettern „SIRK“ auf der Kuppel der Betonarena verkündet wird.

Ich erreiche die Koranschule Ko’kaldosh-Madrasa. Klein und bescheiden liegt sie im Treiben des Sonntagsverkehrs und erfreut sich eher geringen Interesses, denn die meisten Menschen sind unterwegs zum großen Markt, zu dem ich später noch komme. Durch das typisch keramikverzierte und hohe Portal gelange ich in den kleinen Innenhof des alten Gebäudes. Er ist üppig begrünt und beschaulich mit Blumen und Bäumen arrangiert. Eine winzige dunkle Steintreppe windet sich nach oben zu den beengten Kammern der einstigen Koranschülerinnen. Mit welcher Duldsamkeit, Leidensfähigkeit und religiöser Unterwerfung müssen die jungen Frauen ihr Schicksal einst ertragen haben – und einst ist noch gar nicht so lange her. Schon immer haben mich derartige Fragen nachdenklich gemacht, wenn die Prominenz und die Schönheit berühmter Orte von zweifelhaften Zwecken ablenken oder interessengesteuerte Verhaltenskodizes wahre Absichten zu verschleiern scheinen. Dass Religion, Kultur oder Tradition hier nicht selten als Deckmäntelchen missbraucht werden, ist für mich kein verhandelbarer Aspekt.

Mit diesen Gedanken spaziere ich nur wenige Schritte weiter zum größten Markt in Taschkent, dem Chorsu-Basar. Kreisrund, nach Warengruppen aufgeteilt und mittendrin vom riesigen Kuppelbau der Haupthalle dominiert, präsentiert sich mir ein buntes Angebot aller erdenklichen Dinge und Dienstleistungen, die man für Geld kaufen kann. Den größten Bereich stellen Lebensmittel aller Art. Angefangen von Gemüse, Obst und Gewürzen bis zu Milchprodukten und jeder Menge von Brot- und Fleischwaren. Letztere werden hier an Ort und Stelle zerlegt, wunschgemäß zugeschnitten und verkauft. Nicht jedermanns Sache oder Geschmacksache, jeder wie er mag. Was die Hygiene angeht, darf man keine mitteleuropäischen Maßstäbe ansetzen, sondern sollte sich den Üblichkeiten beugen. Zumal man als Tourist kaum in die Lage kommt, frisches Fleisch zu kaufen. Ohne jeden Plan lasse ich mich von Eindrücken, Gerüchen und dem geschäftigen Treiben leiten. Ich schaue zu, wie in der oberen Etage, wo die Bäckerinnung ihre Verkaufsstände hat, das traditionelle, runde Non gebacken wird. Dazu wird der helle, weiche Teig auf Pizzagröße ausgedrückt und erhält mit Hilfe des Chekish, einem kleinen Holzstempel, in der Mitte eine Vertiefung. Jeder Bäcker oder jede Region hat oft ihr eigenes, einzigartiges Muster, das mit dem Chekich in den Teig gedrückt wird. Anschließend legt ein zweiter Bäcker den Teig auf eine Art runde Palette mit Stil und drückt ihn mit Schwung an die Innenwände des heißen Steinofens. Die fertigen Brote werden per Hand aus dem Ofen geholt und verströmen einen herrlichen Duft von frischem Backwerk und den unterschiedlichen Gewürzen, mit denen sie bestreut wurden.

Die Eindrücke sind so vielfältig und bunt, dass ich sie gar nicht alle in Einzelheiten beschreiben könnte. Ein alter Mann, den Mund voller Goldzähne, sitzt auf dem Boden und preist fröhlich seine Besen an, eine Marktfrau zerkleinert Navat, einen gewürzten Kristallzucker, mit einem Hammer. Nicht weit davon werden Eier feilgeboten, die die Händlerinnen wie eine fragile Festung um sich aufgebaut haben. Speiseöl in allen Sorten und Gebindegrößen, frische Rinderleber zum Schnäppchenpreis und die Frau mit den dunkel geschminkten Augen verkauft Kuhfüße vom Silbertablett. Ich könnte noch endlos weiterberichten, aber nach diesem Highlight wartet noch ein weiteres ganz anderer Art auf mich: Ich werde U-Bahn fahren!

Für den Heimweg habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Wie gesagt, U-Bahn fahren. Nun hört sich das nicht allzu spektakulär an, aber in Taschkent ist es ein architektonisches Erlebnis. Nach dem verheerenden Erdbeben von 1966 wurde in Taschkent in den 1970ern der Bau der U-Bahn begonnen. Die gesamte Sowjetunion beteiligte sich im Rahmen des Wiederaufbaus daran und die Metro sollte dabei nicht nur ein reines Verkehrsmittel, sondern ein prunkvolles Zeichen des Triumphs über die Zerstörung und der Macht sowie des Fortschritts der Sowjetunion in Zentralasien sein. Man sparte nicht an Material und Design.

Jede Station wurde von anderen Architekten und Künstlern gestaltet und erhielt ein eigenes, einzigartiges Thema. So z.B. die Raumfahrt bei der Station Kosmonavtlar, die Baumwolle bei Paxtakor oder die Werke des berühmten Dichters Alisher Navoiy. Und nachdem das Fotografieren der Bahnhöfe in den letzten Jahren erlaubt wurde, will ich mir diese Meisterwerke nicht entgehen lassen. Ich fahre von der Station Chorsu zur Station Tashkent und steige immer wieder aus, wenn es mir gefällt. Ich bin sehr beeindruckt. Nicht nur von der künstlerischen Gestaltung, sondern auch von dem besonderen Flair der einzelnen Stationen.

Und mit diesen Eindrücken endet mein erster Tag in Usbekistan. Ich gehe noch ein Häppchen essen im benachbarten chinesischen Restaurant und kurz darauf bin ich zurück in meinem gemütlichen Hotelzimmer. Die erste Nacht wird nicht sehr lang sein, aber hoffentlich dennoch erholsam. Morgen in der Früh setze ich meinen Weg mit dem Zug nach Samarkand fort – ich freue mich. Auf eine ruhige Nacht und auf Samarkand.

Montag, 29. September 2025

Im Herzen der Seidenstraße – der Geist von Samarkand

Um sieben Uhr klingelt mein Wecker. Noch viel zu früh, denn meine innere Uhr hat sich noch nicht mit den drei Stunden Zeitverschiebung arrangiert. Die erfrischende Dusche bewirkt nur wenig Besserung und so begebe ich mich immer noch müde zum Frühstücksbuffet, was mich aber mit seiner Vielfalt eher überfordert als begeistert. Am Ende helfen der starke Kaffee und der strahlende Sonnenschein zu früher Stunde – heute ist mein erster Reisetag in Usbekistan.

Den Bahnhof erreiche ich in wenigen Minuten zu Fuß und Gleis fünf ist auch schnell gefunden. Die kyrillischen Tafeln an den Wagons kann ich nur unsicher deuten, aber die Zugnummer 716ФA mit dem kyrillischen F ist richtig. Die einspruchsfreie Kontrolle des Schaffners bestätigt mich, ich darf einsteigen. Ich reise heute in der 1. Klasse, denn Zugfahren in Usbekistan ist spottbillig. Dann verlassen wir auch schon Taschkent – pünktlich auf die Sekunde – und ich genieße den Fensterplatz auf der Sonnenseite.

Allmählich dünnt sich die Besiedlung vor meinem Panoramafenster aus, bis die Landschaft endgültig übergeht in die usbekische Steppe. Der Sommer ist vorbei und die Hitze hat trockenes, braunes Land hinterlassen. Daran ändern auch die einen oder anderen versprengten grünen Felder nichts. Ich schreibe mein Reisetagebuch und lese in meinem über vierzig Jahre alten Reiseführer – Ihr erinnert Euch an mein kleines Experiment. Eigentlich lese ich weniger, als dass ich Bilder gucke. Und diese sind überwiegend in Schwarzweiß. Sie zeigen viele Ruinen und häufig die Restaurationsarbeiten und Zustände der historischen Stätten und Gebäude. Im Hintergrund erkenne ich die rudimentäre Infrastruktur der damaligen Zeit, alles ist unerschlossen und ungeregelt. Bäume wachsen wild auf den Plätzen und manche der historischen Sehenswürdigkeiten im heutigen Zustand wären nicht aus den Bildern abzuleiten, stünde es nicht in den Beschreibungen. Auf einem Bild sieht man sogar ein Auto, das direkt vor dem Registan entlangfährt. Heute undenkbar. Nun kenne ich natürlich viele aktuelle Fotografien und weiß, was mich rein optisch erwartet, aber ich bleibe sehr gespannt, wie all das in Wirklichkeit auf mich wirken wird.

Die drei Stunden Zugfahrt gehen schnell vorbei, ich nehme das erstbeste Taxi zu meinem Hotel und erlebe ein jämmerliches Verkehrschaos, wegen völlig unlogisch geschalteter Ampeln und eines netten, aber fahruntüchtigen Taxichauffeurs. Gefährlich progressives Bremsen und kreative Anfahrmanöver, die eher an die Lektion der Carrière in der Hohen Reitschule erinnern, sind nur zwei seiner Kunststücke. Ich komme nach einer Stunde unversehrt in meinem hübschen Hotel an.

Der Registan ist nur wenige Minuten zu Fuß entfernt und es ist das Ereignis, auf das ich mich den ganzen Tag gefreut habe. Schon von Weitem sehe ich die drei monumentalen Iwane, die an den Seiten des Registan-Platzes aufragen. Daneben die nicht mehr ganz lotrecht stehenden großen Minarette mit ihren wunderschönen farbigen Fliesen. Ich muss jetzt schon tief einatmen und bin noch nicht einmal eingetreten. Ich entrichte meinen Obolus, den ich in jeder Höhe akzeptiert hätte, und betrete ehrfürchtig den weitläufigen Platz. Was ist das für ein unbeschreibliches Gefühl, endlich an einem Ort zu stehen, von dem ich ein halbes Leben lang geträumt habe und von dem ich nur ein selbstgemaltes Bild im Kopf hatte. Diese völlig subjektive Vorstellung weicht heute der Wahrheit, denn das Herz der Seidenstraße umfängt mich in einem unwiederbringlich perfekten Moment. Die Sonne neigt sich langsam und das Licht wird weich und warm. Orange und Rot spiegeln sich in den reich verzierten Pischtaks der Medresen. Von mir aus müsste die Sonne heute gar nicht untergehen – Stunden wären zu wenig, um sich an dieser Kulisse sattzusehen. Und während die Dunkelheit hereinbricht, sondiere ich die Nischen, Innenhöfe und Gebetsräume, weide mich an Farben, Glanz und orientalischer Fliesenkunst längst vergangener Zeitalter. Über mir spannen sich wunderschöne, filigran bemalte Kuppelgewölbe auf, vor mir leuchten kunstvoll mit Keramik, Marmor und kalligraphischen Koranversen verzierte Maḥārīb (Gebetsnischen). Und dort, wo ich rituell meine Schuhe ausziehen muss, umschmeicheln weiche Teppiche meine nackten Fußsohlen. All diese tiefen Eindrücke kumulieren in ein Empfinden, das so einzigartig ist, dass ich um Worte ringe. Am treffendsten lässt es sich vielleicht als die Essenz des Geistes von Samarkand deuten, dem Herzen der Seidenstraße.

Draußen ist es unterdessen Nacht geworden und viele bunte Scheinwerfer lassen die Fassaden in verschiedenfarbigem Licht erstrahlen. Nun ja, das sieht recht hübsch aus, ist aber in etwa das gleiche, als würde man die Ghusl al-Ka'ba (Reinigung der Kaaba) mit Unterhaltungsmusik aufwerten wollen. Mit der Erhabenheit des Erlebten und den wahren Bildern im Kopf gehe ich nach Hause.

Dienstag, 30. September 2025

Gestempeltes Brot und die Gesichter der Toten

Nach den bewegenden Eindrücken von gestern schlafe ich heute Morgen etwas länger und kuriere meinen Jetlag aus. Das leckere Frühstück hier in meinem kleinen Hotel schafft mir die Grundlage für einen langen Tag, auch wenn ich mir absichtlich nicht ganz so viel vorgenommen habe. Ich werde einen Spaziergang zum Siyob Bozori, dem großen Bauernmarkt machen und anschließend Richtung Chidr-Moschee und Schah-i Sinda meine Erkundungen fortsetzen. Auf geht’s.

Alle Märkte sind gleich und jeder Markt ist anders. Beide Aussagen stimmen. Was alle Märkte gemeinsam haben und was ich so sehr an ihnen liebe, ist ihre Lebhaftigkeit, das bunte Treiben, Stimmengewirr und die groben Geräusche, wenn Kisten, Körbe und ganze Autoladungen von starken Händen bewegt werden. Was sie unterscheidet, sind die Düfte und Aromen. Diese mischen sich aus dem Zusammenspiel der Waren, die gleichzeitig verkauft werden. Es ist einleuchtend, dass ein Viehmarkt definitiv anders riecht als ein Obst- und Gemüsemarkt. Fisch- und Fleischgerüche sind nicht jedermanns Sache, aber wenn sie frisch sind, besitzen auch sie eine angenehme charakteristische Note. Saaten und Gewürze wiederum unterscheiden sich deutlich von Zuckerwaren, harmonieren aber hervorragend. Und Letztere sind auf dem Siyob Bozori sehr prominent vertreten. Ach ja, und Touristenschrott aus Plastik riecht meist gar nicht.

Auf allen Märkten der Welt, auf denen auch Touristen zu Besuch kommen, werden Souvenirs verkauft. In Usbekistan ist es die traditionelle Keramik, die zu einem großen Geschäft für die Touristen geworden ist. Diese Artikel sind aus der Tradition entstanden und sind heute immer noch übliche Gebrauchsgegenstände. Sie sind teilweise wirklich sehr schön und ein großer Teil ist tatsächlich Kunsthandwerk. Gleich am Anfang des Siyob Bozori hat sich die Töpfer- und Keramikinnung einen Platz gesichert. Hier kann ich zusehen, wie die großen Terracotta-Rohlinge vor dem Brennen von Hand bemalt werden. Ein Stück weiter treffe ich Bekanntes wieder: Zuerst Stände mit Navat, dem gewürzten Zucker und Non, das Fladenbrot und etwas weiter auf dem Werkzeugmarkt finde ich sogar die Chekish – die Brotstempel für die Muster.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich habe treiben lassen. Nachdem ich durch endlose Gänge von Gerüchen, Düften, Farben und Waren geirrt bin, ende ich am nördlichen Ausgang und setze meinen Spaziergang zur Chidr-Moschee fort.

Auf einer kleinen Anhöhe, mitten in einem gepflegten Park, den man von Süden nur über eine moderne Autobahnbrücke erreichen kann, steht die beschauliche Chidr-Moschee. Sie strahlt eine wohltuende Ruhe aus, die zum Innehalten einlädt. Die Moschee ist akribisch restauriert und zeugt von alter Pracht; sie bietet im Inneren einen kleinen, schattigen Säulengang mit wunderschöner, farbenprächtiger Deckenmalerei, deren filigrane Ornamente Bewunderung für den Künstler erzeugen. Auf der Südseite gibt es zudem einen Balkon, der einen grandiosen Panoramablick über Samarkand gewährt – wäre da nicht der Smog.

Der Besuch ist kurz, und die besinnliche Stille weicht schnell dem starken Kontrast, als der weitere Weg mich über einen weitläufigen islamischen Friedhof führt. Dieser ist allerdings unübersehbar von der kalten Ästhetik sowjetischer Klotzkultur beeinflusst, aber dennoch ein bemerkenswertes und zutiefst eigenartiges Erlebnis zugleich. Zwischen hunderten von großen, dunklen Granitplatten entlangzuspazieren, auf denen überlebensgroß die Gesichter der Verstorbenen detailreich eingemeißelt sind, ist befremdlich. Es ist eine gespenstische Versammlung und alle Augen dieser Gesichter schauen mich an. Auch wenn es mich irgendwie ein wenig gruselt, muss ich über mehrere Hügel zum anderen Ende, denn dort, hinter den letzten Gräbern, ist der Eingang zu meinem dritten Ziel: Schah-i Sinda.

Das Schah-i Sinda-Ensemble ist eine Ansammlung von Mausoleen verschiedener, meist hochrangiger oder bedeutender Menschen. Das markante an diesem Ensemble ist, dass die einzelnen Gebäude sehr eng zusammenstehen und man durch sehr enge Gassen und Wege hindurchgehen muss. Es ist äußerst eindrucksvoll, die hohen gefliesten Fassaden zu durchschreiten. Die dominierende Farbe ist blau, die sich am Nachmittag mit den Ockertönen des Sandsteins und dem warmen Sonnenlicht mischt. Leider ist diese Enge nicht für größere Touristengruppen geeignet und es ist mehr als nervig, wenn vor jeder Attraktion irgendwelche selbstverliebten Selfie-Nerds hemmungslos ihrer eitlen Neigung nachgehen und ihre vermeintliche Schönheit in verklärter Selbstwahrnehmung fotografisch dokumentieren. Ich versuche, das Beste draus zu machen und kann dem Ganzen durchaus ein paar schöne Eindrücke abgewinnen. Dann mache ich mich auch schon wieder auf den Heimweg. Ich bin hungrig.

Als es schon dunkel ist, erreiche ich die kleine Straße an meinem Hotel. Hier gibt es ein paar bescheidene Restaurants, in denen hauptsächlich Einheimische essen und das, was angeboten wird, sieht sehr lecker aus. Ich kann weder lesen noch aussprechen, was auf der Speisekarte steht, aber die bunten Bilder geben in etwa einen Eindruck davon, was man dann später serviert bekommt. Ich bestelle mir eine heiße usbekische Suppe, den Namen habe ich vergessen, aber sie ist richtig gut, wärmt und reicht durchaus, um satt zu werden. Man muss bedenken, dass trotz Temperaturen von 30°C am Tag, die Abende schon empfindlich kühl sind. Der Weg zum Hotel hätte nicht länger sein dürfen, ich bin müde und falle ins Bett. Gute Nacht!

Mittwoch, 01. Oktober 2025

Tauben, Tyrannen und quietschbuntes Finale

Ein unbekanntes Geräusch weckt mich aus wirren Träumen. Es ist ein Tiergeräusch, ein leises Gurren, ganz in der Nähe. Es dauert einen Moment bis meine verschlafenen Sinne auf Realität umgeschaltet haben und die Außenreize korrekt interpretieren. Dann sehe ich zwei winzige Türkentauben, die sich auf meiner Fensterbank in der ersten Morgensonne wärmen. Sie gehören zum Hotel und wohnen hier im schönen Innenhof. An die Gäste und das Treiben haben sie sich offensichtlich gewöhnt, weshalb sie sich von meiner Nähe auch nicht weiter stören lassen. Im Patio ist es noch still und kühl, obwohl es schon fast zehn Uhr ist. Die Nächte jetzt Anfang Oktober sind bereits empfindlich kalt, mit Temperaturen, die in den Morgenstunden schon im einstelligen Bereich liegen können. Das Frühstücksbuffet schließt bald. Ich muss mich beeilen.

Was das heutige Tagesprogramm angeht, bleibe ich meinem bewährten Prinzip treu: Wenig Planung – viel Zeit für Zufälle, spontane Begegnungen und Improvisation. Ich nenne das gerne gelebte Serendipität.

Bevor ich mich aufmache zur Bibi Chanym-Moschee, lese ich noch etwas in meinem alten Reiseführer: 

Vor dem Mausoleum der Bibi Chanym – Begräbnisstätte der Frauen der Timuriden Dynastie (?) – das sich gegenüber (östlich) der Moschee befand, sind ebenfalls nur noch Ruinen erhalten. (Pander K., Sowjetischer Orient, DuMont Buchverlag, Köln 1982, S. 281)

Bis heute ist viel Zeit vergangen und die Ruinen von Bibi Chanym sind restauriert und erstrahlen nahezu wieder in alter Pracht. Es ist kaum vorstellbar, dass ein derart gigantisches Gebäude aus Millionen Bruchstücken wieder ursprungsgetreu aufgebaut werden kann. Zwischen den folgenden zwei Bildern liegen ganz grob 45 Jahre!

Die Bibi Chanym Moschee ist sehr beeindruckend und was besonders schön ist an ihr, ist der begrünte Innenhof – der Sahn. Das Ensemble ist in allen Teilen wunderschön restauriert worden und strahlt trotz der touristischen Geschäftigkeit eine wohltuende Ruhe aus. Ich mag diese grünen Innenhöfe mit ihren hohen, schattenspendenden Bäumen. Eine Zeitlang sitze ich auf einer Bank bewundere die kunstvollen Keramikfassaden, ihre Farben, und lasse Bilder aus der Entstehungszeit dieses Moscheenkomplexes an meinem inneren Auge vorbeiziehen.

Ich lese weiter in meinem Reiseführer und stelle mehr und mehr fest, dass die Hintergrundinformationen und historischen Zusammenhänge bis auf wenige Ausnahmen den überwiegenden Inhalt ausmachen. Ich will nicht sagen, dass es mich langweilt; es ist durchaus sehr interessant und hilfreich, was die Beschreibungen zu den Besichtigungsorten angeht und die Orientierung, aber über das, was die Menschen seinerzeit bewegte, was ihre Sorgen und Freuden waren, erfährt man wenig. Es mag sein, dass darüber in den Annalen tatsächlich wenig niedergeschrieben ist, weil alle großen Schriften der Welt sich nun einmal wenig um das Wohl gewöhnlicher Menschen scheren, oder aber, dass das Verständnis eines Reiseführers Anfang der Achtziger Jahre eine akademische Dokumentation von Zahlen und Fakten war. Zudem fällt mir auf, dass die Diskrepanz zwischen der Preisung der architektonischen Manifeste und der notwendigen Frage, zu welchem inhumanen Preis sie von den mächtigen Bauherren erschaffen wurden, nicht diskutiert wird. An erster Stelle sei hier Amir Temur genannt, der Samarkand erst zu seiner Blüte und Bedeutung verhalf. Die Komplexität seiner Herrschaft lag in dem extremen Gegensatz, einerseits ein blutrünstiger Tyrann und andererseits ein großzügiger Kunst- und Kulturförderer gewesen zu sein. Die Grausamkeit war für ihn der Preis, den die unterworfenen Völker für die Schaffung eines riesigen, kulturell reichen Imperiums zahlen mussten. Ich spare mir an dieser Stelle, die unkritischen, empathielosen Formulierungen aus meinem Reiseführer zu zitieren und auch die der detaillierten Beschreibungen in historischen Quellen, die ich während der Reisevorbereitungen recherchiert habe. Natürlich bin ich nicht so naiv, zu glauben, dass politische Machtausübung ohne irgendeine Form der Gewaltanwendung überleben könne, aber wenn ich diese belegten Fakten neben meine Begeisterung in diesen Tagen stelle, relativiert sich die Würde des Dargebotenen deutlich. Mit diesen Gedanken mache ich mich nun auf den Heimweg von der Bibi-Chanym-Moschee.

Der kleine Spaziergang entlang der Taschkent-Allee tut gut, der Park rund um den Registan ist wenig besucht und verschafft mir schattigen Raum für meine Gedanken. Sie sind zahlreich geworden in den letzten Tagen. So viel Großes und Bewegendes ist mir begegnet, das alles geistig und emotional sortiert werden will. Es hat etwas von Alte-Urlaubsfotos-einkleben, wenn man früher mit schwarzem Fotokarton, selbstklebenden Fotoecken, Schere und weißem Griffel sorgsam die wenigen kostbaren Fotos zu einem dicken Album gestaltete. Strukturiert man das Layout chronologisch oder thematisch nach besuchten Orten? Bevorzugt man die schönsten Bilder oder die mit den lustigsten Geschichten? Und was macht man mit den Ereignissen und Gedanken, die nicht fotografisch dokumentiert sind? So ähnlich geht es mir heute auch. Das ist das, was Reisen mit mir macht. Es zeigt Bilder – gefragt und ungefragt –, transformiert subjektive Vorstellungen in objektive Wahrheiten, ändert Ansichten und Sichtweisen. Reisen verschiebt und schafft Werte, es erfüllt Herzenswünsche und lehrt, dass zu hohe Erwartungen meist in tiefen Enttäuschungen enden.

Ich setze mich noch am Registan-Platz auf eine Mauer und lasse das Treiben um mich herum einfach geschehen. Der Lärm stört mich nicht, denn ich beobachte einmal mehr das typische, penible und lautstarke Dirigieren der Handy-Fotografen, mit dem sie die zu Porträtierenden exakt vor der Attraktion ausrichten und dann von Drei runterzählen, um die beliebig bescheuerten Gesten der Protagonisten mit ihrer Auslösung zu synchronisieren. Knips – und dann begutachten alle das Ergebnis auf dem winzigen Handy. Aber die Krönung sind die Brautpaare beim Fotoshooting. Jene pseudoprofessionellen Inszenierungen irgendwelcher selbsternannten Hochzeitsfotoprofis, die mehr Alarm machen als gute Fotos. Hauptsache Kulisse Weltkulturerbe, Brautpaar aufbereitet wie für Royal Wedding und die Fotografen gerieren sich wie Werner Herzog höchstpersönlich am Set. Alberne Touristen im Bildhintergrund sind egal, das rottige Absperrgitter stört auch nicht, Aufhellreflektoren zur Lichtführung kennen sie nicht und die einzige Anweisung für das Brautpaar war vermutlich, emotionslos in die Linse zu stieren. Ach ja, lieber Bräutigam, der oberste Hemdknopf bei Krawatte wird geschlossen! Viel Glück im neuen Lebensabschnitt!

Die quietschbunte Kirmesbeleuchtung wird auch heute pünktlich bei Dunkelheit eingeschaltet. Es ist keine ästhetische Wahl, sondern ungelenker Pleonasmus – so geschmackvoll wie Süßstoff in gezuckertem Kaffee. Meine Bilder und Farben, die ich von diesem wunderschönen Ort für immer mit mir nehme, sind andere. Stillere, bedeutendere, bisweilen kritischere, aber immer sind es meine – nur meine. Es sind die Farben des echten, unverfälschten Lichts auf den Mosaiken, die Resonanz der Geschichte im stillen Moment. Ich gehe jetzt heim in mein Hotel – in das mit den Tauben.

Donnerstag, 02. Oktober 2025

Von Schlachten und der Kapitulation vor dem Tourismus

Wie schön, wenn man vor einer Zugfahrt noch in Ruhe frühstücken kann. Es ist acht Uhr und selbiges habe ich soeben in aller Gemütlichkeit getan. Der Kaffee hat mich geweckt, meine kleine Tasche ist bereits abreisefertig gepackt und ich bestelle mir ein Taxi. Mit der lokalen App geht das wunderbar. In drei Minuten muss ich vor der Tür stehen.

Die Rush Hour ist weit weniger schlimm als ich zu befürchten hatte, meinen Puffer von einer ganzen Stunde werde ich nicht brauchen. Zeit genug, um mich am Bahnhof zurechtzufinden und noch ein paar Fotos zu machen. Die Vorhalle ist wieder ein Paradebeispiel für den architektonischen Einfluss der Sowjetzeiten. Auch wenn der Bau des Gebäudes schon im späten 19. Jahrhundert begonnen wurde und kein festes Fertigstellungsdatum hat, wurde sein Erscheinungsbild während der vielen Umbauten und Erweiterungen maßgeblich vom russischen Brutalismus geprägt. Dennoch gefällt es mir recht gut und erinnert mich an die Metro-Stationen in Taschkent.

Heute 1-yo'l – das heißt Gleis 1 – so viel habe ich schon gelernt. Mein Zug fährt ein, es ist der schnittige Afrosiyob, das Premium-Angebot der usbekischen Eisenbahn und der schnellste Zug des Landes. Es ist der historische Name von Samarkand und symbolisiert die Verbindung des modernen Usbekistans mit seinem reichen kulturellen Erbe entlang der Seidenstraße. Und entlang dieser machen wir uns auf den Weg nach Buchara.

Ich mache es mir am Fenster gemütlich und lasse mich vom guten Service an Bord mit heißem Kaffee versorgen. Draußen zieht die usbekische Steppe vorbei und ganz in der Ferne durch die staubige Luft kann ich die Agalyk-Berge erkennen.

Die Ankunft ist wie meistens chaotisch, alle steigen aus und der Menschenstrom bewegt sich direkt auf die Front der Taxifahrer zu. Als Vorhut mehrere Japanerinnen, sie rollen ungeschickt mit riesigen pinken Kitty-Koffern in die Schlacht und sind die ersten chancenlosen Opfer des Beutemacherheeres. Dahinter eine Familie. Mutti mit zwei krähenden Blagen auf dem Arm und Vati mit Koffern und zwei Kinderwagen sind ebenfalls völlig überfordert und fallen gewissermaßen im tapferen Kampf gegen die Armee der Chauffeure. Ich selbst wende die Ignoranten-Taktik an und stoße in die Secunda Acies vor – in die zweite Schlachtlinie auf dem Bahnhofsvorplatz. Hier lauern Taxifahrer mit kleineren Autos ausgerüstet, die meist auf eigene Kasse arbeiten. Mit Mikhail, dem korpulenten Inhaber einer bunt-verzierten Schrottkarre, schließe ich per Handschlag Frieden. Er weiß um meine gefüllte Kriegskasse und ich weiß, dass das schnelle Geschäft für ihn das Beste ist. Denn ohne frühen Fahrgast droht ein qualvolles Ende im Verkehrskollaps, wenn die Armada der Taxen und Busse, mit ihrer Beute reich beladen, gleichzeitig den Triumphzug Richtung Innenstadt antritt. Nichts wie fort hier!

Buchara ist einfach und so auch mein Hotel unmittelbar hinter dem Po-i-Kalyan, einem Gebäudeensemble im historischen Zentrum der Stadt. Einchecken und als erstes auf die Dachterrasse, denn für die schöne Aussicht habe ich diese Unterkunft ausgewählt. Doch die Enttäuschung ist groß. Baugerüste stehen vor dem Iwan der Mir-Arab-Madrese und ihren Kuppeln. Wie schade ist das denn? Meine Einsicht, dass diese alten Gemäuer regelmäßig instandgehalten werden müssen, und dass bei der Vielzahl immer irgendeines eingerüstet ist, hilft mir wenig über den Frust hinwegzukommen.

Dann will ich mal losziehen, um dem Städtchen seine schönen Seiten abzugewinnen. Natürlich! Als erstes schaue ich mir den Po-i-Kalyan an. Ein Komplex nach dem gleichen Muster wie die großen Ensembles in Samarkand. Er umfasst vier wichtige Bauwerke: das Kalon-Minarett, die Kalon-Moschee, die Mir-Arab-Madrasa und die Emir-Alim-Khan-Madrasa. Der Eintritt ist wegen der Bauarbeiten reduziert und im Innenhof sind nur wenige Besucher anzutreffen. Schön ist es hier. Jedenfalls dort, wo man hingelangen kann. Viele Räume und Gänge sind verbrettert, Werkzeuge und Baumaterialien liegen herum und alles ist bedeckt von Baustaub. Ich mag diese großen Plätze in Gebäuden, sie sind normalerweise Orte der Ruhe und Besinnlichkeit und verbannen den Lärm und die Hektik des Alltags hinter ihre Mauern. In einer sonnigen Ecke befreie ich eine Bank vom Staub und lasse mich nieder. Die Sonne wärmt mich und dann finde ich sie tatsächlich, diese Beschaulichkeit und Entspannung. Die Baugeräusche haben aufgehört und die Abhängungen und Verschläge der Fassaden blende ich einfach aus. Das erste Schöne hätte ich der Stadt damit schon abgerungen.

Und dann beginnt ein zielloser Spaziergang durch die alte Stadt von Buchara – so jedenfalls war es gedacht. Das Erste, was mir auffällt, sind glitzernde Shopping Malls, mit ebenso hell erleuchteten Läden, die immer das gleiche im Angebot haben: Schmuck, Teppiche, Seidentücher und Klimbim. Natürlich „hand-made“, „traditional“, „best in town“. Zum anderen – wenn ich die echten historischen Stätten betrete – finde ich mehr oder weniger wohlorganisierte Flohmarktstände ebenfalls mit Klimbim, nur preiswerter. Von Tubeteikas bis Chugurmas und von Kissenstickereien bis zu hölzernen Schmuckdöschen, bunten russischen Anstecknadeln und Wollsocken findet man hier so ziemlich alles. Grausam! Die alten Moscheen, wie Ulugʻbek-Madrasa und die Abdulaziz-Khan-Madrasa sind etwas heruntergekommen und scheinen nur noch als Kulisse für Souvenirhändler zu dienen. Dabei sind sie mehr als sehenswert. Der Toqi Zargaron war schon immer ein Basar für Schmuck und Edelsteine, sogar der größte in Buchara, aber auch er hat kapituliert vor dem lukrativen Massengeschäft. Was hier heutzutage verkauft wird, hat weder mit traditionellen Waren noch mit echter Handelstradition etwas zu tun.

Ich schlendere weiter und finde mich irgendwann im geleckten Zentrum. Alles ist im alten Stil erbaut, ist aber nicht echt. Ist nur Fassade. Den authentischsten Höhepunkt stellt absurderweise eine alte Russenkarre dar – ja, die ist wirklich alt. Ansonsten noch mehr Restaurants, noch mehr Mützenverkäufer, noch mehr Touristen. Ich bin wenig begeistert und es ist traurig anzusehen, wie das, was Buchara an einzigartigen historischen Schätzen besitzt, verramscht und missbraucht wird für dieses Touristen-Kasperltheater.

Ich habe Hunger, und auch hier muss ich mich der Gewinnmaximierung beugen. Ein Sitzplatzwunsch im Restaurant für einzelne Personen wird mit geheucheltem Bedauern überall abgelehnt. Nur Gruppen! Und damit sind Busladungen gemeint. Wer dennoch hier essen will, kann sich draußen an kleine, wackelige Bistrotische auf Drahtstühle setzen und bekommt großzügig eine Decke angeboten, damit er nicht friert. Diese Interpretation von Gastfreundschaft habe ich in noch keinem orientalischen Land erlebt. In irgendeiner Gasse finde ich dann doch noch ein zweitklassiges Café, das wenigstens eine heiße Suppe und Häppchen anbietet. Jedenfalls ist man hier sehr nett und in der Küche scheint Mutti noch selbst zu kochen. Na also, geht doch!

Auf dem Heimweg gibt es einen winzigen Supermarkt, eher ein Kiosk, und dort kaufe ich mir für einen knappen Euro einen Liter Kefir. Schon in Taschkent war ich auf den Geschmack gekommen. Der Kefir hier ist ganz besonders gut. Er ist dickflüssig, ja fast klumpig, wie durchgerührte echte Dickmilch. Ein Genuss! Ich nehme den kürzesten Weg nach Hause und finde in einer dunklen Gasse vierhundert Dollar auf dem Boden. Vier Banknoten, eingefaltet, als wären sie in der Hosentasche getragen worden und versehentlich herausgefallen. Nach genauer Prüfung – wie sollte es anders sein – es sind natürlich Blüten. Vermutlich soll auf diesem Wege ihre Akzeptanz getestet werden. Ich lasse sie liegen und fotografiere sie auch nicht, denn auch für ein derart kurioses Andenken sollte man sich mit so etwas nicht erwischen lassen. Noch schnell durch die hübsch bunten Lichtspiele am Po-i-Kalan, dann endlich ins Hotel.

Was für ein komischer Tag, wenn schon Falschgeld, Kefir und Moscheen mit Lichtorgeln die Highlights darstellen. Diese Stadt ist die Kapitulation vor dem Tourismus.

Freitag, 3. Oktober 2025

Müßiggang und Versöhnung mit einem "Glücklichen Platz"

Nachdem der Tag gestern weniger von Reiseabenteuern und spannenden Erlebnissen geprägt war, habe ich mir für heute nicht viel genommen. Es steht lediglich der Besuch der Zitadelle auf dem Programm, das werde ich aber erst zum Sonnenuntergang tun. Die Zeit, die mir so zur Verfügung steht, benutze ich dafür, meine Fotos zu bearbeiten und ein wenig Schreibarbeit nachzuholen. Doch zuerst ist ein ausgiebiges Frühstück nötig, sonst funktioniert mein präfrontaler Kortex nicht – das ist das kreative Zentrum und das braucht Glucose! Als Booster nehme ich noch eine große Tasse Kaffee und einen Teller Gebäck mit aufs Zimmer, falls meinem Gehirn so gar nichts einfallen sollte.

Die Stunden plätschern vor sich hin, Fotos vorsortieren, nachsortieren, verschlagworten, vorbewerten, vorbearbeiten, nachbearbeiten, erneut bewerten und am Ende bleiben eine Handvoll akzeptable Bilder übrig. Diese dann noch ordentlich zuschneiden, betiteln und alles, was in die Reiseberichte soll, hochladen. Fertig. Jetzt esse ich meine mitgebrachten Leckereien vom Frühstücksbuffet, denn der kreative Teil beginnt. Das Schreiben. Eine Freundin sagte mir mal, mit ein wenig Ärger im Bauch schreibe ich durchaus amüsantere Texte. Interessante These, die ich aber erweitern würde auf alle emotionalen Zustände. So wie bei Hunger das Essen besser schmeckt oder bei Erschöpfung der Schlaf wohltuender ist, so ist auch das Schreiben bei Verdruss oder Vergnügen eine Genugtuung. Ärger schreibe ich mir im wortwörtlichen Sinne von der Seele und Freude kann ich großzügig teilen.

Bis zum Nachmittag schaffe ich es, die Geschichten der vergangenen Tage aufzuholen und zu veröffentlichen – ihr habt sie ja schon gelesen… Draußen schickt sich die warme Nachmittagssonne an, ihren Untergang einzuleiten und ich schicke mich an, meinen Besuch der Zitadelle anzutreten. Durch die kleinen Gassen – ich kenne die Wege schon – sind es keine fünf Minuten Fußweg bis zum Eingang der riesigen Zitadelle, der Ark Buchara. Ich zahle meinen Eintritt und steige die steilen Treppen empor, bis auf den kleinen Platz hinter dem Torbogen. Die Abendstimmung ist toll, obwohl zu dieser Stunde sehr viele Menschen kommen, um den Sonnenuntergang zu erleben. Es ist noch Zeit und Licht genug, um sich in aller Ruhe den Thronsaal und die kleine Moschee anzusehen. Letztere beeindruckt durch ihre wunderschöne Holzdecke mit edlen Schnitzarbeiten und kunstfertiger Bemalung. An den Wänden über der Gebetsnische prangen tolle islamische Ornamentik und Inschriften von Versen aus dem Koran. Vorbei an der Sommermoschee mit der aufwändigen Dachkonstruktion, die von vier der typischen geschnitzten Holzpfeiler getragen wird, gelange ich auf die weite Fläche der Zitadelle, auf der viele alte und zerfallene Moscheen stehen, die vermutlich in die vorchristliche Zeit fallen. An der bezinnten Mauer endet mein Weg und ich genieße eine herrliche Abendstimmung mit Panoramablick über das alte Buchara. Die Sonne sinkt hinter meinem Rücken in die Nacht und ich mache mich auf dem Heimweg.

Unten auf dem großen Platz findet ein angeregtes, abendliches Festival mit viel Musik statt, dessen Anlass ich aber nicht ergründen kann. Ich gerate versehentlich hinter die Bühne, was aber offensichtlich niemanden stört. Neben mir bekommen gerade noch drei traditionell kostümierte Tänzerinnen letzte Instruktionen von den Choreografinnen, dann eilen sie zum Auftritt.

Der Mond ist bereits aufgegangen und auf dem Heimweg zaubert er eine wunderschöne Stimmung über die alten Gebäude. Ich habe das Gefühl, als wolle er etwas wiedergutmachen von dem, was in Buchara alles nicht so schön war. Ich freue mich über diese kleine Geste der Versöhnung und verlangsame meine Schritte entlang des Po-i-Kalan. Auf dem Platz spielt ein Radio noch Musik und die Kinder Fußball, das Baugerüst ist in der Nacht gar nicht mehr so auffällig und an das bunte Licht, passend zu den Luftballons der Souvenirverkäufer, habe ich mich schon gewöhnt. Mache ich doch noch meinen Frieden mit Buchara? Schließlich bedeutet der Name auf Sogdisch – einer ausgestorbenen alt-iranischen Sprache – so viel wie „Glücklicher Platz“. Auch wenn es nur eine der vielen unbewiesenen Theorien ist, sie ist schön und für mich fühlt sich das annehmbar an. Gute Nacht, Buchara!

Samstag, 4. Oktober 2025

Beinahe verpasst und Farben in der Wüste

Um kurz vor sechs stehe ich abreisefertig vor dem Hotel auf der Straße. Es ist noch dunkel und kühl. Mein Taxi sollte kommen, aber es kommt nicht. Die Zeit verrinnt und bis zum Bahnhof ist es eine knappe Stunde. Ich muss handeln, das bedeutet, ich muss mir ein neues Taxi suchen, aber um diese Uhrzeit stehen die Zeichen nicht so gut für mich. Die größten Chancen rechne ich mir aus, wenn ich mich an dem großen Platz von der Zitadelle einfinde und versuche, dort mit meiner App ein neues Taxi zu bekommen oder vielleicht eines anzuhalten, das um diese Uhrzeit schon unterwegs ist. Der Verkehr ist dünn und die Uhr tickt. Dort kommt ein Taxi. Ich winke, aber es ist besetzt. Ich stelle mich auf die andere Seite der Straße. Dann biegt von der großen Kreuzung tatsächlich das nächste ein. Ich stelle mich mitten auf die Straße und winke. Der Fahrer macht eine Vollbremsung und jetzt kommt es auf mein Verhandlungsgeschick an, um nicht vollends ausgebeutet zu werden. Ich bin bereit, jeden Preis zu bezahlen, denn je nach Verkehr wird das jetzt schon eine ziemlich knappe Nummer. Um meine Notlage nicht zu offenbaren, lehne ich sein erstes Preisangebot mit einem Lächeln ab und biete ihm die Hälfte. Damit kommt ebenfalls kein Geschäft zustande und wir einigen uns auf das arithmetische Mittel. Gut gemacht! Ich habe die Tür noch nicht geschlossen, geht es in ziemlich rasanter Fahrt zum Bahnhof – möglicherweise ist der Deal für ihn doch motivierender gewesen als ich vermutete.

Geschafft, das ging nochmal gut und auch der Becher Salat hat seinen Standort auf dem Armaturenbrett behalten und sich nicht auf meine Hose ergossen. Ich lege noch ein gutes Trinkgeld obendrauf, denn ich bin mehr als erleichtert, dass ich rechtzeitig hier bin. Die Abfertigung und das Auffinden meines Wagons gehen flott, auf dem Bahnhof wird noch ein Ständchen gespielt und wie von der usbekischen Eisenbahn gewohnt, rollen wir pünktlich aus Gleis 1 Richtung Chiwa.

Sleeper – das ist die Klasse, die ich gebucht habe und es ist die einzige Klasse, aus der der ganze Zug besteht. Das bedeutet, in jedem Waggon sind ausschließlich Betten und jeder Fahrgast hat sein eigenes Bett. Tagsüber sitzt man üblicherweise gemeinsam unten in den Stockbetten und nachts schläft man oben oder unten in seinem reservierten Bett. Am Kopf eines jeden Waggons, gibt es einen großen Kessel, in dem ständig heißes Wasser bereitsteht. Die meisten Einheimischen haben eigene Teekannen und Tassen dabei und bereiten sich frischen Tee während der Fahrt.
Ich habe ein oberes Bett. Es ist mir ganz willkommen, denn es ist noch früh und ich bin müde. Wie soll ich da oben rauf kommen? Einerseits möchte ich den netten Leuten der unteren Betten nicht mit meinen Füßen auf den Tisch ins Frühstück steigen, nur um in mein oberes Bett zu gelangen und zum anderen möchte ich hier auch keine akrobatische Zirkusnummer abliefern. Ohne meine beiden Armhebernerven, die ich vor zwei Jahren während meiner OP verloren habe, muss ich letzteres ernsthaft befürchten. Egal, gehe ich’s an. Schuhe aus und intuitiv handeln. Subjektiv empfunden mit der Grazie eines betagten Eichhörnchens gelingt mir der Aufstieg auf Anhieb und da niemand klatscht, scheint auch die Haltungsnote akzeptabel gewesen zu sein. Ich bin stolz auf mich. In dieser winzigen Schachtel ist es zwar nicht ganz einfach, sich bequem einzurichten, aber auch das gelingt und ich finde die nächsten Stunden noch verspäteten Schlaf. Derweil ziehen draußen endlose Baumwollfelder an uns vorbei und drinnen ist viel Geplauder. Es kommen Menschen mit Broten und Tee und Süßigkeiten durch die Waggons und ab und zu auch Verkäuferinnen, die selbstgestrickte bunte Socken und Kleidung feilbieten. Bei den Fahrgästen ist diese Abwechslung sehr beliebt und tatsächlich wird auch das eine oder andere Stück verhandelt und gekauft. Ich glaube, dann bin ich eingeschlafen…

 

Nach gut fünf Stunden erreichen wir pünktlich Chiwa. Ich quäle mich wieder aus meinem Bett herunter, schultere meine kleine Tasche und die nun folgende Taxi-Nummer läuft zuverlässig nach dem bekannten Schema ab. Mein Hotel liegt in einer zurückgezogenen Ecke der Altstadt und ist ganz nett. Es ist erst Mittag und so habe ich ausreichend Zeit, mich gleich heute Nachmittag ins Getümmel von Old Chiwa zu werfen. Ich fange erst gar nicht an, mich zu monieren, dass es auch hier erwartungsgemäß völlig überfüllt ist, dass die Touristen sich bisweilen auf peinliche Art amüsieren und alles eher einem Jahrmarkt, denn einer historischen Stadt gleicht. Ein wenig Milderung verschafft, dass viele Gebäude sehr sorgfältig und liebevoll renoviert sind. Insbesondere das unvollendete Minarett Kalta Minor, ein kleiner Höhepunkt, auf den ich mich besonders gefreut habe. Seine Farben glänzen prächtig in der Sonne, und überhaupt, es sind doch im Grunde diese Farben, die die anrührende Schönheit der Moscheen, Iwans, Minarette und Medresen ausmachen. Das ist ja auch nicht verwunderlich, schaut man sich diesen Teil der Erde einmal genauer an. Die meisten Länder des Orients liegen mitten im Altweltlichen Trockengürtel und speziell die Karakum Wüste – an die Usbekistan im Süden grenzt – existiert schon seit der letzten Eiszeit in der Form, wie wir sie heute sehen. Die dominante Farbe ist das Gelbbraun des Sandes soweit das Auge reicht, die Luft ist heiß und staub­beladen, nur wenn der seltene Regen sie klar wäscht, kann man in die Ferne blicken und das kurze Wachstum grüner Vegetation beobachten, bis die sengende Sonne alles lebensspendende Wasser wieder verdunsten lässt. Dass bunte Farben dann eine Wohltat sind, die nicht nur das Auge erfreut, leuchtet wohl jedem ein.

So lasse ich mich mal wieder einfach durch eine neue Stadt treiben und mich bezaubern von den bunten Farben und all den eindrucksvollen Gebäuden. Hier und da klettere ich auf eine Mauer, lausche dem Gesang aus irgendwelchen Moscheen, gerate in einsame Hinterhöfe, und manchmal weiß ich auch nicht mehr so ganz genau, wo ich bin. Dann gehe ich einfach geradeaus, bis ich etwas wiedererkenne. Ich fühle mich wohl und habe längst schon aufgehört, mir all die Namen, Jahreszahlen und Epochen zu merken, es sind einfach zu viele geworden. Und so wie ich mich heute den Straßen und Gassen Chiwas überlassen habe, so überlasse ich Euch einfach den ersten Eindrücken, die ich sammeln konnte.

Der Tag geht zu Ende und ich bin froh, dass mein Hotel in einer schönen, ruhigen Ecke der Altstadt liegt. In dunklen Hinterhofgassen gibt es sogar einen kleinen Supermarkt, wo ich mich ein paar Kleinigkeiten eindecken kann. Hier gibt es auch mein Lieblings-Milchprodukt: кефир. Ich glaube es ist der vierte oder fünfte Liter auf dieser Reise – und mit Sicherheit nicht der letzte. Eine Reisegeschichte schaffe ich noch, dann falle ich um vor Müdigkeit – Gute Nacht!

Sonntag, 5. Oktober 2025

יח ואך – Khei-vakh – Welch leckeres Wasser

Einst fand ein durstiger Karawanenführer in der Wüste einen Brunnen. Er kostete den ersten Becher des wertvollen Wassers, das er aus der Tiefe zog, und rief vor lauter Begeisterung in seiner Muttersprache – was Aramäisch war: „Khei-vakh!“ Um diesen Brunnen herum entstand die Stadt Khiva. Es gibt ihn heute noch, ganz versteckt soll er liegen, in einem schönen Innenhof im Nordwesten von Itschan-Kala, was der Name der historischen, ummauerten Innenstadt von Khiva ist. Ich mache mich auf die Suche. In dieser Ecke der Altstadt ist kaum noch jemand unterwegs, es gibt keine Hinweisschilder oder Anzeichen für einen schönen Innenhof. Die Suche nach dem genauen Ort im Internet liefert nur ungenaue Ortsangaben. Ich finde eine Geschichte mit einem Bild von dem Brunnen. Doch ich kann nicht erkennen, in welchem Umfeld der Brunnen liegt. An einer Straßenecke sitzt unter einem Baum ein alter Mann. Ich zeige ihm das Bild, kann ihm aber keine weiteren Erläuterungen geben oder Fragen stellen, weil ich seine Sprache nicht spreche. Er schaut mich an und sagt laut „Kheivak!“, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit, zu wissen, wo dieser Brunnen ist. Dann nimmt er mich am Arm und bedeutet mir mitzukommen. Nur wenige Häuser weiter zeigt er auf ein Blechtor, ich solle dort hineingehen. Ich bin irritiert. Schöner Innenhof? Das ist eine Baustelle und einen Brunnen sehe ich auch nicht. Mitten im Hof liegt ein dicker Teppich, der etwas abdeckt. Wir ziehen ihn gemeinsam zur Seite und darunter kommt zwar kein hübscher, aber ein typischer Brunnenkragen zum Vorschein. Er ist mit einem Metalldeckel verschlossen und ist wie viele Brunnen dieser Art mit Sicherheit heute noch in Benutzung. Wen wundert es also, dass hier kein pittoreskes historisches Bauwerk zu Tage kommt, sondern einfach nur eine zweckmäßige Einrichtung zur Wasserförderung. Ich bin, trotz des auf den ersten Blick ernüchternden Erscheinungsbildes, von meiner Entdeckung begeistert. Das ist der Brunnen aus der alten überlieferten Geschichte und niemand sonst von all den tausenden Touristen interessiert sich dafür. Ich mache noch ein Foto, wir decken den Brunnen wieder mit dem Teppich zu, dann bedanke ich mich bei dem alten Mann. Ganz in meinen Gedanken versunken, mische ich mich wieder unter die Touristen.

Ein weiteres Kreuz auf meiner Besuchsliste ist die Juma masjid, eine Moschee, die nur auf Holzpfeilern errichtet ist. Doch leider ist sie auch eine Baustelle. Klugerweise hat man hier nur eine Hälfte abgesperrt und renoviert zunächst dort. Die andere Hälfte kann weiterhin von den Touristen besucht werden. Ein Kompromiss. Da das gesamte Ambiente etwas verstaubt ist und unordentlich und auch der Lärm ein bisschen die Ästhetik des Moments stört, konzentriere ich mich auf die wunderschönen Muster in den Holzpfeilern. Jedes ist anders. Manche Pfeiler sind neu. Manche sind uralt. Die ältesten von ihnen tragen schon keine Schnitzarbeiten mehr. Sie sind verwittert, abgewetzt und bestehen eigentlich nur noch aus furchigem Holz. Ich glaube, es wird wieder ein sehr ehrwürdiger Ort, wenn alles fertig ist und Ruhe einkehrt.

Zeit für einen Tee mit Fernblick und wärmende Sonne, denn es weht ein sehr frischer Wüstenwind heute. Der schönste Tisch der Dachterrasse ist frei, ich setze mich schnell, jetzt ist er nicht mehr frei. Ich lasse die herrliche Aussicht auf mich wirken und meine Blicke schweifen unkontrolliert über die alte Wüstenstadt. So vergeht eine ganze Weile, bis die Dämmerung beginnt.

Ich denke, dass ich alles gesehen habe, was ich sehen wollte. Ich habe eine Entdeckung gemacht und finde, es war eine angemessene Zeit in dieser geschichtsträchtigen Stadt an der Seidenstraße. Der Nachmittag geht in den Abend über, zum Dinner esse ich irgendwo ein Lagman – das ist eine Art Nudeleintopf – dann gehe ich über viele Umwege nach Hause, denn ich muss früh schlafen. Morgen ist Reisetag, ich fliege nach Taschkent zurück. Gute Nacht.

Montag, 6. Oktober 2025

Ein Reisetag – Weitsicht und kurzsichtige Betrügereien

Heute ist Reisetag und mein Ziel ist Taschkent. Obwohl ich grundsätzlich lieber Zug fahren würde, habe ich mich für einen Flug entschieden, da die Fahrt mit dem Zug etwa vierzehn Stunden dauert und das ist bei meiner Körpergröße von über eins achtzig in den kurzen Betten eines Sleepers eher qualvoll. Mein Flug vom dreißig Kilometer entfernten Flughafen Urgench geht recht früh, so dass ich um 6:30 Uhr bereits mein Hotel verlassen muss. Damit nicht das gleiche passiert wie vor zwei Tagen, habe ich dieses Mal die sichere Variante gewählt und mir ein etwas teureres Taxi vom Hotel buchen lassen. Das kommt nicht nur zuverlässig, sondern garantiert mir auch eine sorgenfreie Nachtruhe.

So reise ich an diesem frühen Morgen noch vor Sonnenaufgang aus Khiva ab. Die breiten Straßen stadtauswärts sind leer und der orange Horizont kündigt die aufgehende Sonne an. Wir erreichen pünktlich den internationalen Flughafen von Urgench. Das Chaos bei der Abfertigung ist überschaubar und eine Stunde später sitze ich im schicken Flieger der Uzbekistan Airways und wir verlassen Urgench Richtung Osten. Der Flug über das Grenzgebiet von Turkmenistan ist beeindruckend. Hier bildet der Grenzfluss Amudarja große blaue Seen in der beginnenden Karakorum-Wüste. Danach wird es wieder eintönig und der staubige Dunst verschleiert die Sicht. Nach kurzer Zwischenlandung in Buchara und weiteren fünfzig Minuten überfliegen wir den großen Tuzkan See und in der Ferne erhebt sich ganz klein das Hisar-Gebirge mit seinen schneebedeckten Gipfeln. Ich habe definitiv zu wenig Zeit und zu viele Wünsche auf meiner Short-list… Unsere Ankunft am Domestic Terminal in Taschkent ist überpünktlich und mit der Taxifahrt ins Hotel habe ich mein endgültiges Ziel für heute erreicht.

Beim Bezahlen in meiner Unterkunft entsteht wieder die übliche Diskussion mit dem Rezeptionisten. Kreditkarten gehen zufällig heute nicht, trotz mehrerer betriebsbereiter Lesegeräte. US-Dollars in bar sind präferiert, wechseln könne er aber nicht – es tue ihm unendlich leid. Das Wechselgeld gäbe er mir gerne in Landeswährung – zum miserablen Kurs! Ich biete ihm bare Euros an. Ja, auch die nehme er sehr gerne, aber er könne leider auch hier keine glatten zwanzig Euros Wechselgeld herausgeben. Es folgen mehrere dünne Entschuldigungen und fadenscheinige Begründungen für die Wechselgeldmisere, er könne mir das Rückgeld aber in So’m geben – zum miserablen Kurs, siehe oben. Mir reicht’s, ich möchte intelligent beschissen werden und zapfe den ATM vor dem Hotel mit meiner Kreditkarte an – die Gebühren sind minimal – und versorge mich mit So’m. Die Zahlungsvereinbarung der Buchung ist mir einerlei, er bekommt jetzt seinen Stapel Banknoten in Heimatwährung und fertig. Wer seine kurzsichtigen Tricksereien nicht zu Ende denkt, macht halt den schlechteren Deal. Dieser Wechselgeldtrick ist zu alt und zu simpel. Wer darauf noch reinfällt, der kauft auch Rolex-Uhren in den Souks von Marrakesch…

Erfreulicher als solche Amateurbetrügereien ist die Infrastruktur in diesem Bezirk von Taschkent. Es gibt hier mehrere Bildungseinrichtungen und eine ganze Menge kleiner Sprachschulen. Eine deutsche trägt den kreativen Namen "Wunderschön". In den Seitenstraßen reiht sich internationale Gastronomie aneinander, weshalb ich mich noch einmal aufmache in ein bekanntes französisches Bistro, um eine Kleinigkeit zu essen. Interessanterweise sind die Preise in derartigen Locations europäisch und es scheint auch eine Klientel zu geben, die das bezahlen kann. Zum Vergleich, ein Kaffee kostet in nicht touristischen Läden um die 5000 So’m, das sind 35 Cent! Bei Mahlzeiten in gewöhnlichen Restaurants ist das Preisniveau ähnlich. Ich lasse mir mein Abendessen schmecken und mache einen Haken an diesen Reisetag. Der abendliche Spaziergang durch die Rush Hour in den riesigen Straßen tut gut. Die städtebaulichen Dimension sind eher befremdlich. Vier- bis sechsspurige Hauptstraßen ohne Markierung, gesäumt von klotzigen, leuchtreklame-gekrönten Hochhäusern. So etwas kenne ich aus meiner Heimat kaum – es ist einfach zu groß. Das Fazit dieses Reisetages: Ich bin bequem angekommen, viel ist nicht passiert und ich bin müde. Ich werde mich jetzt ausschlafen für den morgigen frühen Start Ins Farg’ona-Tal. Gute Nacht.

Dienstag, 7. Oktober 2025

Ins schöne Farg'ona-Tal

Auf das Frühstück muss ich leider verzichten. Um Viertel nach sieben schon breche ich auf zum Bahnhof, denn mein Zug mit der Nummer 730ФA fährt um 8:10 Uhr. Ich erlaube mir auch heute wieder 1. Klasse zu reisen, das dient meinem persönlichen Wohlbefinden und fördert die Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Fernverkehrs. Die viereinhalbstündige Fahrt kostet umgerechnet 17,28 EUR, heißer Tee ist inklusive. Das wäre doch mal ein in jeder Hinsicht sinnvoller Ansporn für unsere heimische Eisenbahn.

Nicht weit hinter Taschkent beginnen die ersten Berge. Usbekistan hat hier seine engste Stelle und ist eingeschnürt zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Um in das Farg’ona-Tal zu gelangen, muss der Zug die Ausläufer des westlichen Tien Shan Gebirges überqueren. Dazu nutzen sowohl der Straßen- als auch der Zugverkehr den Kamtschik-Pass. Er liegt auf einer Höhe von 2268 Metern über dem Meeresspiegel und ist die einzige direkte Verbindung zwischen der Region Taschkent und dem Farg‘ona-Tal, in dem mein heutiges Ziel Kokand liegt. Bevor wir jedoch in die Berge aufsteigen, passieren wir das Industriegebiet um die Stadt Angren. Das Angren-Becken ist eine der wichtigsten Kohle­lagerstätten in Usbekistan und liefert fast ein Viertel der Braunkohlevorräte Zentralasiens. Die Braunkohle wird hauptsächlich für die Strom­erzeugung in den beiden nahegelegenen Wärmekraftwerken verwendet, dem älteren Angren IES (seit 1957) und dem größeren Novo-Angren IES in Nurabad (seit 1976). Das sieht hier nicht nur aus wie tiefstes Industrialisierungs­zeitalter, das ist tiefstes Industrialisierungs­zeitalter. Und die auf die Zugfenster aufgeklebte schwarze Sonnenschutz­folie, durch die ich hindurch­fotografiere, zaubert ganz unbeabsichtigt auf meine Bilder das passende Finishing.

Mühevoll und nur sehr langsam arbeitet sich unser Zug den Pass hinauf. Zu Beginn ragen steile Bergwände auf, zwischen denen das gesammelte Wasser des Gebirges in breiten mäandernden Rinnen durch ein weites Flussbett gen Westen abgeleitet wird. Die Durchfahrtsweite wird enger, je höher wir den Pass erklimmen. Oben vor den letzten Gipfeln haben chinesische Unternehmen einen 19 km langen Eisenbahntunnel gebohrt, der uns die Durchfahrt auf die andere Seite der Gebirgskette ermöglicht. Das jedenfalls erzählt mir mein Sitznachbar, der sich anscheinend im Metier der Reiseleitung übt. Es eröffnet sich langsam das Farg’ona-Tal. Kleine Dörfer liegen in den Senken der weich geformten Berge, umgeben von grünen Hainen sehen sie aus wie Oasen. Wir fahren jetzt auch wieder schneller, es geht schließlich bergab. Mit dem letzten Zwischenhalt in der Kleinstadt mit dem lustigen Namen Pop, haben wir die Sohle der Tiefebene erreicht. Ich bekomme noch einen heißen Zitronentee serviert und die nächste Station ist dann auch schon mein heutiges Ziel Kokand. Die Neubaugebiete der Vorstadt von Kokand sind das Erste, womit wir willkommen geheißen werden. Beim Anblick der seelenlosen Betonsilos bin ich schon etwas erschreckt und bange ein wenig um das schöne Umland, das wir soeben durchfahren haben. Mal sehen, was es damit auf sich hat, dass der Beiname Kokands „Perle des Farg’ona-Tals“ ist.

Da fällt mir siedend heiß ein, dass ich noch gar kein Hotel gebucht habe. Dann aber flott! Ein schneller Blick in die gängige Buchungs-App, noch bevor der Zug hält und die erst beste Unterkunft im Zentrum ist meine. Gleich noch ein Taxi hinterherbestellt und ich werde, nachdem wir glücklich angekommen sind, auch prompt auf dem Bahnhofsvorplatz von einem freundlichen Taxifahrer abgeholt. Der fragt mich als erstes, wo ich herkomme, dann begrüßte er mich auf Deutsch, ich erwidere ebenso freundlich auf Deutsch, wir fahren los. Das zweite, was er sagt, ist: „BMW deutsch product – gut!“ Ich zucke mit den Achseln: „Yes, it‘s a car brand.“ Das dritte, was er sagt, ist: „I know Hitler. I like him.“ Mir platzt der Kragen und mit deutlich erhöhter Phonzahl gebe ich ihm unter anderem zu verstehen, dass er ein ahnungsloser Vollidiot ist. Ich frage ihn, was er denke, wie lange er mit seiner Hautfarbe damals überlebt hätte. Die Stimmung kippt und die Fahrt ist hier für mich zu Ende. Er bekommt nicht einen So’m mehr als ich ihm schulde – kostet eh nur 70 Cent – den Rest gehe ich zu Fuß, ist nicht mehr weit. Rating in der App, null Punkte!

Das Universum tröstet mich mit einem unerwartet guten Hotel. Herzlich netter Rezeptionist, early-Check-in, Upgrade auf besseres Zimmer – puh, das tut gut. Flott frisch machen, ein paar Reisebilder aus dem Zug bearbeiten, dann drehe ich noch eine kleine Runde durch den Stadtpark mit dem Palast des Xudayar Khan. Eines der schönsten historischen Gebäude der Stadt. Um geschichtliche Einzelheiten kümmere ich mich morgen – heute möchte ich nur mal gucken. Ich bin hin und weg von den Farben der Fassade. Was für eine Begrüßung.

Jetzt noch schnell in den Mini-Markt am Straßenrand, um was zu tun? Richtig! Um Kefir zu kaufen, es müsste mittlerweile der sechste Liter sein auf dieser Reise. Der witzige Inhaber des Lädchens spricht mich auf Deutsch an. Nein, jetzt bitte nicht die nächste Nummer. Alles gut, es passiert nichts. Er freut sich einfach, seine Deutschkenntnisse anzuwenden und erzählt mir, dass er es in der Schule gelernt hat und in einer Sprachschule war. Bei den Jahreszahlen verhaspelt er sich, die kann er nicht mehr. Taschenrechner her und eintippen. Pfiffig! 1985 war es, als er Deutsch lernte. Das lief noch brav unter dem DDR Freundschafts­pflege­programm mit der UdSSR, denn vor 1991 war Usbekistan bekanntlich russische Provinz. Das Geschäftliche wickeln wir auch auf Deutsch ab, in den Laden gehe ich morgen wieder. Mein Abendessen lasse ich mir aus dem Imbiss an der Ecke aufs Zimmer bringen, das scheint hier üblich zu sein. Heute ist Luxustag! Und das Schönste zum Schluss, ich bin endlich mit meinen kleinen Reiseberichten und Geschichten in time – drei Tage bevor ich nach Hause zurückkehre.

Dann gute Nacht für heute!

Mittwoch, 8. Oktober 2025

Keramik und gelebte Achtsamkeit

Schon gestern Abend habe ich mir den Palast von Xudayar Khan angesehen, und heute Morgen tue ich dasselbe noch einmal – diesmal im wunderbaren Morgenlicht. Die Fassade wird sanft beleuchtet, und der Glanz der Keramik ist umwerfend. Es ist das Glanzstück des Khans, und es überrascht nicht, dass er für seinen Luxus und seine Selbstherrlichkeit bekannt war – Eigenschaften, die ihm viel Unmut in der Bevölkerung einbrachten.

Seine Regentschaft war wechselhaft. Ich habe darüber gelesen, allerdings nicht bis zum Ende: Politik, Intrigen, Machtspiele – und am Schluss gehörte alles Russland. Das war Ende des 19. Jahrhunderts.

Dieses Prinzip zieht sich durch alle Kapitel meines Reiseführers. Es langweilt mich, und wenn ich die Gegenwart betrachte, scheint sich daran nicht das Geringste geändert zu haben. Heute allerdings macht mir dieser Gedanke eher Sorge, denn es steht zu befürchten, dass sich diese Mechanismen weder verändern noch die Menschen klüger werden – klug genug, um mit emergenter Intelligenz solche historisch fatalen Entwicklungen künftig zu verhindern. Aber das ist ein anderes Thema.

Mich interessiert vielmehr, warum Menschen wie Xudayar Khan – und das gilt für alle anderen Machthaber gleichermaßen –, die durch und durch eitel-machtbesessen und von autokratischen Wertegefügen geprägt sind, dennoch fähig waren, Dinge von solcher Schönheit hervorzubringen, wie in diesem Fall den Palast von Kokand. Ein spannendes Thema, das sich fast archetypisch durch die Menschheits- und Kulturgeschichte unserer Welt zieht.

Ich verbringe viel Zeit im Palast, der mit seinen zahlreichen Innenhöfen, Nebenräumen und Nischen eine angenehme Ruhe ausstrahlt und zum Müßiggang einlädt. Tapchans bieten Platz zum Ausruhen und auch alte Granatapfelbäume wachsen hier. Sie verleihen dem ganzen Erscheinungsbild sogar einen Hauch von Romantik. In der persischen Mythologie steht der Granatapfel für Fruchtbarkeit, Schönheit und ewiges Leben. Vielleicht ist es ja genau das, was Xudayar sich im Innersten wünschte.

Die Sonne hat ihren Zenit schon überschritten, als mich der Palast wieder in das Treiben von Kokand entlässt. Ich frage mich bei Polizisten und Taxifahrern durch, wie ich am besten – und preiswert – nach Rishtan komme. Am liebsten mit einem Sammeltaxi oder Bus. Ein hilfreicher Taxifahrer bringt mich in einen geschäftigen Außenbezirk, hier tummeln sich Taxis, Sammeltaxis und Busse. Die Menschen sind beladen mit Warenkörben, Kisten und Säcken, die sie in unterschiedlichste Fahrzeuge laden, um sie nach Hause oder sonst wohin zu schaffen. Mein Taxifahrer weiß, mit welchen Leuten er sprechen muss. Aus irgendwelchen Ecken kommen immer wieder irgendwelche wichtigen oder unwichtigen Menschen, was sie sprechen, kann ich nicht verstehen, aber wie üblich entsteht dann zunächst ein größerer Tumult und am Ende zeigt mir jemand seinen Taschenrechner mit dem Preis für die Fahrt. Erstaunlicherweise ist das ein sehr guter und fairer Preis, den ich mit meiner Taxi-App nicht hätte unterbieten können. Ich schlage ein und für umgerechnet 8,25 EUR werde ich in einem komfortablen Taxi ins vierzig Kilometer entfernte Rishtan chauffiert. Mein Ziel ist das „International Ceramics Center" der Fergana Region. Es ist weit mehr als ein Ort zum Kauf bunter Teller. Es ist ein lebendiges Handwerksdorf, in dem Meistertöpfer arbeiten, leben und ihr Wissen an junge Generationen weitergeben. Werkstätten, kleine Ausstellungen und Gästehäuser verschmelzen hier zu einem offenen Atelier, das Einblick in Jahrhunderte alter Handwerkskunst gewährt. Besucher erleben nicht bloß Kunsthandwerk, sondern eine Kultur des Gestaltens – Ton, Glasur und Feuer als Ausdruck gemeinsamer Identität. Das Zentrum steht für den Wandel Rishtans: vom stillen Handwerkerort zu einem inspirierenden Treffpunkt von Tradition, Innovation und gelebter Gastfreundschaft. So schreiben es die offiziellen Seiten.

Es ist menschenleer hier, dennoch sind alle Ateliers geöffnet. In manchen begegne ich den Menschen, die hier arbeiten, andere sind einfach unbesetzt und ich kann in aller Ruhe die filigrane Kunstfertigkeit bewundern, die u.a. auf Tellern, Schalen, Trinkgefäßen und Vasen in Perfektion präsentiert ist. Ich reise nur mit einer kleinen Tasche – das erwähnte ich ganz zu Anfang. Und dieser ist ein Moment, in dem ich das bedaure. Ich weiß nicht, wie ich größere dieser Kunstwerke sicher nach Hause transportieren sollte, denn ich würde mein Handgepäck hoffnungslos überladen. Ein Dilemma und Gepäckaufgabe ist verständlicherweise keine Option. Aber zunächst bin ich nur geblendet von der Schönheit und der kulturellen Authentizität der Stücke. Mit manchen Künstlerinnen komme ich – soweit das möglich ist – ins Gespräch. Sie sind sehr freundlich, aber irgendwie alle still und tief in ihrer Arbeit versunken, weshalb ich mich mit Fotos bewusst zurückhalte. Ich verliere mich in Ornamentik, Farben und Formen. Auch wenn mich einige Stücke von ihrer Gestaltung, ihren Farben oder ihrer Form nicht ansprechen, so bleibt doch ihre sichtbare Kunstfertigkeit, mit der sie geschaffen wurden, eine Augenweide. Am Ende suche ich mir ein paar kleine Stücke für zu Hause aus. Ja, es sind touristische Souvenirs, da kann ich mich nicht rausreden – für die Meisterwerke muss ich wohl nochmal mit einem Lieferwagen herkommen –, aber sie werden nützliche Gebrauchsgegenstände in meinem Alltag werden, über die ich mich täglich freuen kann und die auch den Zweck erfüllen, für den sie geschaffen wurden. Die Preise, das sei an dieser Stelle auch zu erwähnen, sind wie alles in Usbekistan beschämend gering für reiche Europäer. Ich feilsche um Cent-Beträge, um nicht überheblich zu wirken, wenn ich die Kohle nur hinblättere, als bezahlte ich nicht mehr als ein Parkticket in den heimatlichen Metropolen – denn mehr kosten die kleineren Schmuckstücke hier nicht. Und nach dem Geschäftlichen setze ich mich mit meinen bescheidenen Einkäufen noch ein wenig in die warme Sonne, dann mache ich mich auf den Heimweg.

Es gibt keine Verfügbarkeiten in meiner Taxi-App. Ich muss über mich selbst lachen, dass ich jetzt möglicherweise in eine Tourifalle getappt bin: den Hinweg geschafft, aber den Rückweg nicht organisiert und damit Wucherpreisen ausgeliefert. Nein, so ist das nicht, denn trotz der gelegentlichen Versuche – speziell im Taxi-Gewerbe – utopische Preise zu erzielen, sind die Usbeken sehr fair und auch stolz auf ihre Arbeit. Ich hatte schon Fahrer, die angemessene Trinkgelder kategorisch abgelehnt haben. Also, ich brauche jetzt einen Busbahnhof oder die Information, wie ich am einfachsten zurück nach Kokand gelange. Auf der anderen Straßenseite ist ein Hotel, vielleicht sprechen die ja Englisch dort. Fehlanzeige, aber geht auch so. Es genügen zwei usbekische Worte und eine Geste meinerseits, um dem freundlichen Mann an der Rezeption meinen Wunsch zu erläutern: „Avtobus“ und „Qo’qon“. Erstes Wort versteht jeder, das zweite ist Usbekisch für mein Ziel: die Stadt Kokand. Die Geste ist das Reiben von Daumen und Mittelfinger – klar, das versteht auch jeder. Der Mann nickt beruhigend und beginnt sofort engagiert zu telefonieren, seine Frau mit Baby auf dem Arm kommt dazu und stellt mir einen kleinen Sessel nach draußen, ich solle mich doch setzen! Und genau das sind die entscheidenden Momente, in denen es nichts auf der Welt gibt, was mich mehr an Respekt und Menschlichkeit spüren ließe als diese Form gelebter Achtsamkeit. Und sie zu erwidern ist keine Pflicht, sondern eine Freude. Dann kommt – ihr ahnt es schon – der Taschenrechner mit dem Preis. Und zum zweiten Mal heute, mehr als angemessen und mit den Mindestpreisen der oft erwähnten App nicht zu unterbieten. Der Mann macht den Deal klar und in wenigen Minuten ist der Fahrer vor Ort. Ich stelle den Sessel wieder ins Foyer und bedanke mich herzlich bei Mann und Frau. Auf Usbekisch heißt das „Rahmat!“, meinen Mangel an Sprachkenntnis ersetze ich durch Gesten.

Wir fahren los. Die Fahrt ist geprägt von angenehmer, wortloser Freundlichkeit, im Multifunktionsdisplay läuft ein grauenhafter Andre Rieu-Verschnitt mit Mozartvarianten und Sonnenuntergang am Meer und der Kutscher fährt wie eine Wildsau – aber gut. So bin ich flott wieder zu Hause, bezahle den Fahrer wie abgemacht und wir wünschen uns gegenseitig noch einen schönen Abend.

Der Rest ist entspannter Tagesausklang und für die Premiere meines Keramikbechers habe ich noch ein paar Beutel Tee auf dem Zimmer… Was für ein schöner Tag.

Donnerstag, 09. Oktober 2025

The long way home…

Es ist der letzte Tag in Kokand und es ist auch der letzte Reisetag. Mein Zug geht erst am Nachmittag, so dass ich den Vormittag noch für mich habe. Das Hotel ist sehr entgegenkommend und erlaubt mir einen späten Check-out. Das heißt ausgiebiges spätes Frühstück und da ich keine größeren Besichtigungen mehr auf dem Programm habe, bleibt Zeit genug, meine Reisegeschichten fertigschreiben und redigieren zu können. Packen muss ich auch noch, und zwar flugtauglich, denn ich werde spät heute Abend in Taschkent ankommen und die Nacht wird kurz. Da ist mir jede Minute Schlaf heilig.

Ich mache es mir also an meinem Schreibtisch  bequem, Tee und Gebäck vom Frühstück habe mitgenommen, draußen ist es eh bedeckt.

Die nächsten Stunden sind gefüllt von Lesen, Schreiben, Korrigieren, dem Prüfen von Orthographie, Grammatik, Semantik und Chronologie, vom Quellencheck, Faktenabgleich und dem Glätten ungeschickter, holpriger Stellen. Am Ende liest sich alles schon viel geschmeidiger – so gefällt mir das.

Die Kekse sind weg, der Tee ist ausgetrunken, Tasche ist soweit abreisefertig. Als letztes noch mein Laptop verstauen und nach der obligatorischen Zimmer­kontrolle bin ich verschwunden.

Am Bahnhof schafft die wärmende Sonne es doch noch durch den Dunst, was für ein schönes Licht. Einige versprengte Fahrgäste warten schon, ansonsten ist es hier sehr überschaubar. So viele Züge fahren am Tag nicht. Etwas nachdenklich schaue ich auf die großen Lettern auf dem Bahnhofsgebäude: Qo’qon – als wollten sie sich für immer einen Platz in meiner Erinnerung sichern. Es ist die letzte Station dieser Reise.

Der Zug fährt ein – derselbe wie auf der Hinreise – und ich sitze tatsächlich im selben Waggon auf demselben Platz. Unter lautem Ruckeln fahren wir ohne lange Verzögerung los. Unterwegs passiert nicht viel und auch die schöne Aussicht aus dem Fenster wie auf dem Hinweg gibt es nicht, denn es dämmert schon und die schwarzen Folien auf den Scheiben lassen bestenfalls noch die untergehende Sonne durch. Dann wird es dunkel.

Heißen Tee trinken, ein Häppchen verspeisen und die Stunden wegdösen sind meine Hauptbeschäftigungen. Mir ist langweilig und bei der zu kalten Klimaanlage beginnt zudem meine Nase zu laufen. Durchhalten!

Vier Stunden sind zäh vergangen, jetzt noch gute zwanzig Minuten zu fahren und es wird höchste Zeit, dass wir in Taschkent ankommen. Taxi – Hotel – Suppe im Restaurant nebenan und ab ins Bett. Ich stelle mir vier Wecker, damit ich meinen Aufbruch zum Flughafen um 4:00 Uhr nicht verschlafe. Gute Nacht!

Freitag, 10. Oktober 2025

Die Reise ist zu Ende

 

Wie schön, wenn ich am Ende dieser Reise 
dankbar und auf meine Weise
– so ganz im Stillen, nur für mich –,
den letzten leisen Punkt kann setzen
und den letzten Federstrich.
 Kann mich wahrlich glücklich schätzen, 
was die Welt für mich bereithielt zu erleben
und bereit war, mir davon zu geben.

 

Heute Morgen noch vor vier Uhr mache ich mich allein zu Fuß zum Flughafen auf.
Was für eine Stimmung – was für ein  Bild. Auf Wiedersehen, schönes und spannendes Usbekistan!

 

Die Reise ist zu Ende.