Wälder, Dünen, Mythen
🇱🇻🇪🇪🇱🇹 Baltic-Tour
Das Baltikum. Irgendwie unbekannt, wenig prominent, leise. Vielleicht ist es das, was mich an den drei Ländern reizt. Lettland, Estland und Litauen. In dieser Reihenfolge besuche ich die ehemaligen Sowjetrepubliken für drei Wochen. Ich entdecke tolle Wälder und Dünenlandschaften, einsame Seen, pittoreske Städtchen und nicht wenige Mythen, die mich ehrlich gesagt am meisten neugierig machen. Auf der Kurischen Nehrung besuche ich den Schaffensort keines Geringeren als Thomas Mann, der sich einst hierher zurückzog, um einen kontemplativen und kreativen Ort zu finden, an dem er arbeiten konnte. Zunächst geht's nach Stockholm und von dort aus auf direktem Wege mit dem Schiff nach Ventspils (Windau) in Lettland.
Samstag, 24. Mai 2025
Sonnige Anreise und wie ein Stadttor Glücksgefühle weckt
Die ersten Tage einer Reise sind naturgemäß oft reine Anreisetage. Man verlässt sein Zuhause, hat oft zu viel Gepäck dabei und kommt dennoch nicht von der Sorge los, etwas vergessen zu haben. Und dann, ja dann lässt man mit jedem Kilometer langsam den Alltag hinter sich. Wie kleine Steinchen aus einer Mauer bröckeln und sie bis zum Einsturz bringen können, fallen die Alltragssorgen auch aus meiner Festungsmauer der Komfortzone – bis auch sie einstürzt und die Sicht auf das wahre Leben freigibt.
Meine Anreise nach Travemünde besteht heute aus gut dreihundert Kilometern, die meinen Alltag zerfallen lassen sollen. Da ich wegen des drohenden Regens am Nachmittag, früher losgefahren bin als nötig, hatte ich viel Zeit. Warum nicht ein Abstecher nach Lübeck? Dort war ich noch nie. Die Sonne scheint und der Umweg ist nicht der Rede wert. Schon von weitem begrüßen mich die vielen spitzen Kirchtürme, die über den roten Backsteinbauten der Altstadt herausragen. Noch über die Puppenbrücke, die den Stadtgraben überspannt und das berühmte Holstentor präsentiert sich stolz in seinem eindrucksvollen Backsteinrot. Ich bin spontan beeindruckt und ein auffällig bekanntes Glücksgefühl erfüllt mein Herz. Was ist das? Woher kenne ich das? Und wieso erzeugt ein Gebäude – wenn auch ein außergewöhnliches – ein Glücksgefühl?
Ein Parkplatz für Bienchen ist schnell gefunden, es ist erfreulich wenig Besucherverkehr hier. Die kleine Parkanlage mit ihren Wiesen vor dem imposanten Stadttor ist Spielplatz für Kinder, Menschen sitzen im Schneidersitz auf dem Rasen und plaudern oder amüsieren sich und die weißen Bänke rechts und links werden gerne von älteren Menschen besetzt, die Entspannung und vielleicht einen Pausensitzplatz suchen. Wie einladend und menschlich dieser Ort doch wirkt, wenn nichts verboten oder reglementiert ist. Dieser Ort gehört ganz offensichtlich den Bürgern und Gästen Lübecks. Es gefällt mir außerordentlich gut.
Nun, da ist ja noch dieses Glücksgefühl. Es lässt mir keine Ruhe, woher ich das kenne und warum zweifelsfrei der Anblick dieses Wahrzeichens es auslöst. Am treffendsten lässt es sich dadurch beschreiben, dass ich mich reich fühle. Als sei ich plötzlich zu großem Reichtum gekommen. Als schenke mir jemand großzügig Geld. Vielleicht eine Goldmünze oder noch besser einen großen Geldschein. Zudem kommt dieses Gefühl noch aus meiner Kindheit – es ist eindeutig diese kindliche Freude darüber, welche maßlosen Mengen an Weingummis, Wassereis und Lakritze man sich dafür am Büdchen (ich bin im Pott aufgewachsen) kaufen kann.
Doch was kommt heraus wenn ich die Assoziationen zusammenfasse: Ein mittelalterliches Stadttor, ein großer Geldschein und erfüllte Kinderwünsche?
Ich wähle eine der weißen Bänke in der Sonne und genieße das nette Treiben im Park, während ich immer wieder neu Bilder kombiniere, die zu den Assoziationen passen. So, als ob ich ein gesperrtes Zahlenschloss Ziffer für Ziffer verstelle, bis die korrekte Zahlenfolge den Verschluss aufspringen lässt. Und ganz plötzlich habe ich das richtige Bild gefunden und damit des Rätsels Lösung: Mein Onkel schenkt mir zum Geburtstag fünfzig Mark! Ich bin jetzt Besitzer einer dieser begehrten, großen braunen Banknoten. Ich muss unweigerlich lachen. Ein witziger Spaß irgendeiner lange vergessenen Hirnwindung und was bleibt mir jetzt anderes übrig, als mir auch die Freude des Konsums zu machen. Nein, nicht für Weingummis, sondern für eine sehr leckere Ramen beim Koreaner auf der Altstadtpromenade. Herrlich!
Satt – und immer noch glücklich – mache ich mich auf zum Hafen von Travemünde, zum Skandinavienkai. Wie immer an der endlosen Lkw-Schlange und den Pkws vorbei bis vorne zum Gate. Dorthin wo die ganzen anderen Biker schon stehen und aufs Boarding warten. Die Zeit wird mit Reise- und Benzingesprächen überbrückt und geht es ganz schnell. Wir rollen in den tiefen Schiffsschlund, Mopeds verzurren, Kabine suchen, duschen, Bier und in die Koje. Ich freue mich auf eine erholsame Überfahrt nach Trelleborg und meine Träume für diese Nacht dürften feststehen.
Sonntag, 25. Mai 2025
Dem Regen entkommen
Habe ich herrlich geschlafen! Jetzt geht die Anreise durch Schweden weiter. Und die ist heute bis Linköping geplant. Dort werde ich übernachten, weil ich mir morgen früh die schönste Schleuse des Göta-Kanal ansehen möchte.
Unser Schiff legt erst um 9:15 Uhr in Trelleborg an, da bleibt noch Zeit für ein gemütliches Frühstück. Auf Schwedisch heißt das Frukost und es hat nichts mit dem deutschen "froh" zu tun, sondern mit "früh". Froh wäre auch unpassend, denn der Spaß kostet satte 16,50 EUR für Durchschnitt mit Selfservice. Aber wer nach Schweden reist, sollte nicht auf die Preise schauen und vorher gespart haben. Nach ISO-4217 wird die Schwedische Krone mit SEK abgekürzt und das bedeutet in Wahrheit "Sehr exklusives Königreich" oder "Schweden entleert Konto"! Egal, es schmeckt mir, dann laufen wir in Trelleborg ein!
Das Entladen gelingt mir außergewöhnlich geschickt, denn ich finde eine kleine passierbare Lücke zwischen den vielen Lastwagen im Ladedeck und spare mir so die elende Warterei, bis diese Riesen Trucks alle herausrangiert sind. Das ist auch gut so, denn mal wieder ist es ein wackeliger Wetterpoker zwischen nass und trocken heute. Innerhalb der ersten Stunde will ich dem Regen davongefahren sein – Mopedtouren machen nämlich nur bedingt Spaß, wenn die Klamotten ganz langsam immer nasser werden. Und außerdem ist heute ja Bienchens Premiere in Schweden, da soll die Sonne scheinen – den Aufkleber habe ich Nerd im Gepäck… 🇸🇪 😄
Sei's drum, der Anfang war erwartungsgemäß etwas nass, eine Umleitung verwirrte zusätzlich mein Navigationssystem, aber ich erreiche dennoch zügig die E22, als es auch schon aufhört zu regnen – so hatte ich mir das gewünscht. Jetzt kann es schön werden! Und tatsächlich, als ich wieder auf die Nebenstrecken abbiege wird die Landschaft bunter und weitläufiger. Rechts und links tauchen leuchtend gelbe Rapsfelder auf und präsentieren sich im harmonischen Kontrast mit dem saftigen Frühlingsgrün der Wiesen. Die typisch roten Holzhäuser Schwedens gleichen Inseln inmitten der Flächenkontraste der Agrarflächen. Das perfekte Klischee vom Pippi-Langstrumpf-Land. Alles sieht aus wie aus dem bunten Katalog eines Reisebüros und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Südschweden ist eine einzige Ferienhausanlage.
Spektakuläres passiert heute nicht mehr. Ich genieße meine entspannte Fahrt und gewöhne mich an die strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen, die hier so gut wie von allen eingehalten werden. Die größeren Landstraßen sind alle paar Kilometer mit Blitzern vermint und abschnittsweise liegen auch die sagenumwobenen Messschläuche auf dem Asphalt. Und wenn ich "paar Kilometer" sage, dann ist das nicht übertrieben. Periodische Abstände von fünf(!) Kilometern sind üblich. An den kleineren Straßen gibt es keine Blitzer, dafür stehen hier auffällig viele Hinweisschilder auf kreuzende Elche, die aber mehr meine Hoffnung schüren, einem Exemplar dieser imposanten Hirschart zu begegnen, als dass es meine Aufmerksamkeit im Straßenverkehr schärfte.
Gegen 15:30 Uhr erreiche ich regen- und elchfrei mein Hotel in Linköping [sprich: ˈlɪnˌɕøːpɪŋ]. Einchecken und Bienchen kommt in die sichere Garage – dann kann ich das ganze Gepäck drauflassen. Auf mich warten eine heiße Dusche, eine Brotzeit und das gemütliche Bett. Gute Nacht!
Montag, 26. Mai 2025
ABBA, Lieblingstöpfe und die legendäre Juno
Linköping ist eine kleine Stadt, im Norden ist es im Spätmai schon sehr früh hell und an einem Montagmorgen ist die Fußgängerzone vor meinem Hotel wie ausgestorben. Aus dem Bett kann ich Sonnenlicht und einen schwedischblauen Himmel sehen. Mein kleines Fenster ist noch von der Nacht geöffnet und mit der frischen Luft kommt auch die Stille in mein Zimmer. Es ist diese Stille, die es nur im Urlaub gibt. Die Stille, an der man merkt, dass man nicht zu Hause ist. Es ist diese Alles-ist-gut-Stille. Und als ob das nicht schon Glücksgefühl genug wäre, klingt aus irgendeinem quäkenden Kassettenrecorder Musik. Es muss ein Kassettenrecorder sein, denn es ist Musik von ABBA – und ABBA kommt immer aus dem Kassettenrecorder! Ich finde, das Universum trägt zwar gerade etwas dick auf, aber zu viel des Guten kann eben wunderschön sein. Was für ein Morgen!
Ein gutes Frühstück, auschecken ist bis Mittag erlaubt und ein vielversprechendes Tagesprogramm habe ich heute auch. Ich werde gleich zu einer der schönsten Schiffstreppen des Göta-Kanals fahren und anschließend über schöne Straßen nach Stockholm. Beginne ich aber zunächst mit heißem Kaffee zum Frühstück. Und was soll ich sagen, wenn der Koch das Rühreibuffet in meinen Lieblingstöpfen serviert, ist das an Kochkultur nicht zu überbieten. Überhaupt ist hier alles sehr liebevoll und mit Freude am Detail gestaltet. Die Speisen sind wohlsortiert und angerichtet und mit informativen Schildchen versehen. So auch die Milch – sie enthält Milch! Nun ja, ich amüsiere mich.
Bienchen ist schnell gepackt und Bergs Slussar – so heißt der Schleusenort – ist nur 11 Kilometer entfernt. Es geht los.
Der Parkplatz ist riesig, aber heute ist er zu meiner Freude leer. Ein paar versprengte Touristen, meist Fahrrad fahrende Rentner, machen Pause, sonst ist hier kein Mensch. Ich gönne mir einen kleinen Spaziergang an den Schleusenbecken entlang. Über die Wehre führen öffentliche Holzstege und niemand ist zu sehen, der irgendetwas verbieten würde. Nicht einmal Schilder mit gleicher Intention sind zu finden. Wie herrlich ist das denn? Das überschüssige Ausgleichswasser rauscht über die Schleusentore in die tieferen Becken, alles ist sehr gepflegt und beschaulich. Ich hocke mich auf die Wiese unter einen Baum und lasse dieses Idyll auf mich wirken. Es ist das altbekannte Seelentanken an schönen Orten dieser Welt. Enten legen sich neben mich in die Wiese und schlafen und die Sonne spiegelt sich im großen See, der hier nur Roxen heißt.
Wie aus dem Nichts, fast lautlos, erscheint ein kleines weißes Schiff auf dem Roxen und hält auf die Schleuse zu. Es ist die alte Juno. Was für eine Überraschung! Die Juno ist eine Legende. Sie ist das älteste Passagierschiff der Welt, auf dem man auch überachten kann. Was ist das für ein Tag heute? ABBA, Lieblingstöpfe und jetzt noch die Juno. Das kleine Schauspiel beginnt. Wasser rauscht lauter, alle sechs Schleusenkammern werden geflutet, denn die Juno will die Treppe nach oben steigen in den höher gelegenen Göta-Kanal. Die Schiffsmannschaft erledigt das Schleusen selbst, routiniert und in aller Ruhe, obwohl es eine äußerst knappe Angelegenheit ist. Viel mehr als eine Elle wird der Abstand auf beiden Seiten nicht messen. Das ist nautische Maßarbeit! Und während die Besatzung noch schleust und die Passagiere das Ereignis von Land aus minutiös ablichten und dokumentieren, mache ich mich auf den Weg von meinem Baum zurück zu Bienchen. Es geht nach Stockholm.
Mit diesem schönen Erlebnis mache ich mich auf den Weg in die schwedische Hauptstadt. Ich habe mir eine Tour durch schöne Gegenden gelegt, abseits der Hauptstraßen. Schon kurz hinter Berg beginnt es beschaulich zu werden. Entlang des Roxen führen kleine leere Straßen mich durch Wälder und an vereinzelten Bauernhöfen vorbei. Die typische skandinavische Landschaft mit ihren riesigen Findlingen und dem ganzen Geschiebe der Eiszeit ist einzigartig. Die Farben des Frühlings sind frisch und grün. Sie mischen sich mit dem Rot, Gelb und Orange der ewigen Moose und Flechten. Die Straße windet sich geschmeidig um diese eiszeitlichen und mittlerweile bewaldeten Felshügel herum, dass es eine Freude ist. Die Sonne wärmt schon ganz gut und die Wälder rechts und links halten den kühlen Wind fern. So vergeht die Zeit und ich weiß nicht einmal wo ich entlanggefahren bin, geschweige denn, dass ich auch nur einen Ortsnamen hätte behalten können. Bis auf einen: Torp, was soviel wie „kleiner Bauernhof“ oder „Siedlung“ bedeutet.
Und nun merkt man, dass Stockholm nah ist. Es wird zunächst bewohnter, die Straßen werden breiter und voller, am Horizont taucht die städtische Silhouette der Hauptstadt auf, auch wenn diese keine so prominenten Erkennungsmerkmale hat wie viele andere Hauptstädte. Mein Navi leitet mich souverän durch die etwas chaotische Straßenführung und dennoch biege ich einmal falsch ab, was mir schon die erste Stadtrundfahrt beschert. Die Menschen laufen in T-Shirts, Shorts und Flip-Flops herum und spielen in Badehose Beach-Volleyball im Park. Andere haben Mützen auf und dicke Fleece-Jacken an. Unglaublich! Über viele Brücken muss ich fahren, denn Stockholm besteht aus zahllosen Inseln, was mein erstes Bild der Stadt sehr eindrucksvoll gestaltet. Ich erreiche mein Hotel etwas außerhalb der Innenstadt, aber dafür zu einem bezahlbaren Preis. Was hier an Übernachtungspreisen aufgerufen wird, grenzt an Wegelagerei – das sind teilweise halbe Monatsgehälter in Deutschland. Glücklicherweise kann ich heute selbst kochen, es gibt Suppe und Salat. Daran schließt sich eine erholsame Nacht an. Morgen ist Fahrpause, ich freu mich schon.
Dienstag, 27. Mai 2025
Stockholm – Nobelpreis und Himbeerkuchen
Heute ist Stockholm-Tag. Städtetage sind für Motorradfahrer immer problematisch. Da weiß man nie, was man anziehen soll. Den feinen Zwirn hat man natürlich nicht im Gepäck, dafür ist kein Platz, man ist eher pragmatisch unterwegs. Und überhaupt ist für Mopedfahrer das Anziehen nachrangig. Viel wichtiger ist das Ausziehen. Das Ausziehen der durchgeschwitzten Klamotten, insbesondere der Ausstieg aus den dicken Boots. Also, bequem und ein Regenjäckchen und auf geht's. Aus Preisgründen liegt mein Hotel etwas außerhalb zwischen den Lagerhallen der Lebensmittelgrossisten und bis zur nächsten Haltestelle ist es eine halbe Stunde Fußweg. Dafür bin ich aber zehn Minuten später mit der Regionalbahn mitten in der City.
Als erstes springe ich in den erst besten roten Stadtrundfahrtbus – erst einmal einen Überblick verschaffen, Audio-Guide inklusive. Allerdings entwickelt sich die Fahrt zu einer Qual durch den chaotischen Verkehr, denn die Innenstadt von Stockholm ist eine einzige Baustelle. Nach Dreiviertel der Fahrt reicht es mir und ich setze das Sightseeing zu Fuß fort. Ist auch schöner, da sich die Sonne mittlerweile durchgesetzt hat und etwas wärmt. Die prominentesten Orte der Stadt liegen alle mehr oder weniger fußläufig in der Innenstadt. Zur Not nimmt man halt ein Wassertaxi auf eine Insel oder zur anderen Seite des Ladugårdslandsviken
Mein Weg führt mich vorbei an der Insel Helgeandsholmen mit dem Riksdagshuset, entlang des Stockholms ström, wo sich auch der Königspalast befindet – man erkennt ihn an den Massen von Japanern, die zum Fotografieren von geschmiedeter Krone und Königswappen am Haupttor ausgeschüttet werden. Gleich gegenüber an der Insel Skeppesholmen liegt die weiße Af Chapman eines der drei ältesten Vollschiffe der Welt.
Nur wenige Minuten weiter biege ich ein in die berühmte Gamla Stan – die Altstadt. Hier verliert sich meine Orientierung. Ich bewundere die engen Gassen und schmalen Häuser, lasse die winzigen Lädchen auf mich wirken und stehe plötzlich auf einem kleinen, sehr schönen Platz vor der Schwedischen Akademie. Ein respekteinflößendes Ambiente. Hier wird also jedes Jahr der Literaturnobelpreis vergeben. Ich bin beeindruckt. Und was könnte jetzt anderes folgen, als im nächst besten Café in der Sonne mich niederzulassen zu einem Kaffee und einem Stück Himbeerkuchen.
Der Rückweg orientiert sich am Hinweg und endet im Kungsträdgården, einem äußerst beliebten Ort der Stockholmer. Ein Blick hinauf zu Karl XII, er weist in Richtung U-Bahn. Es ist Zeit für den Heimweg. Noch schnell ein Einkauf im Supermarkt, dann fahre ich zurück ins Hotel, ich muss ja noch packen. Und morgen geht's weiter zur Fähre...
Mittwoch, 28. Mai 2025
Ja, das muss sein...
Reisetag mit später Fähre. Da muss ich mir noch Zeitvertreib in Stockholm ausdenken. Schweden hat zwei weltberühmte Exportartikel und da ich keine Lust habe, auf die größte Filiale eines Möbelhauses gehe ich lieber ins Museum der erfolgreichsten Popgruppe der moderneren Musikgeschichte: ABBA. Auch wenn ich nicht der größte Fan dieser Musik bin, gehört sie untrennbar zur Jugend meines Jahrgangs. Die Ausstellung ist bunt und aus allen Ecken klingen die Ohrwürmer der 70er. Viele Exponate, insbesondere Kostüme und Plateauschuhe kommen mir bekannt vor. Damals Kult, heute museumsreif. Die ganze Zeitreise dauert eine gute Stunde und in dieser Stunde bin ich vierzehn Jahre alt, von pubertärer Akne und chronischem Geldmangel geplagt, aber die Songtexte konnte ich auswendig und die letzten Kröten wurden für die Eintrittskarte in die Disco zusammengekratzt. Damals ging ich ja noch in die Disko… Dann bin ich wieder in der Gegenwart – eine erfrischende Abwechslung!
Prima, der Vormittag ist um, jetzt mache ich mich langsam auf den Weg zum Hafen. Der ist etwa fünfzig Kilometer entfernt. Zum Zeitvertreib mache ich neunzig daraus, denn mein Schiff nach Lettland legt erst am Abend um halb zehn ab. Einen kleinen Schauer ignoriere ich, später am Hafen zeigt sich wieder die Abendsonne über den Schären von Nynäshamn. Was für ein wunderschönes Bild, mit dem sich Schweden verabschiedet. Dann geht es wie immer recht zügig. Wir parken mit den Motorrädern auf Deck 2, tief im Kielboden, wo die Schiffswände schon schräg sind. Kabine mit Aussicht, die Sonne geht endgültig unter und wir legen ab in eine helle nordische Nacht.
Ich bin gespannt auf Lettland.
Donnerstag, 29. Mai 2025
Von Steilküsten, Wasserfällen und dem Stern des Meeres
Ich bin um fünf Uhr wach, der Schiffsdiesel stampft immer noch ruhig vor sich hin und draußen ist es hell. Es war die ganze Nacht nicht richtig dunkel. Kein Wunder, schließlich ist es Ende Mai und wir sind am 58. Breitengrad unterwegs. Land kann ich durch mein Bullauge noch nicht erkennen, aber das liegt vielleicht am etwas trüben Wetter. Im Restaurant wird in Kürze das Frühstück serviert, so jedenfalls verkündet es die sehr laute Ansage über die Kabinenlautsprecher. Ich habe Hunger. Hübsche Sachen anziehen lohnt sich so kurz vor der Ankunft nicht mehr, also steige ich in meine nicht mehr ganz geruchsneutralen Motorradklamotten und stiefle ans Buffet. Es gibt für moderate lettische Preise alles, was das Herz begehrt, Zeit zum Frühstücken ist ausreichend und der schöne Fensterplatz an Backbord macht den Start in den neuen Tag perfekt.
Pünktlich um 7:30h läuft die Stena Scandica in Ventspils ein und macht fest. Da unsere Mopeds ja tief unten auf Deck 2 stehen, sind wir die letzten, die den Schiffsbauch verlassen dürfen. Draußen ist es sehr frisch und leicht bedeckt und Ventspils ist zu so früher Stunde noch wie ausgestorben. Um so schneller lasse ich das Städtchen hinter mir und dann wird es schön. Der erste Eindruck von Lettland ist eine Mischung aus Mecklenburg-Vorpommerscher Ostseeküste und Finnland. Mecklenburg-Vorpommern, weil alles flach ist und die riesigen Rapsfelder die Farbe der Landschaft bestimmen. Finnland, weil die lichten Wälder, die ich durchfahre, genau wie in Finnland, hauptsächlich aus Kiefern, Fichten und Birken bestehen. Und noch etwas ist wie in Finnland: Ich verstehe kein einziges Wort der lokalen Sprache, nicht einmal einen Reim kann ich mir auf die Wörter auf den Straßenschildern machen. Das kann ja lustig werden.
Ich genieße die Fahrt abwechselnd durch die blühenden Rapsfelder und dann wieder durch kleine Wälder. Der Himmel wird heller, so dass ich in den nächsten Stunden durchaus auf Sonne hoffen kann. Mein erster Halt ist die Steilküste von Jūrkalnes. Auf Lettisch: "Jūrkalnes Stāvkrasts". Stāvkrasts heißt also Steilküste. Das erste Wort wäre gelernt! Ob das nun wichtiger ist als Danke, Bitte oder Guten Tag, sei einmal dahingestellt, aber mit Sicherheit bekomme ich alle Aufmerksamkeit, wenn ich beim nächsten Besuch im Café die Anwesenden mit einem selbstbewussten "Stāvkrasts!" begrüße.
Die Tour setzt sich so beschaulich fort wie sie begonnen hat. Gegen Mittag erreiche ich den Ort Kuldīga. Hier ist der breiteste Wasserfall Europas zu bestaunen – die Ventas Rumba. Direkt vor der roten Brücke von Kuldīga fällt die Venta auf einer Breite von 250 Metern knappe zwei Meter in die Tiefe. Ein einzigartiges Landschaftsbild und man kann bis vor den Wasserfall in die flache Venta hineinlaufen. Flieder blüht, große Forellen versuchen den Katarakt zu überspringen und auch die Sonne hat sich mittlerweile durchgesetzt. Lange Zeit sitze ich an den Holzstegen und in der Uferwiese – ein wirklich schöner und ursprünglicher Ort. Genügend Zeit noch für einen Cappuccino im hübschen Brückencafé. Das mit dem "Stāvkrasts" habe ich nicht ausprobiert...
Mein Weg dreht nun wieder nach Norden, denn ich möchte am Nachmittag Kap Kolka erreichen, das ist mein Tagesziel. Die üppige Zeit erlaubt mir noch ein paar Pausen an schönen Orten, sogar ein Spaziergang am menschenleeren Strand der Kurländischen Meerenge gönne ich mir. Seelentanken! Hier ist alles tiefenentspannt und langsam. Ich bin alleine mit Wind, Meer und den Dünen und entkomme immer mehr meinem Alltag – vielleicht habe ich ihn ja schon abgehängt.
Und dann sind da noch die vielen kleinen Kirchen. Sie sind irgendwie anders. Weniger protzig und weniger ehrfurchtsgebietend. Manche wirken einladend, andere haben etwas Mystisches. Ganz besonders beindruckt mich die Kolkas Jūras Zvaigznes Dievmātes Romas katoļu baznīca, was übersetzt bedeutet Römisch-katholische Kirche Unserer Lieben Frau vom Meeresstern in Kolka. Sie wurde in den 90er Jahren aus dem 150 Kilometer entfernten Sakas Grīņi hierher umgesiedelt, weil die vielen einheimischen Katholiken hier am Kap Kolka nie eine eigene Kirche hatten. In ihrem schwarzen Holz wirkt sie geheimnisvoll und ihr schöner Name „Stern des Meeres“ (lettisch: Jūras Zvaigzne) ist insbesondere eine Würdigung der Seefahrer und Fischer. Und mit diesem eindrucksvollen Bild endet meine erster Tag in Lettland.
Das kleine Hotel in Roja ist eher pragmatisch als romantisch, aber ich habe alles, was ich mir wünsche, und das ist eine schöne Aussicht, ein gut sortierter Supermarkt und vor allen Dingen eine riesengroße Badewanne – ihr wisst schon, eine, bei der auch die Knie unter Wasser sind, wenn man drinliegt...
Bis Morgen (Līdz rītdienai)
Freitag, 30. Mai 2025
Der Tag in Riga ist schlecht gewählt
Irgendwie zeichnete es sich die letzten Tage schon ab, Riga wird schwierig. Die Hotelpreise sind ungewöhnlich hoch, nur noch spontane Reste bezahlbarer Unterkünfte sind zu haben. Vielleicht weil es Wochenende ist oder die Sommersaison beginnt? Ich habe keine Ahnung. Vorbuchen bei den Preisen habe ich keine Lust, bei Zimmermangel bekommt man oft den letzten Mist angeboten – weil's geht!
Nun, dann mache ich mich nach einem guten Frühstück mal auf den Weg. Lange, leere Straßen durch grüne Küstenwälder, immer wissend, dass das Meer linker Hand nur wenige Meter entfernt ist – aber ich kann es nicht sehen! Das ist das Dilemma an den weiten nordischen Wäldern, man fährt immer durch sie hindurch und sie versperren jede Aussicht. Also halte ich irgendwo an und gehe mal nachsehen. Tatsächlich, über die kleine Düne und nach weniger als hundert Metern bin ich an einem menschenleeren Strand. Ich genieße die Aussicht auf das leicht gekräuselte Wasser und verspeise meinen Pfirsich, den ich vom Frühstück mitgenommen habe.
Es geht weiter, denn zu spät möchte ich in Riga nicht ankommen. Da meine Tour nicht als Städtereise geplant ist, beabsichtige ich die größeren Orte nur ein wenig auf mich wirken zu lassen und dann wieder in die weiten Landschaften einzutauchen. So auch heute. Gegen Mittag erreiche ich Lettlands Hauptstadt. Ein wenig Kurverei kann ich nicht vermeiden, denn die Wegweisung meines Navis widerspricht erheblich den rechtlichen Rahmenbedingungen der örtlichen Verkehrsführung. Ich weiß nicht wie viele Regeln ich gebrochen habe, am Ende bin ich ohne Verhaftung dort angekommen, wohin ich wollte. An meinem zu teuren Hotel. Sei's drum, einchecken, duschen und dann Riga bestaunen.
"Bestaunen" ist genau das richtige Wort, denn als Erstes höre ich laute Gesänge. Nein, keine sakralen Chöre, was man bei der hohen Kirchendichte vermuten könnte. Aber Männerchöre sind es sehr wohl. Unmusikalische deutsche Männer auf Bierbikes, die stark alkoholisiert und grölend von einem nüchternen Lenker durch die Altstadt gesteuert werden. Eine sehr beliebte Veranstaltung bei Junggesellenabschieden oder am Vatertag. Und letzteres ist dann auch des Rätsels Lösung für die Ausbuchung der Rigaischen Hotels. In Deutschland ist Vatertag! Das lange Wochenende und genügend Billigflugoptionen bieten sich an, dieses fragwürdige Feiertagsritual nach Riga zu verlagern und gleichzeitig ein Stück deutsche Trinkkultur zu exportieren.
Ich bin erschüttert: Die Altstadt ist überflutet von Feiergruppen. Grölend bis lallend wanken sie durch mittelalterlich-hanseatische Stadtarchitektur vom Feinsten. Sie fallen stolpernd aus den kleinen Fachwerkhäusern der engen Gassen rund um den schönen Alten Markt. Ihre schlechten Gesänge widerhallen besonders durchdringend an der Backsteingotik von Petrikirche und Dom. Kein ruhiger Ort ist zu finden, keine Nische ohne Lärm im UNESCO-Welterbe der „Historischen Altstadt Riga“. Ich hatte mich gefreut auf diese einzigartige Vermischung von Gotik, Barock, Jugendstil und Moderne. Manche Fachleute nennen das den "Baltischen Eklektizismus" – heute wird er zum Bühnenbild für eine unterirdische Darbietung entgleister deutscher Feierkultur.
Ich muss umschalten und versuche ein paar wenige Bilder, die ich an diesem kurzen Nachmittag in mich aufnehmen kann, zumindest fotografisch zu konservieren. Ich werde sie mir später anschauen. In Ruhe. Ohne Gesänge und vielleicht komme ich ja an einem stillen Tag mal wieder. Und dann erzähle ich Euch auch all die spannenden Geschichten zum Katzenhaus, dem Geisterdenkmal und dem Haus der Schwarzhäupter und noch vieles mehr.
Das war Riga – an einem schlecht gewählten Tag.
Samstag, 31. Mai 2025
Ein Jubiläum, Tote im Wald und ein buntes Ende
Ich bin froh, Riga heute wieder zu verlassen, obgleich mir die historische Altstadt außerordentlich gut gefallen hat und es sicherlich viele spannende Dinge zu entdecken gegeben hätte. Bei der nächsten Reiseplanung werde ich nicht mehr nur den lokalen Feiertagskalender beachten, sondern auch den der potentiellen Gäste. Also, Frühstück, aufsatteln und nichts wie weg hier. Es ist Samstag, die Straßen sind heute Morgen noch leer und das Wetter ist Motorradwetter. Ziel für heute ist Estland, mal sehen wie weit ich komme. Die grobe Richtung ist Saaremaa, die größere der beiden Estländischen Inseln, die die Rigaische Bucht im Nordwesten begrenzen.
Mit der freien Samstagsfahrt hat es sich schnell erledigt, denn die Ausfahrtsstraße aus Riga ist komplett verstopft. Irgendwie scheinen doch sehr viele Rigaer in ein sonniges Wochenende zu starten. Und inmitten dieses Verkehrschaos haben wir ein Jubiläum: Bienchen und ich haben die 100.000 Kilometer erreicht! Herzlichen Glückwunsch meine liebe und treue Gefährtin. Wie schön, dass wir das zusammen erleben dürfen. Was für ein Start in den Tag.
Etwas später, als ich ins Inland abbiege, löst sich auch der Stau auf und Bienchen und ich sind wieder ziemlich alleine unterwegs. Ich kann die blühende Landschaft genießen und den hiesigen Frühling, der dem mitteleuropäischen einen ganzen Monat hinterher ist. Ich tauche ein in den Gauja Nationalpark, der mich mit wilden Wäldern und ein wenig Hügellandschaft begeistert. Hier könnte man viele Tage mit Wandern und Hiking verbringen, aber das ist eine andere Art von Urlaub.
Bei Cēsis entdecke ich eine bemerkenswerte Kapelle mitten in einem kleinen Wäldchen. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich einen alten Friedhof. Überwachsen von üppigem Grün und in ein mystisches Sonnenlicht getaucht, das nur mühsam die dichten Baumkronen durchdringt. Überall stehen Kreuze und steinerne Gedenksäulen in unterschiedlichen Größen. Viele stehen schief oder sind umgefallen, nur die wenigsten haben ihren aufrechten Stand über die Zeit erhalten können. Die Inschriften sind alle auf Deutsch, die Namen lauten Stadthaupt, Praetorius, Margaretha und Christoph. So zu finden auf einem großen Kreuz, das eine Lebzeit von 1752 bis 1812 bezeugt. Diese Menschen waren Zeitgenossen Goethes! Und heute steht ein Motorradfahrer vor ihrer letzten Ruhestätte und versucht die Zeit zu begreifen die zwischen ihnen liegt. Ich mache ein digitales Farbfoto mit meinem high Tech Smartphone von einem Grabkreuz, das seit über 200 Jahren an dieser Stelle steht. Erst 70 Jahre – das ist ein ganzes Menschenleben – nach dem Ableben dieser Menschen wurde die elektrische Glühbirne erfunden. Der erste Verbrennungsmotor genau 40 Jahre später, Mitte des 19. Jahrhunderts! Ich bin normalerweise kein Kirchen- oder Friedhofstourist, aber dieser Ort hat mich inspiriert, über Zeit und Vergänglichkeit zu sinnieren. Ich habe über eine Zeitspanne von zwei Jahrhunderten nachgedacht, die mir sehr lang erscheint und doch ist es nur ein infinitesimaler Moment unseres Daseins im Universum. Immer wieder auf Reisen begegnet mir diese Betrachtung. Das unerwartet harmonische Verschmelzen von Größtem und Kleinsten.
Bei Sonnenschein und warmen 20°C setze ich meine Reise fort – auch die in Gedanken. Endlose Wälder umgeben mich seit Tagen und ich begegne kaum jemandem auf den Nebenstrecken. Hier und dort taucht ein kleines Haus auf und ein paar Kühe grasen gemütlich auf den Wiesen. Mitten im Nirgendwo. Was tun die Menschen hier? Wie ausgeglichen und zufrieden sind sie? Für mich als Stadtkind, ja sogar Weltstadtkind hat dieses Leben hier in den Wäldern schon etwas Eremitisches. Immer noch im Gauja Nationalpark kommen nun ein paar Schotterpisten hinzu und plötzlich begegne ich Lisa. So steht es auf dem blauen Schild. Es ist ein kleiner Fluss, der selbstzufrieden die weiten Wiesen teilt. Aber Lisa ist viel mehr als der Name dieses Flüsschens, sie ist seit Ewigkeiten mein Alter Ego oder präziser mein Alter consors vitae – wenn wir im Lateinischen bleiben wollen. Wie schön, ihr so unerwartet zu begegnen.
Doch der Tag soll noch nicht zu Ende sein. Fast unbemerkt überschreite ich die Landesgrenze zu Estland. Ohne das kleine Hinweisschild am Straßenrand hätte ich es gar nicht bemerkt. Die Straßen winden sich weiter durch grünes Land, als ich ein kleines Schild zu einem örtlichen Museum bemerke. „Heimtali muuseum“ steht darauf. Warum nicht, Zeit habe ich genug. Ein wunderschöner Ort mitten in hohen Wiesen mit mehreren wohlerhaltenen – vermutlich restaurierten – Gebäuden. Eine junge Frau öffnet mir freundlich die kleine Holztür, ich bin offensichtlich der einzige Besucher. Ich sage, dass ich nur mal schauen möchte, schließlich mache sie ja in einer halben Stunde zu und ich sei sowieso nur auf der Durchreise. Nein, das mache doch nichts, antwortet sie, schön, dass ich da sei und der Feierabend komme nicht so genau. Ich solle mich ganz in Ruhe umschauen, oben ist eine Ausstellung und in der Scheune… und, und, und… Doch zum Umschauen komme ich gar nicht, denn die liebe Frau hängt mir an den Fersen und erklärt mir ganz aufgeregt die Exponate. Und dass das früher eine Schule gewesen ist, wo die Kinder immer eine ganze Woche waren, weil die Wege zu den Höfen viel zu weit waren. Es gibt Schul- und Schlafzimmer, eine Küche und eine Scheune. Die Kinder lernten nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Landarbeit, nützliches Bauernhandwerk und das Weben. Die Frau, nach deren Namen ich unhöflicherweise nicht gefragt habe, öffnet einen massiven Holzschrank voll mit farbenfrohen Decken, Tüchern und Webstoffen. Das sind die Arbeiten des Museumsvereins der die Webtradition von Heimtali am Leben erhält. Wenn ich nicht mit dem Motorrad unterwegs wäre, ich hätte eines dieser bunten Tücher gekauft, die mich entfernt an die Muster der Sami-Webereien in Lappland erinnern. Ich nutze die verbleibende Zeit für einen Rundgang durchs Gebäude und über das Gehöft. Ein harmonischer Ort, ein bunter Ort. Schade, dass ich heute erst so spät hier war. Dann verabschieden wir uns.
Ich schaffe es noch bis Pärnu auf einen kleinen Campingplatz. Freie Schlafplätze gibt’s genug, Abendessen auch noch, die Sonne taucht den Abend in endloses Rot und ich sinke in Träume von Goethes verstorbenen Zeitgenossen, von Lisa und dem bunt-herzlichen Heimtali muuseum.
Riga? Nein, Riga habe ich schon vergessen.
Sonntag, 1. Juni 2025
Von weißen Nächten, Felsenwächtern und einer Blumengartenunterkunft
Die Nacht war still und kühl, das leichte Rauschen der Pärnu, die vor meinem Fenster vorbeifließt und ein Stückchen weiter in die Bucht von Pärnu mündet, hat mir einen ruhigen Schlaf beschert. Hell wird es derzeit gegen drei Uhr, das sind schon die ersten weißen Nächte dieses Jahres, die das frühe Aufstehen deutlich erleichtern. So auch heute. Auf dem Weg zum Frühstück schon die ersten Taschen geschultert und Bienchen beladen, dann folgt das ausgiebige Frühstück. Wenig später sitze ich auch schon bei Sonnenschein und noch frischen 9°C auf dem Motorrad Richtung Saarema, der größeren der beiden estnischen Inseln, die die Bucht von Riga zur Ostsee abgrenzt.
Bis zum Fährhafen von Virtsu ist es nicht weit, aber die Landschaft in der Ruhe der frühen Stunde begeistert mich auch heute unvermindert. Ein kleines Straßencafé bei Vatla hat schon geöffnet, genau richtig für einen zweiten Frühstückskaffee und einen Schnack mit einem estnischen Motorradfahrer auf Deutsch – er arbeitet in Nürnberg.
Ich erreiche den Hafen. Bei der freundlichen Frau am Ticketschalter entrichte ich meinen Fährlohn, sie weist mir "Rada kolm" zu und öffnet die kleine Schranke. Rada kolm heißt Spur drei, das habe ich verstanden, denn ich kann auf Finnisch bis zehn zählen und das ist ganz ähnlich wie Estnisch. Weitblick, klare Farben und ein Bilderbuchhimmel sind nur die Klischees einer Urlaubspostkarte an die Verwandten. Kommt erfrischende Seeluft mit leichter Brise dazu, ist man in der Wirklichkeit. Ich sitze eine ganze Weile an der Kaimauer und blicke aufs Meer. Dabei merke ich, wie sehr mich mein Job schon wieder "gefressen" hat nach meinem Wiedereinstieg ins Arbeitsleben vor genau einem Jahr. Ein Gedanke, den ich weiter verfolgen werde. Dann läuft mein Schiff ein. Wir setzen über nach Muhu.
Von Muhu nach Saaremaa gibt es einen befahrbaren Damm, der eine weitere Fähre spart, dann verläuft sich der Verkehr und das alte Bild: Wald, Sonne, alleine unterwegs. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so leer und verkehrsarm ist, aber was wünsche ich mir mehr? Meine Route habe ich mir über kleine Straßen einfach durch die Insel gelegt und am Nachmittag möchte ich noch nach Hiiumaa, der Insel im Norden übersetzen.
Überall sehe ich spannende Dinge. Kleine Waldstraßen, die einfach irgendwo aufhören, hübsche Häuser, die mutmaßlich eine Kreuzung aus traditionellem finnischen Holzbau und russischer Mangelarchitektur entstanden sind. Ich finde eine alte Kirche, deren Eingang zum Kirchgarten von zwei Findlingen bewacht wird. Weiter im Inneren der Insel erhebt sich das Land zaghaft zu Hügeln, auf denen man hölzerne Windmühlen errichtet hat. Heute stehen sie still und dienen nur noch musealen Zwecken. Schön anzusehen sind sie aber trotzdem.
Die Inselrundfahrt kommt langsam zum Ende – zumindest die auf Saaremaa – und ich erreiche die Fährstation nach Hiiumaa. Doch leider gilt noch nicht der Sommerfahrplan, so dass die 17.00 Uhr Fahrt ausfällt. Die nächste und letzte Überfahrt für heute legt um 20:00 Uhr ab, das bedeutet vier Stunden Wartezeit. Nee, das ist mir zu lang und um diese späte Stunde dann noch eine Unterkunft zu finden ist so gut wie unmöglich. Dann will ich mal zurück ins Dorf fahren, da standen so einige Wegweiser zu Pensionen oder Privatzimmern. Ich muss nicht weit fahren bis zur ersten Gelegenheit. "Kuus Tuba" steht auf dem Schild, das direkt in einen Waldweg weist. Na dann, hinein!
Dort ist es, ein langes rotes Holzhaus und ich habe den Motor noch nicht ausgeschaltet, kommt mir schon eine überaus freundliche Dame entgegen und begrüßt mich mit sehr gutem Englisch. Ich sei doch der Ire, der gerade angerufen habe und ich sei aber schnell hier gewesen und Sie habe das Zimmer schon vorbereitet! Es ist schwer, sie zu unterbrechen und das Missverständnis aufzuklären und als es mir endlich gelingt, ändert das nichts an ihrer euphorischen Gastfreundschaft. Deutsch sei auch gut und ihr Haus heiße ja nicht grundlos "Kuus Tuba", was übersetzt "Sechs Zimmer" bedeutet und sie habe noch eines frei für dreißig Euro frei, aber nur in bar, in der Küche stehe frischer Salat aus ihrem Garten, in ungefähr fünfzehn Minuten sei die Sauna heiß, es war bestimmt eine lange Fahrt, ich solle doch erst einmal entspannen! Dann muss sie neue Luft einatmen. Diese Gelegenheit nutze ich für ein uneingeschränkt zustimmendes "Ja".
Die gute Frau setzt sich wieder zu ihren Freunden an den Gartentisch und ich beziehe meine Schlafkammer im Dach. Nein, meine Fahrt war heute weder lang noch anstrengend, wie Madame mutmaßte, weshalb ich mir erst einmal ihren riesigen Gemüse-, Obst- und Blumengarten ansehe. Ein herrlicher Ort. Wild und natürlich. Bunt und trotzdem durchdacht. Erneut komme ich mit meiner Gastgeberin ins Gespräch und erhalte eine umfassende und botanische Einweisung in die Geheimnisse ihres bescheidenen Anwesens. Das größte Geheimnis ist, dass hier eine unbekannte Viper wohnt, irgendwo dort drüben in dem Schaumkraut an der kleinen Mauer. Dort solle ich keinesfalls hingehen, sonst könne ich gebissen werden. Nein, mache ich nicht, obwohl ich mir sicher bin, dass die einzige nordeuropäische Giftschlange die Kreuzotter ist – und die ist so scheu wie harmlos. Ich bin sehr begeistert von diesem harmonischen Konzept und mache der Frau ein Kompliment, indem ich mir einen Liegestuhl mitten in die Blumenwiese stelle, mich hineinlege und den Garten mir Gutes tun lasse. Das freut sie – und ich finde Ruhe.
Für Sauna ist es schon zu spät, für Salat genau die richtige Zeit. Also letzteres zum Abendbrot. Im Mopedkoffer finde ich noch ein alkoholfreies Bier und dann ruft auch schon meine Dachkammer im Blumengartenhaus.
Gute Nacht allerseits!
Montag, 2. Juni 2025
Von Kusshaltestelle bis Jugendheim – ein Inseltag
Heute steht eine gemütliche Umrundung der kleinen Insel Hiiumaa auf der Wunschliste. Beginnen soll die Tour im Süden in Söru, dort werde ich mit der Fähre von Saaremaa gegen Mittag ankommen. Zunächst aber darf ich ausschlafen im Blumengartenhotel, denn mein Fährticket ist erst für 12:30h gebucht. Wie vorhergesagt, regnet es draußen leicht, von Westen her ist aber Besserung angesagt. Sachen packen und das Geld für den schönen Aufenthalt lege ich wie verabredet in die Küche. Und jetzt ganz entspannt zum Hafen nach Triigi. Hier hole ich das Frühstück nach in Form eines großen Kaffees aus dem Automaten. Es nieselt immer noch, im Fährhaus ist es aber trocken und warm. Das Schiff läuft pünktlich ein, alles geht seinen gewohnten Gang, kaum fünfzehn Minuten vergehen, bis die Ladung gewechselt ist. Alle Autos runter von der Fähre, alle neuen Autos drauf auf die Fähre. Luke zu und Leinen los. Jetzt kommt das richtige Frühstück mit Croissant und einem zweiten heißen Kaffee aus dem Bordkiosk. Eine Stunde habe ich Zeit, so lange dauert die Überfahrt.
Der Regen hört nicht wirklich auf, als wir das Schiff verlassen. Im Gegenteil, es wird sogar entgegen der Prognose schlimmer. Irgendwie hat das keinen Zweck bei dem Wetter, ich suche mir das nächstbeste Café – was hier in der Einöde nicht ganz einfach ist – und warte ab, bis es aufhört. Auf der Speisekarte steht Borschtsch. Warum nicht? Es ist Mittag und mir ist kalt. Eine gute Idee war das, den kaum, dass ich die köstliche Suppe verspeist habe, wird mir warm, es hört auf zu regnen und die Sonne ist zu erahnen. Es kann losgehen.
Ich halte mich westlich mit dem Urzeigersinn, denn von Westen kommt das schöne Wetter. Hier auf Hiiumaa ist nun wirklich gar nichts mehr los. Ich begegne niemandem, die kleinen Landstraßen gehören mir allein und die Sonne beginnt tatsächlich ganz langsam den Tag zu erwärmen. Erstes Ziel ist die Landzunge von Kõpu. Die gewohnten endlosen Wälder säumen meinen Weg, das leuchtende Grün beruhigt und entspannt. Kurz vor Ende der Landzunge hört die Straße auf und Schotterwege führen bis zum Kap Ristna. Dann werden es Feldwege, bis ich am Ziel bin. Am "Paradiisi rand". Das muss man nicht übersetzen. Ich genieße eine herrliche Aussicht auf die weite Ostsee, Möwen hocken auf den großen runden Steinen in der schwachen Dünung des Wassers und links liegt menschenleer der Paradiesstrand von Ristna. Aber dieser Ort ist aus noch einem anderen Grund besonders. Hier gibt es nämlich die Kusshaltestelle. Einst nur eine kleine Marketingstrategie, die diesen Ort bekannter machen sollte, hat sich die Idee aber herumgesprochen und erfreut sich mittlerweile einer bescheidenen Beliebtheit. Ein schöner Ort zu zweit – so wie Bienchen und ich... 😘
Nicht weit von hier steht noch der alte Leuchtturm von Kõpu aus dem 16. Jahrhundert. Er ist weltweit der drittälteste Leuchtturm, der noch in Betrieb ist. Für fünf Euro darf man ihn besteigen. Über sehr steile Treppen gelangt man auf die 36 Meter hohe Plattform. Ich war schonmal fitter im Treppensteigen, aber die wunderbare Aussicht über die Halbinsel von Kõpu belohnt mich für die Anstrengung. Im Wesentlichen Wald – nichts als Wald!
Der zweite Teil meiner Inseltour ähnelt dem ersten. Beschauliche Landschaft und eine entspannte Fahrt durch endloses Grün. Am Ziel, im Städtchen Käina habe ich noch ein kleines Kontrastprogramm. Hier steht der "Elamuskeskus Tuuletorn - Windtower", ein architektonisches Gestaltungsexperiment. Das Gebäude ist in Form eines Leuchtturms gestaltet – eine Anspielung auf die vielen Leuchttürme auf Hiiumaa – und beherbergt ein modernes Natur- und Erlebniszentrum.
Die Suche nach einer Unterkunft hier in Käina gestaltet sich noch etwas schwierig, denn die Saison hat noch nicht begonnen und Zettel mit Telefonnummern an allen Hotels ersetzen die Rezeption. Ich rufe an und irgendwie ist das sehr kompliziert. Daten am Telefon durchgeben, buchstabieren versteht die nette Dame nicht, nur Barzahlung und Geld im Hotel hinterlegen, Schlüssel im Supermarkt abholen, Internet geht leider nicht... Och nee... Am Ende lande ich für wenig Geld in einer Art Jugendheim ohne Infrastruktur, das aber geöffnet hat und super freundliche Menschen, die mir ein Zimmer vermieten. Der nahe Supermarkt versorgt mich bestens und ich habe eine sehr ruhige Nacht.
Das war mein Inseltag von Hiiumaa.
Dienstag, 3. Juni 2025
Fähre, Entspannung und Keks mit Burgblick
Heute ist Entspannungstag bevor ich morgen nach Tallinn fahre. Ich werde nur kurz übersetzen aufs Festland nach Rohuküla, anschließend wenige Kilometer weiterfahren in das Städtchen Haapsula und werde es mir dort gut gehen lassen.
Die Wegweiser im Jugendheim – so man sie versteht – leiten mich sicher in den Speisesaal. Zusammen mit einer Schulklasse frühstücke ich und habe das Gefühl, ich bin vierzehn Jahre alt und auf Klassenfahrt. Muckefuck, Brötchen, Marmelade fertig. Nicht einmal richtiges Geschirr wird benötigt. Ein Riesen Topf Porridge wird ebenfalls angeboten, das ist aber nicht so meins. Ich werde satt und wie lange war ich schon nicht mehr auf Klassenfahrt. Herrlich! Ich breche auf zu den letzten Inselkilometern zum Hafen von Heltermaa.
Am Hafen sitze ich noch eine ganze Weile in der Sonne neben einem Mann, der einer Ziege zeigt, wo das Festland liegt. Auf Estnisch heißt das "Vanamees ja kits" und ist Kunst. Natürlich ist das nur meine Interpretation. In Wahrheit soll die Skulptur die Besucher Hiiumaas auf humorvolle Weise willkommen heißen und die einzigartige, bodenständige Inselkultur vermitteln. Nun ja, aber genau in die Richtung, in die der Mann deutet, legen wir kurze Zeit später ab. Es ist vorerst das letzte Stündchen auf See. Eine gute Soljanka wird serviert – mittlerweile ist es schon Mittag geworden und Zeit für eine Kleinigkeit.
Eine gute Stunde später zurück am Festland nimmt alles seinen routinierten Lauf, schöne Alleen säumen meinen kurzen Weg nach Haapsula. Ein typischer Ostseeort, dem man ansieht, was hier in der Urlaubssaison stattfindet. Aber das interessiert mich nicht. Ich suche mir das schönste Hotel direkt an der alten Burg aus, krame meine uralten Honigkekse aus dem Koffer und lasse es mir auf der Terrasse mit einem großen Kaffee gutgehen. Natürlich darf ein Spaziergang durch den Park der Bischofsburg Hapsal nicht fehlen. Ebenso wenig ein Bummel über die Promeniermeile, aber erst eins nach dem anderen. Zu mehr Veranstaltung lasse ich mich heute auch nicht hinreißen.
Die Bewegung tut gut und ist von wohldosierter Anstrengung, so dass ich später auf meiner Terrasse noch motiviert bin, etwas Schreibrückstand aufzuholen.
Noch mit Tageslicht und unter dem Geschrei der Möwen gehe ich ins Bett. Schöner kurzer Tag!
Mittwoch, 4. Juni 2025
Tallinn – Es liegt auf dem Weg
Wie der Titel schon sagt, Tallinn liegt auf dem Weg. Meine Tour ist nicht als Städtetour geplant, auch wenn nach Stockholm, Riga und jetzt Tallinn der Eindruck entstehen könnte. Beim Motorradfahren sind Stadtaufenthalte immer etwas problematisch. Übernachtet man nicht in der Stadt, rennt man den ganzen Tag in den schweren, verdreckten Klamotten herum und muss abends dann noch weiter. Übernachtet man, muss man ein Hotel mit einem Stellplatz finden, was zu bezahlbaren Preisen in den Altstädten auf dieser Reise nirgendwo möglich ist. Mindestens aber schleppt man das Gepäck ins Hotel und kleidet sich stadtfein um. Letzteres Verfahren habe ich für Tallinn gewählt. Hotel am Rande der Altstadt, inklusive Frühstück und abschließbarer Stellplatz für achtzig Euro. Das ist vertretbar.
Da es von Haapsalu eine unspektakuläre Strecke ist und nicht weit, bin ich schon gegen Mittag in Tallinn. Frühes Einchecken klappt wie meistens und jetzt (s.o.) stadtfein machen. Auf geht's.
Die Highlights habe ich mir ganz unromantisch auf der Smartphone-Landkarte angekreuzt und die werde ich jetzt abwandern. Direkt vor meiner Hoteltür steht das Freiheitsdenkmal des Unabhängigkeitskrieges auf dem Vabaduse väljak, dem Freiheitsplatz. Und dann laufe ich sie alle ab. Die Touri-Spots: Tallinna Tähis, Kiek in de Kök (Kanonenturm), die sehr eindrucksvolle Alexander-Newski-Kathedrale, durch das Botschaftsviertel zum Tallinner Dom bis zum Kohtuotsa Aussichtspunkt, den ich eher zufällig finde. Von hieraus habe ich eine wunderbare Aussicht auf die Stadt bis zum Hafen. Zwar geben sich hier die geführten Touristengruppen die Klinke in die Hand und Souvenirläden, vornehmlich mit Bernsteinwaren, säumen die Wege, aber das ist eben so in den berühmten Städten der Welt. Jetzt muss ich irgendwie wieder runterkommen in die Altstadt, gar nicht so einfach. Winzige Gassen und Treppen führen mich abwärts, ohne dass ich genau weiß, wo ich bin. Aber wie gewollt mündet mein Weg genau auf den Rathausplatz. Das ist einer dieser schönen Altstadtplätze, die ich so liebe. Viel Platz, Menschen, die sich hier aufhalten, weil sie es schön finden und nicht, weil sie es müssen. Rechter Hand das Alte Rathaus und rundum die gut erhaltene bzw. restaurierte Altstadtarchitektur vergangener Jahrhunderte. Auch wenn in jedem Laden große baltische Küche angeboten wird, sind es in Wahrheit doch nur Touri-Imbisse. Das eskaliert dann bisweilen so weit, dass in einem Restaurant sogar Bärenfleisch angeboten wird. No-Go ohne Diskussion! Aber solange die Sonne scheint und man sich mit bunten Alkoholika vergnügt, ist nichts gegen den kurzweiligen Zeitvertreib einzuwenden.
An einer Ecke des Rathausplatzes finde ich die Gasse mit dem netten Namen Saiagang, in der ein winziges rotes Haus steht und dahinter die große Heilig-Geist-Kirche. Hübscher Kontrast. Den Gang zum Supermarkt habe ich nicht dokumentiert, ich werde heute gesund im Hotelzimmer speisen, auswärts ist es mir mit meiner kulinarisch eingeschränkten Genussfähigkeit heute zu risikobehaftet. Der Rückweg führt durch viele belebte Gassen wie die Vanaturu kael (Alte Marktgasse) oder Kullassepa tänav – die Goldschmiedstraße.
Und hier sind ein paar Bilder von meinem Nachmittag im hübschen Tallinn – Taani linn, die "Burg der Dänen".
Donnerstag, 5. Juni 2025
Einfach nur ein Tag der schönen Dinge
Heute breche ich einigermaßen früh in Tallinn auf, wegen der durchwachsenen Wettervorhersage. Aber ich will es vorwegnehmen, es wird ein wunderbarer Tag. Die wenigen Tropfen bei der Ausfahrt aus der Estnischen Hauptstadt ignoriere ich, denn schon am ersten Zwischenziel, einem alten Schiffswrack, klart es auf. Heute gibt es nicht viel zu erzählen, sondern nur zu gucken. Stundenlang fahre ich alleine durch endlose Wälder, immer häufiger scheint die Sonne durch junges Grün und ich genieße alte Burgen, einen Wasserfall und am Zielort in Jõhvi finde ich einfach so, neben Supermarkt und Sushibar die "Jõhvi Jumalailmutamise apostliku õigeusu kirik", eine wunderschöne orthodoxe Kirche. Einfach nur ein Tag der schönen Dinge...
Freitag, 6. Juni 2025
Zwei Ziele und Regen
Gestern war es schön und heute beginnt der Tag wie er gestern aufgehört hat. Trotz leichter Regenneigung scheint die Sonne und ich breche erneut recht früh auf. Jõhvi ist klein und liegt schnell hinter mir. Die schönen einsamen Straßen setzen sich fort und ich genieße die frühe Fahrt. Als erstes besuche ich das Kuremäe Klooster, ein stiller und schöner Ort. Alles ist liebevoll angelegt und gepflegt. Emsige Arbeiten der Gärtner und in der Kirche ist großes Reinemachen. Im Sanctuarium hat man ein großes Gerüst aufgebaut, auf das die sehr betagten Nonnen tatsächlich hinaufsteigen. Ohne Schuhe sitzen sie auf den Plattformen und reinigen mit Wasser und Pinsel in bemerkenswerter Akribie jedes Detail der Ikonostase. Ich verweile lange in der Kirche, deren Innerstes typisch für russisch-orthodoxe Kirchen nach einer sehr strengen Liturgie aufgebaut ist. Ich rieche den Weihrauch und das heiße Wachs der brennenden Kerzen. Und trotz der weltlichen Arbeit des Putzens, vergessen die Nonnen niemals, sich ständig zu bekreuzigen und den Heiligen durch symbolisches Küssen der Ikonen ihre Ehre zu erweisen. Fast vergesse ich die Zeit – ich will weiter.
In dem kleinen Ort Vasknarva möchte ich einen Blick nach Russland werfen. Hier trennt nur die schmale Narva Estland und Russland voneinander. Diesseitig europäisches Leben, jenseits Russland, das für mich mit so vielen Vorurteilen und Klischees belegt ist – ich war halt noch nie dort und konnte mir bislang kein eigenes Bild machen. In Anbetracht der aktuellen politischen Lage ist ein Besuch selbstredend ausgeschlossen, es bleibt also nur das sehr befremdliche Gefühl, am europäischen Ufer zu stehen und auf der anderen Seite weht die übertrieben große russische Fahne: Weiß steht für Edelmut und Frieden, Blau für Glaube, Treue, Wahrheit und Rot für Mut, Liebe, Kraft. An Zynik ist das nicht zu überbieten – ich verlasse diesen Ort.
Und dann erwischt er mich doch. Der Regen. Es reichen fünf Minuten und ich bin komplett nass. Die Hoffnung, es sei nur ein Schauer, erfüllt sich nicht und die Regenkombi anzuziehen ist jetzt auch fast überflüssig. Dennoch, ein paar Kilometer sind es noch. Tartu ist keine Option, ich habe keine Lust auf Stadt, also wähle ich das nächst beste Hotel in Richtung meiner Route. Es ist Pölve. Kennt niemand, muss man auch nicht, dafür finde ich aber ein erstaunlich gutes Hotel mitten in einer Wohnsiedlung. Hier auf dem Land sind die Preise mehr als moderat, also bleibe ich zum Trocknen und hoffe auf besseres Wetter, wenn es morgen nach Litauen geht.
Samstag, 7. Juni 2025
Sandsteinhöhlen, eine Basilika und man spricht Russisch
Nach dem etwas verregneten Tag gestern möchte ich heute bis Litauen kommen. In Daugavpils – oder auf Deutsch Dünaburg – steht ein Highlight auf meiner Wunschliste: Der Besuch des Mark Rothko Museums. Rothko ist 1903 in Daugavpils (damals russisch Dwinsk) geboren und seit ich mich einmal als Vierzehnjähriger im Essener Folkwang Museum "verlaufen" habe und auf ein unbetiteltes Werk Rothkos stieß, bin ich fasziniert von seiner Flächenmalerei. Aber dazu später.
Ich starte bei schönem Wetter und erreiche nach kurzer Fahrt die Piusa-Höhlen. Von Menschenhand gegrabene Sandsteinhöhlen, die bis ins 20. Jahrhundert den Rohstoff für die Produktion von Glas lieferten. Die verschiedenen Schichten des Gesteins bestanden aus verschiedenen Mineralzusammensetzungen und wurden für unterschiedliche Glasfarben eingesetzt. Heute ist die künstliche Höhle ein Lebensraum für viele Fledermäuse und Mottenarten und ein sehr wichtiges Winterquartier. Eine kurze und nette Führung bildet mich zu den Eigenarten der Flugsäuger und dem Tierschutzprogramm von europäischer Reichweite. Souvenirs in Form von Schnapsgläsern oder Kompottschüsseln kaufe ich nicht. Ich hatte schon damals Omas Erbe sämtlicher gläserner Trinkgefäße angelehnt. Es geht weiter.
Schöne Landschaft und herrlich abgelegene Strecken bereiten mir eine ausgesprochen schöne Fahrt. Der ein oder andere Schotterabschnitt ist auch dabei, bis ich schon von Weitem die Basilika von Aglona sehe. Eine imposante Kirche in einer ausladenden Parklandschaft. Zeit für eine ausgedehnte Pause auf einer Parkbank. Es ist schon auffällig, wie oft ich mir irgendwelche sakralen Bauten ansehe, obwohl ich mit institutionalisierter Religion eher im Widerspruch stehe. Dennoch üben die Gebäude als solche aber einen gewissen Reiz auf mich aus. Angefangen von den kleinen Holzkirchen – Ihr erinnert Euch – bis hin zu monumentalen Domen oder eben dieser Basilika von Aglona.
Für das Museum, was ja das eigentliche Highlight des Tages sein soll, ist es nun etwas spät geworden. Ich brauche also eine kleine Plankorrektur. Das heißt übernachten in Daugavpils und morgen früh ganz in Ruhe ins Rotko muzejs. So einfach ist das.
Eine gute Entscheidung, denn bis Daugavpils ist es nicht mehr weit und ein nettes Hotel finde ich auch sehr schnell. Die Stadt – zumindest das, was ich sehe – ist seltsam. Alles macht den Eindruck, als hätten die Russen den Ort vor noch gar nicht langer Zeit verlassen. Das Stadtbild ist amorph und die Architektur grau. Putz bröckelt von den meisten Fassaden, ich sehe wenig neue Gebäude. Dass die kleinen Straßenbahnen noch sowjetisch rot-gelb sind, ist eher ein Zufall. Aber im Ernst, nach kleiner Recherche lerne ich, dass zu Sowjetzeiten in Daugavpils sehr viele russischstämmige Menschen lebten, so dass die Stadt heute immer noch die größte russischsprachige Ansiedlung der ganzen EU ist. Und tatsächlich, beim Einkauf im benachbarten Supermarkt höre ich sehr viel Russisch und viele Beschriftungen und Schilder sind auf Kyrillisch.
So endet der Tag mit einem Zimmerimbiss im Hotel – Restaurants gibt es keine – und früher Bettruhe mit Vogelgezwitscher bis tief in die Nacht.
Sonntag, 8. Juni 2025
Was für ein schöner Tag!
Mark Rothko – Marks Rotko – Marcus Rothkowitz
Mit Vierzehn habe ich ihn entdeckt, bis heute ist er einer meiner liebsten Maler.
Guten Morgen, Litauen! – Labas rytas, Lietuva!
Durch die endlosen Wälder und Roten Felder Litauens...
... vorbei am geografischen Mittelpunkt Europas
... bis nach Vilnius in die liebenswerte Altstadt und zur Schaukel unter der Užupis-Brücke.
Was für ein schöner Tag!
Montag, 9. Juni 2025
Regen, Baugerüste und Soljanka
Auch wenn der Morgen mich mit sporadischen Sonnenstrahlen weckt, die durch Wolkenlücken und durch mein Dachfenster ihren Weg in mein Bett finden, sieht der Himmel im Allgemeinen nach Niederschlag in nicht unerheblichen Mengen aus. Also früh zum guten Frühstück in die heiligen Hallen des Klosters Domus Maria – ja, dort habe ich übernachtet, mitten in Vilnius. Und heute verspüre ich irgendwie einen gesegneten Appetit. Schnelle Packaktion, um zügig loszukommen und noch vor dem Regen möglichst viele Kilometer zu schaffen. Als erstes Zwischenziel ist die alte Wasserburg von Trakai in meinem GPS einprogrammiert, nicht weit von Vilnius Richtung Westen. Ich erreiche sie noch trocken, allerdings ist in der Vorsaison herzlich wenig los hier. Die Ausflugsboote zur Burginsel sind wetterfest verzurrt und abgedeckt, die Cafés sind bis auf eines geschlossen. Das bedeutet, ich muss den Fußweg über die Holzbrücken nehmen. Da die Burg zu allem Überfluss zwecks Renovierung auch noch eingerüstet ist – wie viele historische Gebäude, nicht nur in Litauen – begnüge ich mich mit einem Foto des verhüllten Bauwerkes von der Festlandseite aus und zähle auf die Möglichkeiten der digitalen Retusche in der Nachbearbeitung.
Es geht also flott weiter und der erste Regen lässt auch nicht lange auf sich warten. Heute wird nicht mit dem Wettergott gepokert. Ich warte nicht so lange wie vor ein paar Tagen mit dem Anlegen der Pelle (ugs. Bikerjargon f. Regenschutzanzug). Da einige Abschnitte Schnellstraße auf der Route liegen und der Regen bisweilen ziemlich heftig herniederströmt, verkürze ich die Tour, lasse den Besuch in Kaunas weg und nehme direkten Kurs auf Šiauliai. Der Wind wird kräftiger, ja zeitweise stürmisch, und ich fühle mich sehr an Südamerika erinnert, wo ich vor zweieinhalb Jahren – wie schnell doch die Zeit vergeht – mehrere Tage mit heftigen katabatischen Westwinden zu kämpfen hatte. Im Grunde eine schöne Erinnerung, die mich die heutige Regenfahrt gewissermaßen genießen lässt. Auf halber Strecke finde ich an einem Kreisverkehr eine kleine Raststätte. Genau die richtige Zeit für eine wärmende Soljanka. Diese Traditionsspeise wird hier überall gereicht und sie etabliert sich gerade auf meiner persönlichen Liste der Lieblingsspeisen. Nun, wohl gestärkt und warm ist der letzte Teil der Regentour keine große Sache mehr, und da ich in Šiauliai beim ersten Versuch ein gutes Hotel finde, das sogar meinen Vornamen trägt, bin ich gar nicht so unglücklich mit dem Tag. Sachen trocknen und die Versorgung aus dem nahen Supermarkt ist sichergestellt, denn Restaurants gibt es keine in der Nähe. Der Tag ist um und morgen scheint wieder die Sonne für mich!
Dienstag, 10. Juni 2025
Ein gewaltig stiller Ort und Sausainiai su karameliniu įdaru
Es ist sieben Uhr als ich wach werde. Der erste Blick geht nach draußen, genau so habe ich mir das vorgestellt: Blauer Himmel, klare Luft und Sonnenschein. Das sind beste Rahmenbedingungen für den Besuch des Kryžių Kalnas, der nur wenige Kilometer vor den Toren von Šiauliai liegt. Im Grunde ist der Kreuzhügel, wie er auf Deutsch heißt, nur ein unscheinbarer Hügel inmitten ansonsten flacher, unspektakulärer litauischer Landschaft. Seine Bedeutung hat er erst durch die Menschen erlangt, die ihn über Generationen zu einem der spirituellsten Orte Europas machten, wie manche sagen.
Unerheblich, ob man den Kryžių Kalnas nun als rein katholischen Wallfahrtsort betrachtet oder im weiteren Sinne als einen Ort der inneren Einkehr, es sind die Menschen, die durch das einfache Aufstellen von Kreuzen, ihren persönlichen Wünschen, ihren Leiden und Fürbitten tiefen Ausdruck verleihen. Das manifestiert Demut, Würde und Kraft. Und Kryžių Kalnas antwortet auf seine Weise. Leise und ebenso kraftvoll, ja fast gewaltig. Wenn man innehält und genau hinhört, spricht er mit einem Rauschen zwischen den unzähligen Kreuzen. Mit leisem, hölzernem Klackern der Rosenkränze, die um Kreuze gehängt sind und sich im Wind bewegen. Hier und da schlagen Metallamulette sanft gegeneinander und versprühen ihre sakramentale Wirkung wie hell klingende tibetische Tingsha. In den Bäumen hängen Hunderte, eher Tausende von Rosenkränzen und kleineren Kreuzen, die wie ein überdimensionales Windspiel klanglos klimpernd aneinanderstoßen. Sie verkünden all die Botschaften, die ihnen einst mitgegeben wurden.
Es ist nicht bekannt, wann die ersten Kreuze hier aufgestellt worden sind. Es muss nach Überlieferungen zur Zeit der polnisch-russischen Aufstände von 1831 gewesen sein, als man für vermisste litauische Freiheitskämpfer betete. Im weiteren Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jh. wurde der Hügel zum stillen Widerstandsort gegen die russische Fremdherrschaft. Als Reaktion darauf verboten die Sowjets in ihrer hilflosen Einspurigkeit unter Gewaltandrohung das Aufstellen von Kreuzen, zerstörten den heiligen Ort mehrfach mit Bulldozern, zogen die Kreuze mit Ketten heraus und brannten sie nieder. Erfolglos. Die Menschen kamen in der Nacht zurück – heimlich, zu Fuß, mit neuen Kreuzen auf dem Rücken oder in der Jacke versteckt. Erst nach der Unabhängigkeit 1990 gelangte der Hügel wieder zu seiner einstigen Bedeutung und wurde zu einem nationalen Symbol für Glauben, Identität und Widerstand.
Ich wandle die Wege entlang, gleich einem Spalier von tausend Kreuzen. Die Pilgertreppe hinauf und ziellos über kleine Trampelpfade, an deren Rändern roter Mohn blüht. Ein älterer, tief in sich gekehrter Mann kommt mir auf Knien entgegen. Langsam, den Kopf gesenkt und in völliger Entrückung des Weltlichen erklimmt er Stufe für Stufe in seiner prostrativen Pilgerschaft den Kryžių Kalnas. Ich bin bewegt von so viel Demut und Hingabe.
Noch immer beschäftigt mich die Wirkung des Kreuzhügels und seine spirituelle Ausstrahlung, als ich schon längst wieder auf meinem Motorrad sitze. Was ist das für ein besonderer Ort? Was macht ihn aus? Keine laute Touristenattraktion, sondern ein leiser Ort. Menschen hinterlassen Kreuze, Botschaften, Ketten, Fotos, Bitten, Gedichte. Symbole und Manifeste ihres seelischen Befindens. Das Fehlen von offizieller Ordnung und Regulativ, jeder ist hier erwünscht. Pilger und Nicht-Gläubige erleben dieselbe emotionale, mystische Wirkung – wenn sie nur ihr Herz und ihren Geist öffnen. Weiterdenken!
Mein weiterer Weg für heute führt mich nach Nida zur kurischen Nehrung. Das ist nicht mehr weit. Dort möchte ich für fünf Tage ausspannen, meinen Kram sortieren, rekapitulieren, Schreibrückstände aufholen und es mir gut gehen lassen. Habe mir ein kleines Ferienhaus am Strand dafür gemietet und freue mich auf Nichtstun und gutes Kochen. Nach fast drei Wochen mal wieder nach Herzenslust einzukaufen, um daraus Schmackhaftes zuzubereiten, ist allein schon eine Freude. Und als ich dann mit vollen Taschen in mein Zuhause auf Zeit einziehe, beginne ich mit einem richtig schönen Kaffeekränzchen. Ich bereite Cappuccino und dekoriere Sausainiai su karameliniu įdaru auf einem Teller. Und um dieser hierzulande beliebten Süßigkeit gerecht zu werden, lernen wir zunächst die litauische Aussprache. Dazu die IPA-Umschrift: [ˈsɐʊ̯sɐi̯nʲɪɐɪ̯ sʊ kɐrɐmʲɛʎʲɪnʲʊ ˈiːdɐrʊ]. Zum Üben findet ihr anbei die Audioausgabe. Es ist nicht schwer. Auf Deutsch heißt das ganz profan nur "Kekse mit Karamellfüllung“, was dem Geschmackserlebnis aber in keiner Weise gerecht wird.
Später noch ein kleiner Spaziergang an der Uferpromenade. Es ist immer noch windig und die kühle Luft tut mir gut. Mal wieder bin ich unterwegs irgendwo angekommen. Eine kontemplative Woche beginnt...
11. und 12. Juni 2025
Primärbedürfnisse und ein Erdbeermond
Ich hatte mir Ausspannen vorgenommen. Die Definition von Ausspannen ist: Planloses Verhalten, das sich an nicht hinterfragten Primärbedürfnissen orientiert, diese bis zur vollständigen Befriedigung bedient und sich dann kritiklos neuen Impulsen hingibt. Gewöhnlich eher notwendige Aktivitäten wie Klamotten waschen, Körperpflege und Gepäck sortieren, sind in den letzten drei Reisewochen sukzessive zu echten Herzensbedürfnissen geworden und fallen deshalb eindeutig unter Primärbedürfnisse. Ich denke nur daran, mit welcher Hingabe ich meine Motorradsocken zuerst dekontaminiert und ihnen dann mit Lavendelseife zu neuer Frische verholfen habe.
Doch im Ernst, ich lebe in die Tage, schlafe so lange ich mag, frühstücke gegen Mittag, gehe an die frische Luft oder auch nicht und lasse den Musikkanal im TV als Untermalung meiner bewussten Zerstreutheit in Dauerschleife laufen. Später ergebe ich mich mit Akribie der Bearbeitung all der Bilder und Filmclips, die unterwegs angefallen sind. Ich bringe Notizen, Gedankenfragmente und Erinnerungen in semantisch korrekte Formen, füge sie zu lesbaren Texten und dekoriere diese mit den zuvor aufbereiteten Bilddokumenten. Lieblingsbeschäftigung! Ein frischer Kaffee und die letzten Sausainiai su karameliniu įdaru aus dem Kühlschrank bilden das Highlight des Nachmittags. Dann setzt sich die schöpferische Arbeit an meinem Blog fort.
In einem kurzweiligen Chat werde ich beiläufig auf einen besonders nahen und roten "Erdbeermond" hingewiesen, der heute Nacht am Horizont erscheinen wird. Ein neues Primärbedürfnis ist geboren – wie schön. Also ziehe ich kurz vor Mitternacht samt meiner für diese Zwecke technisch eher ungeeigneten Reise-Fotoausrüstung an die Uferpromenade. Bei 143° SO soll der Erdtrabant rot aufgehen. Die Nächte sind nicht ganz dunkel zu dieser Jahreszeit, ein einsamer Schwan durchmisst das stille Wasser der kleinen Anlegebucht vor meinem Ferienhaus. Ich friere etwas. Dann kann ich ihn erahnen. Den aufgehenden Vollmond. Kaum wahrnehmbar steigt er orange aus dem Wasser des Kurischen Haffs. Zauberhaft! Ich gebe mein Bestes, diesen mystischen Moment abzulichten, verweile noch ein wenig und als es mir dann doch zu kalt wird, gehe ich zurück ins warme Haus. Der Mond verschwindet hinter Wolken.
So – oder so ähnlich – vergeht die Zeit in diesen Tagen. Leben ohne roten Faden kann so bunt sein! Kontemplation als Quell neuer Lebensenergie. Seeletanken für das, was kommen wird.
13. und 14. Juni 2025
Thomas Mann und eine Anmerkung zu Nida
Sonnenschein über dem Kurischen Haff, ich bin ausgeschlafen. Frischer, heißer Kaffee wird gebrüht und das gesunde Frühstück wartet. So beginnt Freitag, der 13. – was soll da noch schiefgehen? Wilder Aberglaube!
Heute werde ich mich meinem Fast-Namensvetter Thomas Mann widmen. Hier in Nida (dt. Nidden) hat er Anfang der 1930er-Jahre mit seiner Familie gelebt und gearbeitet. Sein sogenanntes Sommerhaus war wesentliche Schaffensstätte von Joseph und seine Brüder. Ein wunderschönes Fleckchen Erde, gelegen auf einem kleinen Hügel namens Schwiegermutterberg. Damals eher eine Düne – heute ist alles hübsch mit Kiefern bewachsen und museal bereinigt. Das einstige Sommerhaus ist ein schönes Kulturzentrum geworden und eines der fünf wichtigen Archive des Werkes Thomas Manns. Es sind nicht viele Besucher anwesend. Ich gehe durch die überschaubaren, kleinen Zimmer des traditionellen Kurischen Hauses. Holzbau mit Reetdach und Giebelkreuz. Drinnen knarzender Dielenboden und sehr gemütlich. In der unteren Etage befinden sich ein Wohnzimmer mit Kamin und eine Veranda mit Blick aufs Haff. Oben sind, neben dem Schlafzimmer, das Arbeitszimmer und die Bibliothek – der "literarische Ort". Ich nehme Platz auf einem Sessel, der dort steht, wo Thomas Mann wohl seinerzeit geschrieben und sich von der Aussicht mutmaßlich hat inspirieren lassen. Auch wenn mich das Werk Thomas Manns – soweit ich es überhaupt gelesen habe – inhaltlich nie wirklich berührte, beeindruckten mich doch seine Erzählkunst und sein Stil umso mehr. Die wenigen Zitate neben den Exponaten, die ich im Museum lese, versetzen mich spontan vierzig Jahre zurück in die Zeit, als ich mich mit größter Begeisterung der Literatur und Philosophie widmete. Meine Leistungskursklausur schrieb ich zum Tod in Venedig.
Es ist schön in Nida – es ist früher schöner gewesen. Das Schicksal hat Nida ebenso erbarmungslos getroffen wie viele einst idyllische und lebenswerte Orte, an denen Menschen noch vor nicht allzu langer Zeit, unbehelligt von kommerzieller Profitsucht, ungestört ihr bescheidenes Zuhause hatten und ein weitgehend glückliches Leben führten. Ich spare mir eine detaillierte Beschreibung der vergewaltigten Urwüchsigkeit Niddens, der Dünenlandschaft und Haffstrände. Es sind gepflasterte, E-Scooter-taugliche Uferpromenaden mit betonierter Wasserkante geworden. Die von Mährobotern steril geschnittenen Vorgärten langweilen, und die dazugehörigen bunten Holzhäuser dienen nur noch einem Zweck: als Ferienwohnung. Gefühlt jeder zweite Laden im geleckten, aber charakterlosen Dorfzentrum verkauft dieselben Bernsteinandenken oder dekorative Baumarktkunst – maritime Motive auf bestenfalls Amateurniveau. Hier leben dauerhaft 1.500 Menschen – in der Sommersaison sind es bis zu 6.000 Bewohner! Gleichzeitig. Täglich. Offiziell belegt. Und was schrieb Thomas Mann vor ziemlich genau 95 Jahren vorausschauend dazu? Lest selbst!
Beiseite mit den negativen Gedanken – ich genieße die Zeit wie zuvor, sitze am Ufer und schaue den Gänsen zu oder genieße meine kreative Zeit am Schreibtisch. Abends koche ich etwas Gutes und schlafe mir die vergangenen viertausend Kilometer aus den Knochen, womit auch der letzte Tag gefüllt wird. Dann heißt es, die frisch gewaschenen Sachen zu packen und den Rückweg etwas vorzuplanen. Das Wetter soll nächste Woche im gesamten Ostseeraum prächtig werden, und ich habe mich entschieden, Danzig zu streichen – Städte möchte ich auf dieser Tour nicht mehr. Ich freue mich auf die Fortsetzung morgen früh – und sage für heute: Gute Nacht.
Sonntag, 15. Juni 2025
Die Rückreise beginnt
Das wars auf der Kurischen Nehrung. Heute ist der erste Tag meiner Rückreise. Ich fahre Richtung Südlitauen in den Nationalpark Dzūkija. Das Reisewetter kann nicht besser sein und auch die ganze nächste Woche verspricht Bestes. Die fünf Tage in Nida waren sehr entspannt und ich konnte mich wunderbar von der Fahrerei erholen. Über Nida selbst habe ich bereits berichtet, und da sich meine Begeisterung für den Ort in Grenzen hält fiel der Abschied auch nicht schwer. Die kleine Fähre in Klapeida bringt mich zurück ans Festland und kurz darauf habe ich die Zivilisation schon wieder hinter mir. Ich genieße die Fahrt durch grüne oft menschenleere Landschaften, immer sehr nah an der russischen Exklavengrenze von Kaliningrad entlang. Hier ist die Memel der Grenzfluss zwischen Litauen und Russland. Später kreuze ich die Memel mehrere Male auf dem Weg durch den Memelschleifenregionalpark – Nemuno kilpų regioninis parkas heißt der klangvoll auf Litauisch. Mein Übernachtungsziel ist Alytus, eine Kleinstadt auf dem Weg, die mich mit einem größeren Volksfest empfängt. Ich bin früh dort, was mir Zeit gibt, dem sehr traditionellen Treiben in der Innenstadt beizuwohnen. Neben den üblichen Spaßeinrichtungen für Kids, wie Karusselle und Hüpfburgen, findet im Waldpark von Alytus ein Konzert mit Tanzdarbietungen statt. Ein bemerkenswerter Ort, denn das Ortszentrum ist im Grunde ein lichter Kiefernwald, in dem Stätten für Kultur und Zerstreuung verteilt sind. Die Teilnahme am Volksfest ist rege und ich lasse mich auf litauische Heimatklänge mit Folkloretanz ein – zumindest interpretiere ich das so, denn verstehen kann ich nicht ein Wort.
Das Fest geht noch lange bis in den späten Abend, aber ich habe Hunger und kehre ein in ein kleines Restaurant am Platz vor meinem Hotel. Bevor ich die Nachtruhe einläute, programmiere ich noch meine Route für morgen ins Navi, dann lösche ich das Licht und hoffe auf geruhsamen Schlaf.
Montag, 16. Juni 2025
Der letzte Tag durchs Memelland
Mein Plan ist, irgendwo in Masuren an einem schönen Ort zu verweilen, um am Freitag in Berlin anzukommen und Freunde zu treffen. Samstag soll es dann zurück nach Hause gehen. So jedenfalls der Plan. Aber wie so oft kommt es dann ganz anders. Nein, es ist diesmal nicht das Wetter. Es ist zum einen, dass Orte, die ich mir angekreuzt habe, mich schon bei Annäherung abschreckten und ein technischer Grund: Meine Reifen sind dermaßen heruntergefahren, da muss jeder Zusatzkilometer genau überlegt werden. Doch der Reihe nach.
Ich verlasse Alytus schon früh, nachdem ich mich mit einem üppigen Frühstück gestärkt habe. Die Sonne scheint und kaum drei Kilometer vor dem Städtchen beginnt grünes Umland. Wieder begegne ich der Memel mit ihren vielen Schleifen und quere abermals ihr ruhig dahinfließendes Wasser. Der alte Burghügel von Merkinė mound und die Mündung des Merkys in die Memel laden mich zu so früher ruhiger Stunde zum Verweilen ein. Dann heißt es Abschied nehmen von Litauen, ich passiere die schmucklose Grenze nach Polen. Auch hierzulande säumen unzählige Storchennester meinen Weg durch die kleinen Dörfer und über einsame Nebenstrecken. Überall blühen Frühlingsblumen und es riecht nach frischer Mahd. Die Masurische Seenplatte – wie sollte es anders sein – ist ein Labyrinth aus Wasserläufen und Seen und die Brücken sind bisweilen so klein, dass nicht jeder passieren kann. Für Bienchen und mich ist das aber nirgendwo ein Hindernis. So auch nicht die kleine Brücke am Kulla-Kanal über den Jezioro Boczne.
Nun, und dann kommt die erste Enttäuschung. Ein im Internet hübsch präsentiertes kleines Hotel in der Nähe von Mragowo empfängt mich mit einer Umgebung, die durch unstrukturiertes Gewerbe wie aus altrussischen Zeiten geprägt ist. Nein, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich halte nicht einmal an und fahre einfach weiter. Der Himmel bezieht sich und es beginnt leicht zu tröpfeln. Pause? Abwarten? Kurzer Stopp an einem Supermarkt mit kleiner Stärkung, dann nutze ich ein regenfreies Wolkenfenster und fahre recht zügig immer weiter westwärts. Es gelingt, ich bleibe trocken und der Regen liegt hinter mir. Allerdings liegt auch Masuren hinter mir und damit meine letzte schöne Gegend, die ich für ein paar entspannte Tage vorgesehen hatte. Noch einen kleinen Umweg zu machen und eine weitere Schleife zurück nach Masuren zu drehen, schließt sich aus. Meine Reifen sind wie bereits erwähnt nah an der Verschleißgrenze, was bei trockenem Wetter kein Risiko darstellt, allerdings im ungünstigsten Fall einer Kontrolle erheblichen Ärger zur Folge haben könnte, den ich unbedingt vermeiden möchte. Am Ende des Tages erreiche ich schon Gniezno – schneller als gedacht. Ich finde sogar ein preiswertes Hotel direkt am Rathausplatz, was will ich mehr? Mittlerweile ist auch die Sonne wieder da. Ein abendlicher Spaziergang tut mir gut und ein japanisches Restaurant serviert Ramen. Da kann ich nicht nein sagen.
Und so beschließe ich bei einem schönen letzten Dinner in Gniezno, morgen auf dem schnellsten Weg nach Hause durchzufahren und beende meine Reise jetzt und hier. Der Rest ist Asphalt.
Die Baltikum-Tour ist damit zu Ende, ich habe so viel Neues und Schönes gesehen, was mich wie immer mit einer großen Dankbarkeit erfüllt, das erleben zu dürfen! – Wie schön, dass Ihr dabei wart.
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