Eine Frühlingsreise ins Fjäll
🇸🇪 Schweden
Donnerstag 21. Mai 2020
Warnemünde
Die Reise in den Kaukasus ist ja dieses Jahr leider geplatzt. Fahren wir halt woanders hin. Distanz, selbstverständlich. Quarantäne, gewährleistet. Natur pur. Zur Begrüßung kamen die Rentiere vors Fenster. Und Corona in Flaschen haben wir dabei... Also auf nach Warnemünde, mit der Fähre nach Trelleborg und dann immer Richtung Norden.
Mittwoch 27. Mai 2020
Vemdalen
Es sind angenehme fünfzehn Grad, der Himmel ist überwiegend blau und die Maisonne wärmt schon recht ordentlich. Hier auf dem 62. Breitengrad liegt zu dieser Jahreszeit ab 500m noch Schnee und Tourenski ist immer noch der Wochenendsport Nummer eins bei den Schweden. Weiter unten wandern wir schon in der Frühlingssonne durch die endlosen borealen Berg-Nadelwälder mit ihrer üppigen Bodenbedeckung aus Beerensträuchern, Moosen und bunten Flechten. Das Schmelzwasser vom Fjäll füllt die Sümpfe, was viele Wege völlig unpassierbar macht und die Tierwelt bricht auf in den kurzen nordischen Sommer. Die einzigen zügig begehbaren Wege sind die kleinen unbefahrenen Schotterstraßen, die in die Berge führen, oder einzelne Snowmobiltracks, die ganz gut durch die typischen, quer liegenden roten Kreuze gekennzeichnet sind. Abseits der Wege geht man sanften Schrittes wie auf dicken Matratzen und schaut zwischen den Bäumen gelegentlich über die endlosen Weiten Mittelschwedens. Zwischen den blätterlosen Birken und hohen Fichten ruhen eindrucksvoll riesige Felsbrocken aus der letzten Eiszeit, die mit ihrem Flechtenbewuchs wie bemalt aussehen. Gelb, orange, rot, grün, weiß, grau, in allen Farben lassen sich diese Zwitterwesen aus Pilz und Alge finden, die bei näherer Betrachtung gar nicht so „armselig“ sind wie Carl von Linné sie einst bezeichnete.
Bei näherer Betrachtung nämlich lässt sich ihre komplexe Struktur und faszinierende Gestalt bestaunen. Eine Lupe ist hier sehr hilfreich. Mit genügend Ausdauer und Kondition erreicht man die Region der Krüppelgewächse und Zwergsträucher, hier beginnt das Fjäll, eine einzigartige Vegetationszone Fennoskandinaviens. Sie beginnt je nach Breitengrad irgendwo bei 500 Höhenmetern und reicht hinauf bis auf die Gipfel der 2000er. Zu dieser Jahreszeit ist fast alles noch schneebedeckt und noch nicht wirklich wanderbar. Aber auch die niedriger gelegenen Regionen sind bei diesem wunderbaren Frühlingswetter ein herrliches Naturerlebnis. Die Bäume sind voller Knospen, es herrscht Ruhe zwischen der Skisaison und dem schwedischen Sommer und Corona tut das Übrige, so dass wir die Natur hier völlig ungestört genießen können. Die Abende reichen bis weit in die Nacht, die Holzofensauna verwöhnt uns an den kühleren Tagen und die Rentiere, Rehe und Nachbars Rinder besuchen unseren Garten allabendlich. Elche? Nein, Elche waren noch keine da, wir haben noch Hoffnung! Aber solange die Mücken sich noch etwas Zeit lassen mit dem Schlüpfen, sehen wir auch ohne die Großhirsche ein paar wunderbaren Wochen entgegen.
Dienstag 2. Juni 2020
Sönfjället, Vemdalen
Eigentlich ist die Gegend um Vemdalen ja ein Skizentrum, mit Pisten, Liften, bunten Lifestyle Shops, Wohnbatterien für die Massenhaltung von Touristen und allem, was zum Wintersportkonsum dazugehört. Hier werden die gleichen Fehler, die man in den Alpenländern gemacht hat, akribisch reproduziert und in fünfzehn Jahren haben wir wahrscheinlich die gleichen Schäden wie in Saalbach, St. Anton oder Kitzbühl zu beklagen. Dennoch ist es erstaunlich, wieviel Ruhe und Natur man hier im Frühling finden kann, wenn die ganze Kirmes geschlossen hat. Wenige Minuten Fußweg hinter dem letzten Parkplatz beginnen die Skiwanderwege, die sich ohne Schnee in sehr schöne Wald und Fjällwanderwege verwandeln. Es ist menschenleer, was vielleicht auch auf Corona zurückzuführen ist, und das Wetter Ende Mai ist prächtig. Die Sonne scheint an wolkenfreien Tagen bereits 19(!) Stunden. Innerhalb von zehn Tagen sind alle Birken gesprießt und bereichern die Wälder mit ihrem hellen, frischen Grün. Von Björnrike aus – das ist eines der Trabantendörfer – geht es über die blaue Skiwanderpiste am Hang entlang. Der Weg ist verschlungen und führt leicht rauf und runter über weichen Boden, zwischen hohem Tannen- und Birkenbewuchs hindurch. Dann hört der Wald auf und wir befinden uns mitten in einem plätschernden Schmelzwasserbach, der normalerweise ein Wanderweg ist. Doch mit etwas Trittsicherheit und Geschick gelangt man auch trockenen Fußes hindurch nach oben. Vor ein paar Tagen waren wir auf dem westlich gelegenen Högfjället, heute geht’s in Richtung Osten zur Björnriksstugan und dann weiter hinauf bis wir über den Gråhågna hinwegblicken können.
Von hieraus erstreckt sich eine baumlose Geröllebene bis weit nach Fjällgården und im Hintergrund ruht noch schneebedeckt der kleine Klövsjöfjällen. Die Ruhe auf dem Sattel ist beeindruckend, es ist windstill und warm. Wir nehmen uns die Zeit, unsere Blicke in die Ferne schweifen zu lassen, wir genießen die Einsamkeit und atmen die frische Bergluft. Bis auf ein paar Rentieren sind wir den ganzen Nachmittag keinem Lebewesen begegnet. So kann es bleiben. Frühling im Fjäll.
Freitag 5. Juni 2020
Vemhån, Jämtlands Län
Eigentlich sollte es heute nicht ganz so viel werden. Mit der Strecke meine ich. Am Ende waren’s dann 18,2 km. Landschaftlich und was den Fernblick anging war es auch nicht ganz so spektakulär wie in den letzten Tagen „oben“ im Fjäll. Doch wandertechnisch ein echtes Highlight. Nun, die Wege sind laut topografischer Wanderkarte zwar als „schlechtere private Autostraße“ ausgewiesen, aber Menschen und Autos gibt es hier keine. Selbst mit unserem „Jimmy“, dem 200 PS Offroader vom letzten Jahr in Australien, wären wir nicht überall durchgekommen. Die Böden waren noch weich vom vorgestrigen Regen, die Sonne schien und es ging ein angenehm frischer Wind. Eine Wohltat für Füße und Körper. Und es war genügend Zeit, die kleinen Dinge zu betrachten. All die blühenden Moose, die unterschiedlichsten Blumen überall dort, wo Wasser fließt, ungezählte bunte Flechten, frisches Grün an allen Bäumen und auch die ein oder andere fette Hummel begleitete uns zeitweise. Alles in der Natur beeilt sich dieser Tage, der Frühling kommt hier in Mittelschweden spät und schnell. Dann allerdings mit sprunghaften Temperaturanstiegen von bis zu 20°C innerhalb weniger Tage. Wir folgten vielen Rentier- und einer Menge anderen nicht bestimmbaren Wildspuren. Manche waren sehr frisch, andere vielleicht schon Wochen alt. Wie gesagt, hier kommt kaum jemand entlang, hier ist niemand und nichts. Kein Flugzeug, keine Zivilisationsgeräusche, einfach nichts außer unsere eigenen Schritte und unser Atem. Und kurz vor Ende der Tour gab es dann noch eine ganz besondere Spur im Sand, deren Verursacher ich schon gerne gesehen hätte... wobei gesehen völlig gereicht hätte! Ein schöner Tag heute.
Dienstag 9. Juni 2020
Vemhån, Jämtlands Län
Es hat die letzten Tage geregnet und die sonst harte und filzig-kratzige echte Rentierflechte (Cladonia rangiferina) hat sich vollgesaugt mit Wasser. Jetzt ist sie seidenweich und geschmeidig. Sie ist essbar, schmeckt für den Menschen aber bitter. Für die Rentiere ist sie die überlebenswichtige Grundnahrung im Winter, die sie selbst unter meterdickem Schnee aufspüren und mühsam ausgraben. Heute schien die Sonne erstmalig wieder länger durch den Tag und Nacht grauen Himmel der letzten Tage und unzweifelhaft ließ sie ahnen, dass das Wetter morgen besser wird. Der Abend war erfüllt mit einem stundenlangen Sonnenuntergang und dem leisen Knistern des Kamins. Ja, richtig, Kamin! Hier sind es 6°C! Der stille See vor unserem Haus hat den gewohnten Nebel heute ausgelassen und spiegelt die Farben des Himmels auf eindrucksvolle Weise wider. Gerade hat der Kuckuck seine nervtötende Endlosschleife für die Nacht angestimmt, das Feuer im Kamin ist ausgebrannt und ich werde jetzt auch schlafen gehen. Morgen ist wieder Sommer.
Montag 15. Juni 2020
Kvarnforsen, Jönköpings Län
Jämtsland liegt schon recht weit im Norden Skandinaviens. Die Landschaft ist so riesengroß, so einzigartig und so faszinierend. Unspektakulär für diejenigen, die die kleinen Dinge nicht sehen. Eine unerschöpfliche Freude für alle anderen. Führt man sich allein nur mal diese unglaubliche Anstrengung der gesamten Vegetation und Tierwelt vor Augen, mit diesem kurzen Sommer auszukommen. In der Zeit von Ende Mai bis Mitte August muss der jährliche Evolutionsjob erledigt sein! Beispielsweise kam bis in die letzten Maitage allabendlich eine hochträchtige Ricke in unseren Garten, um in Ruhe das frische Gras und die jungen Triebe der Büsche zu fressen. Seit den ersten Junitagen kam sie dann nicht mehr... Tja, warum wohl? Die Nächte waren jetzt frostfrei und die Tage schon warm genug für den Nachwuchs, das Licht der Welt zu entdecken. Es ist höchste Zeit! In gut 12 Wochen muss das Kitz fit für den nächsten Herbst und Winter sein. Auf geht’s! Viel Erfolg!
Hach, und gestern machten wir uns dann schweren Herzens wieder auf in den Süden des Königreiches. Ade wilde Flüsse, blaue Seen, bunte Moose, Beerenfelder, trottelige Rentiere, karstiges Fjäll und Sommerland ohne Dunkelheit... Es dauert eine ganze Tagesreise von der Grenzprovinz zu Lappland bis hinunter in den Süden. Nach Småland, was „kleines Land“ auf Deutsch heißt. Allerdings rührt der Name nicht daher, dass diese Provinz etwa eine kleine Fläche hätte, das würde auch nicht stimmen. Nein, Småland ist ein historischer Zusammenschluss aus vielen unterschiedlichen, „kleinen“ Verwaltungsbezirken, weshalb auch die lokalen kulturellen Unterschiede in keinem anderen „Län“ Schwedens größer sind. Weiter berichtet man, dass es hier im Süden die meisten Elche gibt! Wir sind voller Hoffnung, immerhin steht eine Begegnung mit dem populären Großhirsch in freier Wildbahn noch aus. Wir werden im Erfolgsfall umgehend berichten... Ansonsten empfing uns die Gegend weniger hügelig, landwirtschaftlich erschlossener und mit sehr viel frischem Bodengrün, das im Gegensatz zur Fjäll-Vegetation gewöhnlich mehr als Kniehöhe erreicht. Auch die Temperaturen waren richtig sommerlich, weshalb wir mit unserer nordischen „Übergangsbekleidung“ sehr leicht als lustige Weicheier aus Mitteleuropa identifiziert wurden. Der hier ansässige, winterharte Schwede läuft nämlich als Perma-Bewohner dieser Klimazone ab 18°C nur noch schwitzend in Bade- oder Turnhose herum. Bereits braungebrannt versteht sich. Also werden wir es ab sofort ebenso „schwedischer“ angehen: Alle Türen und Fenster unserer Holzhütte werden offen sein, wir werden nur noch draußen leben, nur noch barfuß herumlaufen und intensiv in den Wäldern nach den o.g. sagenhaften Elchen suchen...