9. November 1989
Der Fall der Berliner Mauer
Da stehen wir nun auf der Mauer am Brandenburger Tor. Mein Nachbar Martin, mit dem ich hierher gefahren bin, und ich und vielleicht einhundert Menschen, die vermutlich das gleiche Gefühl in sich tragen wie ich. Nein, nicht die Freude oder die Aufregung über das sich nun endgültig abzeichnende historische Ereignis der Grenzöffnung, sondern die Unsicherheit, ob nicht doch ein Vopo durchdreht oder die Situation irgendwie anders eskaliert. Es hängen mehrere Feuerwehrschläuche über die Mauer, die man aus ihren Kästen in der Nähe zweckentfremdet hat und die jetzt dazu dienen, die Mauer zu erklimmen, indem man sich gegenseitig an ihnen hochzieht. Und wenn man an ihnen hochklettern kann, dann kann man auch daran herunterklettern. Auf der anderen Seite. Denke ich mir. Ist das vernünftig? Ist das gefährlich? Was kann passieren?
Der Pariser Platz ist leer, es ist leicht dunstig und kühl. Die gelblichen Lampen auf der Ostseite schaffen es nicht, den gesamten Platz zu beleuchten. Es ist dieses typische, kontrastarme, gelbe Licht der Natriumdampflampen, das seine Lichtflecken ungeordnet um das Tor verteilt. Was ist nun? Klettern wir runter? Die Unsicherheit der Situation ist aufdringlich.
Wir sind nur drei oder vier, die es wagen, sich auf der Ostseite herunterzulassen und DDR-Boden zu betreten. Es ist ganz einfach, die Feuerwehrschläuche sind hilfreich. Jemand reicht mir meine schwere Kamera herunter, als ich unten bin. Dann bewege ich mich langsam auf das große Tor zu. So nah war ich ihm noch nie, ich fasse die kalten Wände an. Es ist eine Mischung aus Ehrfurcht, Angst und völliger Überwältigung. Ich erlebe gerade das Ende einer Republik, denke ich mir. Ich bin ein winziger Teil eines historischen Ereignisses, das kaum ein paar Stunden alt ist und dessen Ausgang noch niemand kennt. An den mächtigen Säulen des Tors sehe ich die vielen Einschüsse aus dem zweiten Weltkrieg. Die jubelnden und skandierenden Menschen hinter mir auf der Mauer nehme ich nicht mehr wahr. Rechts und links von mir ist auch keiner mehr. Ich bin ganz alleine. Es dauert einen Moment der Besinnung, dann durchschreite ich mit angemessenem Schritt dieses majestätische Monument in Richtung Osten, gehe immer weiter, mache ein paar Fotos, drehe mich um und gehe wieder weiter, bis ich an dem kleinen Zaun am Ende des Pariser Platzes ankomme. Dort wo im Osten "Unter den Linden" beginnt. Die wenigen Volkspolizisten sind wortkarg, aber sehr freundlich. Sie wirken irritiert aber irgendwie erleichtert auf mich, sie lächeln zaghaft und lassen mich gewähren. Weit hinter mir folgen die zwei, drei anderen Menschen, die auch von der Mauer heruntergeklettert sind, sonst niemand. Bin ich wirklich der erste Zivilist, der soeben nach 28 Jahren wieder durch das Brandenburger Tor gegangen ist? Ich kann es nicht sicher sagen, ein unglaublicher Gedanke! Aber so schnell wie er gekommen ist, so schnell verschwindet er auch wieder. Es ist in diesem Moment nichts unwichtiger, als der Erste zu sein oder nicht.
Mittlerweile haben viele Menschen die in diesem Abschnitt verbreiterte Mauer erklommen und die besonnenen Vopos bilden eine lange Kette, um den Run über die Mauer zu verhindern. Sie haben schlichtweg Sorge, dass unter der wachsenden Menschenmenge auf der Mauer etwas einstürzt oder dass es Verletzte durch Stürze gibt. Freundlich bittet mich ein älterer Polizist, auch nicht durch das Tor zurückzugehen, sondern den Übergang Invalidenstraße zu nutzen: "Wenn de aus'm ersten Stock aus'm Fenster springst, denn musste och durche Tür wieda rinn!" Invalidenstraße sollte bereits geöffnet sein, informiert er mich noch, dann zieht er seinen Mantelkragen zusammen und vergräbt seine Hände wieder in den warmen Taschen. Sein Atem mischt sich mit dem Dunst der kalten Nacht. Ich mache mein einziges Foto von der Totalen und suche mir den Weg durch das dunkle, unbekannte Ostberlin zur Invalidenstraße.