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🇦🇷 Auszeit 2022 - Patagonien

6. Dezember 2022 - Ruta 40 bei Windstärke 6

Unmögliches Frühstück, Hauptsache der Kaffee wärmt. Kurz tanken. Dabei treffe ich eine ganze Truppe Enfield Bikerinnen und Biker, eine wunderbare Horde auf indischen Eisenmopeds. Werkstattwagen fährt hinterher! Selten so ein lustige Bande getroffen. Ich mag mich kaum verabschieden, aber mein Bienchen passt einfach nicht dazu. Lustiger Start in den Tag.

Ansonsten gibt es heute nicht viel Abwechslungsreiches zu berichten, wenn auch die 230 Kilometer bis zur Stadt Gobernador Gregores eine unglaubliche Landschaft präsentieren. Für den, der es mag. Ich bin einer von jenen. Die Straße geht einfach nur geradeaus, der Fluchtpunkt ist mit bloßem Auge nicht mehr auflösbar. Die unterbrochenen Straßenmarkierungen bilden bei der Fortbewegungsgeschwindigkeit feine Linien, die den Blick sicher führen. Flächenkontraste in Pastellfarben dominieren die Gestaltung der Bilder, die in meinen Kopf eingehen und Ruhe auslösen. Der ockerfarbene Boden der Pampa und der sandgebleichte Himmel werden durch die feine, genau horizontale Linie der winzigen Andenkette am fernen Horizont zerschnitten. Irgendwann geht die Bildschärfe völlig verloren und ich schwebe wie in einem Traum alleine über die Ruta 40.

Der Wind ist massiv. Windstärke fünf bis sechs bläst permanent von Westen, also aus meiner Sicht von rechts. Ich glaube Patagonien ist das Land, in dem man mit dem Motorrad eine Linkskurve mit Rechtslage fahren kann. Unglaublich. Diese katabatischen Winde sind nicht zu unterschätzen, sie können derart kräftig werden, dass Fahrten mit dem Motorrad zur Grenzerfahrung werden, auf Schotterpisten sind sie unmöglich. Es sind schon Motorräder meines Kalibers einfach umgeblasen worden, samt Fahrer. Heute ging es, keine Experimente, einfach nur geradeaus bis Gobernador Gregores. Tanken, Öl, schönes Hotel suchen und ausruhen. Der Pass von gestern steckt mir noch in den Knochen.

Nebenan im Zimmer wohnt Simon, ein sehr netter Schweizer, genauso jung wie ich, dessen Moped im selben Container war wie meines. Wir plaudern und amüsieren uns den ganzen Abend bei Käse, Chorizo, Brot und Wein. Ich bekomme noch einige sehr nützliche Tipps für morgen und die gute Nachricht, dass es windstill sein wird. Nicht allzu spät geht’s dann in die wohlverdiente Falle, ich will morgen Früh um 6:00h los, denn ich muss vor dem Regen die Schotterpiste hinter mir haben. Gute Nacht, ein richtig schöner Abend.

7. Dezember 2022 - „Los 73 Malditos“ und Sehnsuchtsziel Cerro Torre

Kaum, dass ich den Pass vorgestern erfolgreich aber kräfteraubend hinter mich gebracht habe, steht heute die nächste und vorerst letzte Prüfung nach Süden an. „Los 73 Malditos“. Übersetzt bedeutet das „Die verdammten 73“. Gemeint ist ein gut 73 Kilometer langer Abschnitt Schotterpiste auf der Ruta 40. Der Ausbau dieses Abschnitts wurde von der argentinischen Regierung zwar bezahlt, aber von der Baufirma nie fertiggestellt. Und er ist übel! Der Boden ist teils lehmig und bei Regen eine Falle. Anfang dieses Jahres wurde die Ruta 40 genau aus diesem Grund an dieser Stelle komplett gesperrt. Das heißt, die einzige Nord-Süd-Verbindung war unterbrochen. Umfahrungen sind vierstellige Kilometerzahlen!

Ab 11:00h wird es heute wahrscheinlich regnen, deshalb steht mein Wecker auf halb sechs. Ich wache vor dem Wecker auf und packe meine Sachen. Nicht meine Zeit, ein starker Kaffee hilft dem Kreislauf leidlich auf die Sprünge. Draußen sind es 4°C, es ist gemäß Simons Vorhersage windstill. Am Horizont färbt die Sonne den leicht wolkigen Himmel orange, die Hunde in den Straßen legen sich zur Ruhe. Frühstück wird durch die restlichen Kekse von gestern substituiert, mehr bekomme ich um diese Uhrzeit auch gar nicht runter. Das Einkleiden dauert etwas, die volle Kältemontur ist angesagt und um Punkt 6:30h verlasse ich den Hotelparkplatz. Die Straßen sind leer und mein Navi übertreibt schon am frühen Morgen mit drei Kilometern Schotterabkürzung bis zur Ruta 40. Ihr ahnt es schon, es steht mal wieder auf „Motorrad“, was heißt „unbefestigte Straßen erlaubt“. Was dieses Gerät so denkt, was zu dieser Uhrzeit mit dem Motorrad schon alles geht. Fast lustig! Jedenfalls ist das schon der erste wichtige Schub Adrenalin, denn den richtigen Spaß habe ich ja noch vor mir. Es sind gute achtzig Kilometer zum Einstieg in die Malditos, die Stelle habe ich mir x-Mal im Netz angesehen, ich bin vorbereitet. Dann kommt der Moment der Wahrheit. Runterschalten Sechs auf Zwei und jetzt durchhalten. Im Einzelnen kann ich den Verlauf gar nicht schildern, jeder Belag wechselt sich mit jedem ab, ich bin der einzige Mensch auf der Piste. Guanakos rennen hier oben reichlich herum, Nandus sind zur frühen Stunde mit ihrem Nachwuchs unterwegs und die Hasen flüchten vor Bienchens Geräuschen. Die lehmigen Stellen sind trocken, da geht’s sehr zügig voran. Allerdings wechseln die Beläge sowas von schnell, dass grundsätzlich eine langsame Fahrweise ratsam ist. Der Mittelteil ist lang und gerade, was eine Häufung des Kieses zur Folge hat. Mit Schotter ist das Zeug nicht mehr zu bezeichnen. Es gibt sechs, manchmal acht Fahrrinnen, die von den kirsch- bis tischtennisballgroßen Steinen freigefahren sind. Diese kann ich nutzen, aber nicht in voller Fahrt wechseln. Enden sie, dann muss ich in langsamer Fahrt die Häufungslinien überfahren. Sehr mühsam und zeitraubend. Diese Tortur zieht sich locker über fünfzehn Kilometer, dann wird es leichter befahrbar. Allerdings ist der Boden hier mit fußballgroßen Steinen gespickt (keine Übertreibung), die halb „einbetoniert“ sind in den ausgehärteten schluffigen Boden. Im Slalom vorbeifahren heißt schlingern, die Rinnen sind nämlich nach wie vor einzuhalten. Touchieren heißt versetzen, Scheißgefühl. Drüberfahren tut Bienchen weh! Ich will es nicht zu sehr detaillieren, der defensive Kompromiss aus allem ist die Lösung, schön ist aber was anderes. Ich treffe noch drei andere Motorradfahrer, wir sprechen uns gegenseitig Mut zu und wünschen uns in demütiger Ergebenheit der Verhältnisse eine gute und sichere Fahrt. Und genau wie vorgestern haben es die letzten 300 Meter vor dem erlösenden Asphalt noch einmal in sich. Zwanzig Meter breite Piste und feinster Buddelkastensand. So tief, dass das Vorderrad über die Felge versinkt. Es fehlte nicht viel und ich wäre fünfzig Meter vor dem rettenden Ende im sandigen Graben gelandet. Die Spuren bezeugen, dass ich nicht der Erste gewesen wäre. Doch Bienchen steht. Beherzt anfahren, es wird laut, Sand fliegt und dann irgendwie, ganz ungestüm, zur rettenden Asphaltkante eiern. Motor aus, abstellen, absteigen und der zweite erlösende Jubel dieser Tour. Heute sind wir Helden!

Die verbleibenden 147 Kilometer sind ein Genuss. Kein Wind, fester, glatter Untergrund, Seitenblicke möglich und ich komme gut voran. Das letzte Stück bis El Chaltén zieht sich etwas und es wird merklich kälter. Jedoch lenken die anwachsenden Bergketten am Horizont von der Eintönigkeit ab. Ganz im Norden kann ich schon Fitz Roy und Cerro Torre erkennen. Unglaublich, dass das Navi noch über siebzig Kilometer anzeigt. Was für ein Willkommen, allein dass die Berge sich trotz des mäßigen Wetters so bereitwillig zeigen. Die bizarren Nadeln des Cerro Torre wachsen in den Himmel je näher ich komme. Fitz Roy steht still und imposant daneben. Die Sehnsuchtsberge für so manchen Kletterer, ein Sehnsuchtsziel auch für mich, und dass ich es mir mit meinem Motorrad so hart erarbeitet habe, macht mich stolz und dankbar zugleich. Für einen Moment sogar glücklich. Ich bin am Cerro! Unfassbar!

Der Rest des Tages ist gemütlich im Hotel einchecken, café con leche und einen Apfelstrudel im Café. Es hat sich eingeregnet, aber darum kümmere ich mich morgen. Was für ein Wahnsinnstag!

Und dann kommt doch noch eine Horrormeldung von den anderen Bikern, die ich immer wieder getroffen habe und zu denen ich Kontakt behalte, was äußerst nützlich ist hinsichtlich Streckenbeschaffenheit, Sperrungen, Grenzen, Fähren, Hotels und vielem mehr. Heute Morgen, nur ein paar Stunden nach mir, ist eine gemischte, internationale Gruppe ebenfalls von Gobernador Gregores gestartet und hatte genau wie ich die Herausforderung der „Malditos“ vor sich. Einem sehr guten Fahrer, von dem ich mir vor ein paar Tagen noch einiges abgeguckt habe, ist die Tücke der Piste zum Verhängnis geworden. Vorab, es geht ihm wieder gut, auch wenn er ein paar Tage im Krankenhaus bleiben muss. Die Jungs haben die Etappe natürlich abgebrochen, erst einmal den Kollegen versorgt und dann selbst den Schock verarbeitet. Nach eigener Einschätzung waren sie zu schnell unterwegs. Mich hat das auch ziemlich erschreckt und einige Überlegungen zur Folge gehabt. Wichtigste Erkenntnis daraus ist für mich, dass es absolut essentiell ist, seinen Stil zu fahren und dem auch treu zu bleiben. Lernen von besseren Fahrern ist klug und kann man viel, aber für Experimente ist hier absolut kein Platz. Das größte Risiko liegt nach meiner Einschätzung in der Überschätzung - der Selbstüberschätzung. Oft ist die Sehnsucht nach spektakulären Geschichten, tollen Selfie-Shots und die Jagd nach der Superlative der Motor der Unvernunft. Sicherlich sind meine Bilder und Geschichten in aller Bescheidenheit auch ein wenig Abenteuer und spektakulär, aber nichts davon habe ich getan, um zu glänzen oder um mehr zu sein als ich bin. Ich möchte einfach nur erzählen, wie es für mich ist, meine Komfortzone zu verlassen. Damit möchte ich die eine oder den anderen von Euch motivieren, es auch mal zu wagen. Mit reichlich Neugier, in Kenntnis der Risiken und mit Dankbarkeit für das Erlebte. Und bitte, messt Euch nicht mit dem falschen Glanz der omnipräsenten, profilneurotischen Internet-Narzissten, das ist nur verlorene Zeit. Genug der Gedanken. Karma!

8. Dezember 2022 - Tanken, Luft und Pause in El Chaltén

Kein Wecker, keine Termine mit der Straße, einfach ausschlafen. Das dauert genau bis neun Uhr, dann bekomme ich Hunger. Das Frühstücksbuffet ist eine Ernüchterung, da hätte ich auch im Bett bleiben können. Der Kaffee und das Obst sind ganz gut, der Rest etwas dürftig. Brot hat hier noch nie meine Begeisterung geweckt, aber dieses Material verdient nicht einmal den Namen. Eine blasse, dröge, bröselige Substanz, die auch im bereitstehenden Profitoaster keine Verbesserung erfährt. Sie ist vermutlich nur als Trägersubstanz für die Aufstriche ähnlicher Qualität gedacht. Die beiden bunten Marmeladen schmecken nach Früchten, die sich als Nussaufstrich präsentierende, glasige Paste ist alles andere, aber nichts mit Nüssen. Drei Sorten Corn Flakes und verdünnter Fruchtjoghurt runden das Desaster ab. Käse, Wurst, Eier, Gemüse - no hay! Genug genörgelt, ich esse mich satt, wenigstens das.

Das Wetter ist durchwachsen, dann und wann ein paar Tropfen von oben, die Sonne lässt sich nicht sehen. Es reicht um tanken zu fahren, vormittags ist die Tankstelle schön leer, neue Gäste kommen gewöhnlich nachmittags an, dann kann die Schlange schonmal eine Stunde Wartezeit bedeuten. Einmal voll bitte! Die Frage nach Luft für die Reifen wird verneint, da müsse ich in den Ort fahren zum Reifenhändler. Mache ich.

Die Wegbeschreibung des Tankwarts war sehr gut. Auf der Straße der Reifenwerkstatt steht ein etwas antiquarischer Kompressor, in dem leeren Ladenlokal hängt ein Schild „Cerrado“. In der Kieseinfahrt nebenan ein auf Holzklötze aufgebockter Pickup, vier kräftige Burschen hocken in der Reifenwerkstatt, rauchen und plaudern. Von meiner Unterbrechung der gemütlichen Runde ist man offensichtlich nicht begeistert, der Reaktion zu Folge scheint es eine seltene und äußerst komplizierte Dienstleistung zu sein, zwei Motorradreifen aufzupumpen. Gönnerhaft weist mich Macho Nr. 1 an, das Moped in die schmale Einfahrt zu fahren. Och nee! Tiefer Kies, auf dem schon laufen schwierig ist. Späteres Wenden unmöglich, wie soll ich die Karre denn rückwärts da wieder rauskriegen? Nun gut, ich brauche Luft. Dann kommt Machito Nr. 2 mit einem nur aufs Nötigste abgerollten Pressluftschlauch. Das Ding ist mindestens fünfzehn Meter lang und hätte locker bis zur Straße gereicht. Ich liebe Arbeitsminimierer dieser Art. Für eine Reifenwerkstatt bricht sich der Mann mit seinem uralten Prüfmanometer ganz schön einen ab, meine beiden Reifen korrekt zu füllen. Ich erleichtere ihm den Job und sage ihm den aktuellen Druck aus meinem Cockpit an. Knurrig nimmt er die Information entgegen und hält sich an meine Kommandos. Zack, fertig. Er rückt mit seinem unbenutzten Manometer wieder ab, wenigsten muss er jetzt nicht so viel Schlauch wieder aufwickeln. Sehr mühsam schiebe ich mein Moped rückwärts durch den tiefen Kies, als ich fast auf der Straße bin kommt Macho Nr. 1 noch einmal und legt eine Hand an, was allerdings mehr zum Ungleichgewicht beiträgt als dem Rückschub dient. Auf meine höfliche Frage, was es kostet, wird ein Betrag von umgerechnet 3,50€ aufgerufen. Dafür bekommt man im Supermarkt schon eine Flasche guten Wein. So ist das in Argentinien, wenn Monopole auf Bedarf stoßen. Reifen wieder straßentauglich, alles bestens, den Rest vergesse ich einfach.

Die Aktivitäten sind damit für heute abgeschlossen, ich mache einen Spaziergang durchs Dorf und schaue nach Wanderkarten, allerdings stelle ich fest, dass diese völlig übertrieben sind für das, was ich vorhabe. So schön sie sind - und ich mag Karten doch so gerne - kaufe ich dennoch keine, zu teuer wären sie allemal gewesen.

Noch ein wenig Schreibdefizite aufholen und Bilder aufbereiten, dann ist es schon wieder Zeit für Abendbrot in einem der vielen netten Läden hier und der kalte Abendwind scheucht mich anschließend direkt in mein gemütliches Hotel. Das war ein schöner Pausentag.

9. Dezember 2022 - Wanderung zur Laguna Torre

Um sieben Uhr werde ich von alleine wach und die Sonne strahlt in mein Zimmer. Ein Blick aus dem Fenster zeigt blauen Himmel. Ich bin noch total müde, aber die Chance auf eine trockene Wanderung zur Laguna Torre mit klarer Sicht lasse ich nicht aus. Anziehen, pragmatisches Frühstück, es ist nicht besser als gestern, dann los!

Schnell ist alles nötige Zeug im Tagesrucksack, leichte Wanderbekleidung an und auf zum „Sendero a Laguna Torre“. Er beginnt zwei Blocks hinter meinem Hostal und nach zwanzig Minuten bin ich im Wandermodus. Es ist acht Uhr fünfzehn und es geht stramm bergauf. Große Steine dominieren den Weg, hohe Stufen fordern die Kniegelenke schon auf den ersten Kilometern. Es sind einige Leute heute Morgen unterwegs, kein Wunder, die Laguna ist ein absolutes Highlight. Wenn, ja wenn die Sicht stimmt! Und genau das ist die große Unbekannte am Torre, er ist einer der markantesten Gipfel und einer der verhülltesten. Nicht selten warten Bergsteiger in El Chaltén wochenlang auf gutes Aufstiegswetter, aber die Wolken verziehen sich einfach nicht. Immer neue Schwaden ziehen von Westen heran, zwängen sich zwischen den engen Nadeln hindurch und verhüllen die Gipfel dann auch von der Ostseite. Ein einzigartiges Mikroklima. Allerdings nicht zur Freude der Besucher, die darauf hoffen, diese wunderschönen, bizarren Gipfel erblicken zu dürfen.

Nach jedem Kilometer steht auf dem Weg ein Holzschild, das über die zurückgelegte Strecke informiert. Es geht gefühlt zügig voran. Der erste Hügel ist geschafft, ich erreiche einen Aussichtspunkt über die gigantische Endmoräne des Torre Gletschers, die mittlerweile mit einem Bergwald bewachsen ist. Der Blick schweift bis zum wolkenfreien Gipfel des Fitz Roy und zum Cerro Torre. Nun ja, wenn letzterer denn dann auch sichtbar gewesen wäre. Mit etwas Fantasie lässt sich die Spitze der Nadel über den Wolken erahnen, aber richtig sehen und bewundern, Fehlanzeige. Es bleibt die Hoffnung. Ich wandere weiter. Sehr bequem schlängelt sich der Weg durch die flache Ebene, teilweise so schmal durch den Krüppelwald, dass gerade eine Person hindurchpasst. Kilometer sechs, sieben und acht liegen hinter mir, das Gelände steigt wieder an, hinauf auf den Schutthügel des Gletschergeschiebes, der auch den stauenden Rand der Laguna - des Gletschersees - bildet. Der Wind vom Gletscher herab zieht heftig an, es ist eiskalt hier oben. Ich ziehe meine Windjacke an und schließe sie bis oben. Die Farben bei bedecktem Himmel sind fahl und beschränken sich auf ocker, milchkaffeebraun und aschgrau. Einzig hervorstechend ist das kalt leuchtende türkis der im See schwimmenden Eisberge. Sie geben dieser Seite des Sees auch den Namen „Playa de Icebergs“. Ich suche mir eine windstille Ecke hinter einem dicken Stein und mache Brotzeit. Die Stelle, wo der Torre steht, bleibt unverändert bewölkt, bleibt unverändert bewölkt, bleibt unverändert bewölkt...

Meine Brotzeit ist lecker und füllt die Energiereserven wieder auf. Gestärkt mache ich mich auf zu einem kleinen Strandspaziergang und beobachte die schaukelnden Eisberge. Schön in ihrer Gestalt und schön in ihrer türkisen Farbe. Direkt am Ufer werden hunderte von wunderschönen glasklaren Eisfiguren angeschwemmt, die in Kürze verschwindenden Überbleibsel von teils Jahrtausende altem Eis. Sie schaukeln in den kleinen Wellen und klingen wie Eis in einem Cocktailglas. Wenn schon der große Torre nicht zu sehen ist, dann beschäftige ich mich halt mit den kleinen Dingen. Ich hole mir einige der Kristalle aus dem eisigen Gletscherwasser und lasse sie auf den Steinen für Fotos posieren. Wenn jetzt noch im Bildhintergrund der Torre zu sehen wäre... Nein, stopp, ist nicht, Schluss mit Jammern!

So vergeht die Zeit und der Rückweg steht an. Wie schon zuvor komme ich flott voran, da sind neun Kilometer nicht so dramatisch. Ich bleibe bei der Devise, mich den kleinen Dingen zu widmen und finde unglaublich viele Blumen und andere Pflanzen, die jetzt im Frühling dem rauen Klima trotzen. Die Flora in derart unwirtlichen Gegenden fasziniert mich immer wieder. Ob Alaska, Lappland, Island, Kaukasus, Himalaya, Atlas, Neuseeland oder jetzt in Patagonien, nirgendwo anders als in diesen lebensfeindlichen Klimazonen kann man tatsächlich phänotypisch sehen, mit welchen Strategien die Evolution der Flora eine Widerstandskraft gegeben hat, die Ihresgleichen sucht.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, kaum merke ich die Kilometer retour durch die Endmoräne der beiden Gletscher „Glaciar Grande“ und „Glaciar Torre“. Ich bin überwältigt von den gigantischen Dimensionen des Geschiebefeldes und gleichzeitig begeistert von der Winzigkeit der Blumen, Sukkulenten und der Blätter an den krüppeligen Bäumen. Die Vögel, die kaum Scheu vor den Menschen haben, fliegen auf kürzeste Distanz heran und begleiten mich auf meinem Weg. Gegen Nachmittag erreiche ich wieder den Mirador über den Canyon des Río Fitz Roy und die Cascada Margarita. Jetzt ist es nur noch ein kurzer Abstieg hinunter nach El Chaltén und ich freue mich nach sechs Stunden Wandern auf eine heiße Dusche und mein Abendbrot.

Tja, das mit der Dusche hat geklappt, das Abendbrot muss noch etwas warten. Argentinien spielt heute Fußball, keine Ahnung gegen wen, aber hier geht nichts mehr. Alles sitzt in überfüllten Kneipen vor der Glotze, gelegentliches Raunen oder Torjubel durchziehen abwechselnd das ganze Städtchen. Aus der Häufigkeit dieser akustischen Tsunamis schließe ich auf Elfmeterschießen. Ein letztes anhaltendes Gebrüll verkündet offensichtlich den Sieg der Heimatmannschaft. Es folgt der unmittelbare Übergang zu hupenden Autokorsos, bei denen ganze Familien auf den Ladeflächen von Pickups durchs Dorf kutschiert werden. Fahnen werden geschwenkt oder einfach hinter sich hergezogen bis sie reißen, selbst die Polizei mit ihrem einzigen Auto nimmt lautstark an der Hysterie teil. Ich hab Hunger! In einem Restaurant, das nach der Elfmeterschlacht selbst aussieht wie nach einer Wehrübung, schaffe ich es, meine Essensbestellung zu platzieren. Alle sind überglücklich und ich etwas später auch mit meiner heißen Suppe, dem leckeren Salat und einem frisch gezapften Bier. Der Lärm ebbt nur langsam ab, als es schon stockduster ist, komme ich endlich zum verdienten Schlaf. Gute Nacht!

10.-11. Dezember 2022 - Schontag, Spazierwanderung und neue Bekannte

Ich kann El Chaltén sehr einfach zusammenfassen: Es ist überaus entspannend hier, trotz der Tourikirmes ein beschauliches Örtchen in toller Bergkulisse. Es schenkt meinem Gemüt ein ganz klein wenig die so wichtige Ruhe und meiner strapazierten Physis die erforderliche Schonung.

Die Morgen beginnen mit weckerlosem Erwachen, einem zwar einfachen, aber gemütlichen Frühstück und dann überlasse ich alles Weitere der spontanen Entscheidung oder dem Schicksal. So wie heute. Kurz nach dem zweiten Kaffee bittet man mich zur Rezeption, ich sei dort erwünscht. „Tag, ich heiße Christoph, hast du Öl für mich?“ So begrüßt mich - etwas verkürzt -  ein netter Biker, der Bienchen im Vorgarten gesehen hat. Klar habe ich Öl und kann auch gerne aushelfen. Wir kommen ins Plaudern und verabreden uns nach der Öl-Aktion zum Abendbrot. Prima, ich freue mich. Bis dahin habe ich nichts Großes oder Wichtiges vor, der kleine Trail zum Chorrillo Del Salto erscheint mir genau das Richtige für heute. Wanderschuhe an, die ich gestern vom einzigen Schuster der Stadt habe hervorragend reparieren lassen. Dann entlang der Dorfstraße bis zum Eingang in die vielen Wanderwege. Meiner ist der einfachste, er führt mehr oder weniger schön an der Piste entlang. Die Aussicht ist dennoch weit und schön, ich genieße die reiche Flora und erreiche schon nach einer guten Stunde den kleinen Wasserfall. Erwartungsgemäß natürlich einige Touris. Hier an der Straße gibt es einen Parkplatz, für die die nicht mehr wandern können oder wollen. Dennoch genieße ich die beschauliche Kaskade und bin begeistert, wie nah die Finken sich zu mir setzen. Braune mit rotem Nacken, die an Stieglitze erinnern und gelbe, die ich nicht zuordnen kann. Das Rauschen des Wassers wirkt unglaublich beruhigend auf mich, die renitent posierenden Prachtmädels in halbtransparenten Leggings und geschmacklos überpimpter Silikonoberweite versuche ich auszublenden. Es macht mich immer so traurig, wenn die Schöpfung durch einfallslose Verzweiflungstaten im Wettrennen um die triviale Superlative verstümmelt wird.

Ich genieße den Rückweg, bin versunken in der hypochromen Landschaft und den kleinen Wundern am Wegesrand. Gewächse, deren Namen ich nicht kenne, aber die diesem rauen Klima so gut angepasst sind, dass sie überleben können. Faszinierend. Schöpfung. Evolution. Wunder.

Das Abendbrot mit Christoph ist herrlich, es gibt Pasta al dente mit Gemüse und jede Menge Reisegeschichten, Tipps und gute Ideen bis in die späte Nacht. Das sind genau die Momente, die eine Reise ausmachen, die ihr das Einzigartige verleihen, die sie zu meiner Reise machen.

12.-13. Dezember 2022 - Weitere Entspannung und ein zweiter Versuch

An den nächsten zwei Tagen geht es ähnlich zu wie schon gestern und vorgestern. Ausschlafen, schreiben, rumbummeln, es ist immer noch überwiegend bewölkt, wenn auch trocken, aber so richtig klar will es nicht werden. Da mir Christoph gestern gegen Überweisung mit cash Euros aushelfen konnte, habe ich meinen Aufenthalt in El Chaltén verlängert. Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, den Cerro Torre doch noch zu sehen. Und genau aus diesem Grund haben wir für morgen den 13. eine erneute Wanderung zur Laguna Torre verabredet.

Und so starten wir planmäßig am Vormittag zur Laguna. Für mich das zweite Mal, es ist sehr windig und der Weg ist so schön wie schon beim ersten Mal. Der Mirador del Torre macht noch keine Hoffnung auf klare Sicht, es geht weiter in den Krüppelwald der gewaltigen Endmoräne. Der sehr steinige Weg ist eine riskante Herausforderung für meinen angeschlagenen rechten Fuß, gleichzeitig aber auch ein gutes Stabilisierungstraining. Alles geht gut und wir erreichen den kleinen Grat des Geschiebewalls am Gletschersee. Der eiskalte Wind von den Gletschern weht uns fast um, auf dem See herrscht richtiger Seegang und die riesigen Gletscherabbrüche sind am Seeufer zusammengeschoben. Der Wind legt zwei Drittel des Cerro Torre frei, ganz schafft er es aber nicht. Nun ja, imposant sind die drei berühmten Zinnen auch so. Soll ich warten? Nein, ich einige mich mit dem Cerro auf einen Kompromiss. Ich bekomme keine freie Sicht und er bekommt dafür kein perfektes Portraitfoto von sich.

Rückweg. Ein bisschen trödeln, die unfassbare Landschaft genießen und auf unser Curry freuen. Wir kochen nämlich heute ein zweites Mal zusammen. Als auch die ausgelassene Freude der argentinischen Fußballfans über den heutigen Sieg abebbt, verabschieden wir uns und ich gehe heim und schlafe mich aus für morgen. Dann geht es weiter.

14. Dezember 2022 - El Chaltén nach El Calafate

Der Tag ist geprägt von einer grandiosen Fahrt über die endlosen Schichtebenen argentinisch Patagoniens. Der immerwährende Wind ist zwar gnädig, dennoch sind seine Böen spürbar und sie erfordern eine permanente Wachsamkeit. Der erste Teil führt mich am Nordufer des blauen Lago Viedma zurück zur Ruta 40, dann biege ich ab nach Süden durch weites unbewohntes Land. Westlich taucht kurz darauf der riesige Lago Argentino auf, an dem auch El Calafate, mein Zielort, und der Perito Moreno Gletscher liegen. Ich erreiche El Calafate gegen vierzehn Uhr, ein kleines Hostal ist flott gefunden und im Supermarkt nebenan bekomme ich alles was das Herz begehrt für‘s Abendbrot. Heute wird daheim gegessen, ich habe zu wenig Effectivo, das heißt Bargeld. Und genau darum muss ich mich heute Abend noch kümmern, denn in Argentinien dominiert der legitimierte Schwarzmarkt das Geldgeschäft und wegen der rasenden Inflation ist Bargeld in kleinen Orten Mangelware. Ich bereite alles vor, Geldanweisung per Banktransfer an die hiesige Post, jetzt gehe ich schlafen, denn morgen muss ich einer der ersten eben dort sein, damit ich überhaupt etwas bekomme. Gute Nacht.

15. Dezember 2022 - El Calafate, Sehnsuchtsziel Glaciar Perito Moreno

Ganz früh beginnt mein Tag ohne Frühstück. Ich muss zur Post und fast zwei Stunden vor Öffnung dort warten, um einer der Ersten zu sein, die Geldanweisungen abholen. Die Wartezeit gestaltet sich einigermaßen kurzweilig, denn viele nette Leute sind ebenfalls dort und man plaudert über die schönen Dinge des Lebens und tauscht Informationen und Reisetipps aus. Alles weitere klappt dann reibungslos, es war nicht so aufregend, als dass es hier viel Erwähnung finden müsste. Ich bin erleichtert und wieder zahlungsfähig.

Für den verbleibenden Tag steht ein Ausflug zu einem meiner persönlichen Highlights an, für die ich überhaupt nach Südamerika gereist bin. Und dieser Höhepunkt gehört zum Campo de Hielo Sur, dem größten zusammenhängenden Schnee- und Eisfeld der Welt nach den Polkappen und Grönland. Große Teile dieses riesigen Inlandeises sind noch nie von Menschen betreten worden und man begegnet an seinem Fuße dem nicht nur für mich schönsten und eindrucksvollsten Gletscher der Welt, dem Perito Moreno.

Die knapp achtzig Kilometer lange Fahrt, meist am Lago Argentino entlang, ist eine Augenweide und nach halber Umrundung des Parque National Los Glaciares bin ich am Ziel. Der Parkbus bring mich das letzte Stück zu den Walkways. Aussteigen. Ich stehe am Perito Moreno!

Stück für Stück eröffnet sich mir ein Panorama über ein gigantisches Gletscherfeld. Nach und nach komme ich näher, ich kann das Wasser vor dem Gletscher sehen, dann erreiche ich einen der unteren Balkone mit unbeschreiblicher Aussicht. Aber selbst von hier aus ist die Abbruchkante nicht mit einem Blick übersehbar. Hellblau schimmern die tiefen Spalten zwischen den Eiszinnen, die jeden Moment abbrechen können. Im blauen Wasser vor der senkrechten bis zu 70 m hohen, zerklüfteten Eiswand schwimmen riesige Eisberge, die mit der Zeit kristallklares Eis freigeben, das vielleicht viele tausend Jahre den langen Weg vom Campo de Hielo Sur hier herunter gewandert ist. Ab und zu ächzt es im fernen Eis und kleine Eisbrocken stürzen laut knallend in den See. Klein heißt in diesem Fall so groß wie ein Pkw. Jedoch, hört man den Knall, ist die Show schon vorbei, denn von hier aus kann man viele hundert Meter der Abbruchkante übersehen und der Schall braucht halt seine Zeit. Mich faszinieren die zarten Sedimentlinien, die auf dem langen Weg des Eises verfaltet wurden und Muster im weißen Eis erzeugen. Es ist kaum zu ergründen, woher sie kommen und welcher Zeit sie genau zuzuordnen sind, denn die Umwälzungen und Verschiebung im Eis sind nicht nachzuvollziehen und allein schon eine Probenahme wäre äußerst gefährlich wegen größerer Eisstürze, falls der Gletscher kalbt. Ein Ereignis, auf das natürlich alle warten, aber das nur wenigen zuteil wird. Es dauert nur Sekunden und geschieht im menschlichen Zeithorizont selten. Geologisch gerechnet permanent. Uns bietet sich dafür die Umwälzung eines riesigen, schwimmenden Eisblocks, der durch einen Abbruch ins Ungleichgewicht geraten ist. Er dreht sein kristallklares, blau-weißes Unterwassereis nach oben. Eine Farbe, die unwirklich türkis leuchtet. Ich bin überwältigt. Mal wieder sind es die Dimensionen, die mich still und sprachlos werden lassen. Menschen werden Ereignisse dieser Größenordnungen niemals aus eigener Kraft inszenieren können. Eine gewisse Beruhigung und Demut ergreifen mich bei diesem Gedanken, ein schöner Moment hier am Sehnsuchtsziel Glaciar Perito Moreno.

Der Rückweg ist von den Bildern geprägt, die in meinem Kopf auf Verarbeitung warten. Ich genieße die leere Straße bis nach El Calafate und ebenso auch das anschließende Dinner in einem der zahlreichen netten Restaurants. Dann nach Hause, diese Nacht wird nicht traumlos sein, war das toll. Gute Nacht.

16. Dezember 2022 - Über den Paso Río Don Guillermo nach Chile und die Wundertüte des Universums

Mein heutiges Ziel ist Chile. Nach kleinem Frühstück mache ich mich entspannt gegen halb elf auf den Weg. Der blaue Lago Argentino liegt schnell hinter mir, dann biege ich südwärts auf die Ruta 40 ab. Die Landschaft wird immer noch dominiert von pastellfarbener Monochromie, schierer Endlosigkeit und karger Vegetation. Dennoch bieten sich mir Bilder wie ich sie selten in meinem Leben gesehen habe. Weite Flächen ändern unmerklich ihre Farbnuancen, Felsen kommen näher, werden zu kleinen Bergen und offenbaren Strukturen von zauberhafter Filigranität. Rostrot, ockerfarben und braun sind die sich abwechselnden geologischen Schichten. Meist horizontal und manchmal kunstvoll von der Tektonik verfaltet. Ich kann mich nicht sattsehen.

Bienchen trägt mich zuverlässig immer weiter durch diese unwirkliche Welt. Guanakos erscheinen wie aus dem Nichts, passieren die Straße und verschwinden genauso schnell wieder im Schutz ihrer perfekten Mimese. Die schnurgerade Ruta 40 endet wie so oft in diesem einen Fluchtpunkt am Horizont, den man nie zu erreichen scheint. Doch langsam, fast nicht wahrnehmbar, hebt mich der Asphalt auf kleine Hügelketten, hinter denen sich mir ein neues Gesicht der patagonischen Unendlichkeit präsentiert. Und das Erlebnis visueller Vollendung beginnt erneut.

In Esperanza tanke ich zur Sicherheit noch einmal und setze meinen Weg ohne Pause fort. Über die Ruta 7 kehre ich zurück zur Ruta 40, damit vermeidet man viele Kilometer anstrengende Schotterpiste. Irgendwo bei Cancha Carrera geht ganz klein und unauffällig eine Piste rechts ab, die nach Chile führt. Der Paso Río Don Guillermo. Es ist kaum ein Kilometer zum argentinischen Grenzposten, an dem der Papierkram in wenigen Minuten erledigt ist. Anschließend weitere knapp drei Kilometer zum kleinen Pass. Die Landschaft ist herrlich hier und es beginnt zudem eine luxuriöse Asphaltstraße mit großen Schildern und Willkommenstafeln, als wolle man dem Besucher zeigen, wie gut Chile doch erschlossen ist. Den chilenischen Grenzposten hat man klugerweise in den ersten Ort Cerro Castillo verlegt, allerdings wäre ich dort beinahe vorbeigefahren, da mein Navi den kürzeren Weg zum Hotel kannte. Grenzzäune gibt es hier keine und nicht alle Pisten sind mit Schlagbäumen versehen. Alles gut gegangen, die Kontrolle war etwas genauer als bei den Nachbarn, dann ein lächelndes „Buen viaje“ und ich fahre zum Hotel. Die Preise in dieser Nähe zum beliebten Nationalpark Torres del Paine sind nur noch mit Wucher zu beschreiben. In einzelnen Hotels im Park hat man schon die Grenze zu vierstelligen Europreisen geknackt. Pro Nacht versteht sich. Ich komme noch knapp unter hundert Euros weg, also Schnäppchenpreis, dafür ist das kleine private Hotel aber auch recht gemütlich und einladend.

Den Rest des Abends mache ich es mir gemütlich. Der Kamin wird entzündet und ein leckerer chilenischer Wein wird serviert. Draußen nimmt der Wind merklich zu, er heult um die Häuser, Büsche biegen sich, alles, was nicht befestigt ist, nimmt chancenlos den Weg in die Steppe. Das Hotel klappert an allen Ecken, Türen schlagen zu und die Fensterrahmen knacken bedenklich. Nur der Ofen brennt umso prächtiger, es wird richtig schön warm. Zeit fürs Abendessen. Erst Suppe, dann Fisch mit Salat. Die Suppe ist möglicherweise „à la Tüte“, dafür sind der Fisch und der Salat wirklich richtig gut und reichhaltig.

Und nun eine kleine Anekdote, wie das Universum mal wieder die Wundertüte für mich öffnet. Die Fakten: In einer Woche brauche ich in Argentinien optimalerweise bare Euros oder US-Dollar für die Bezahlung meines Weihnachtsapartments. Alles andere ist komplizierter und mehr oder weniger teurer. Mir fehlen aber achtzig bare Euros, an die hier nicht dranzukommen ist, weil jeder das harte Bargeld selbst braucht. Der Tippfehler: Bei der Kartenzahlung meines heutigen Quartiers brauchen wir wegen schlechter Netzverbindung mehrere Versuche. Meine Kontrolle des Betrages ist etwas nachlässig und so wird aus einer „1“ versehentlich eine „2“. An der ersten Stelle! Unbemerkt werden mir also 200.000 Pesos statt 100.000 Pesos belastet. Die Fügung des Schicksals: La Señora des Hauses gesteht mir sehr betroffen ihren Fehler, als sie ihn am Abend bemerkt und bietet mir zur Begleichung der Überzahlung die Auszahlung in bar an. In US-Dollar! Ich bedanke mich sehr für die Ehrlichkeit und entschuldige mich für meine nachlässige Kontrolle. Fehler passieren halt. So, und rechnet man nun die Währungen um, ergibt das 77 USD bzw. Euro, das ist ziemlich genau mein fehlender Barbetrag. Ich bin hoch erfreut, aber auch irgendwie irritiert über einen derartigen Zufall - so ist das Universum eben.

Bis spät in die Nacht lese und schreibe ich noch, dann gehe ich ins Bett. Der Wind ist eher stärker als schwächer geworden, ich bin gespannt auf morgen früh. Gute Nacht zusammen.

17.-18. Dezember 2022 - Abbruch wegen Wind, Plan B und wohltuende Kontemplation

Wenn auch erholsam war die Nacht unruhig. Die Geräusche des Windes ebbten nicht ab und die Hoffnung auf eine entspannte Fahrt schwinden. Ein ausgiebiges Frühstück lenkt mich ab, dann muss ich meine Sachen packen. Ich habe Mühe mein Motorrad zu beladen, was ich nicht festhalte, fliegt mir davon. Die berechtigte Sorge wächst, dass es schwierig wird. Die Aufgabe für heute ist nämlich eine 140 Kilometer lange Piste durch den Nationalpark Torres del Paine. Etwas unwillig mache ich mich kurz darauf auf den Weg. Das Nachlassen des Windes ist eine Illusion, auch wenn der Wetterbericht ruhigeres Wetter im Norden verspricht. Hier in den Bergen ist nichts sicher vorhersagbar, dazu gibt es viel zu viele Mikroklimazonen, die von den hohen Gipfeln verursacht werden und sich in Minuten ändern können. Noch führt mich eine ausgebaute Straße aus Cerro Castillo heraus, aber schon hier wird es mühsam, den Seitenwind auszugleichen. In der Ebene des Río de las Chinas habe ich bei 60 km/h im böigen Wind eine Pendeltoleranz, die meine halbe Fahrspur einnimmt. Dann beginnt in einer Baustelle die Piste. Ich bleibe kurz stehen um mir - soweit das überhaupt geht - einen Eindruck zu verschaffen. Dabei habe ich Mühe, Bienchen mit nur einem Bein abzustützen. Ich muss eine kurze Windpause abwarten, um mit dem linken Fuß überhaupt in den Leerlauf schalten zu können. Nee, Freunde, das kann es nicht sein. Wie kann ich unter diesen Bedingungen die Schönheit der Landschaft genießen, für die ich hierhergekommen bin? Abbruch. Plan B. Ich drehe um und nehme die Ruta 9 nach Puerto Natales. Ich fühle mich sehr erleichtert, was mich bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die knapp 80 Kilometer kann ich genießen, die Sonne scheint, die Landschaft ist herrlich und der Wind ist auf festem Untergrund durchaus beherrschbar.

Ich erreiche Puerto Natales gegen Mittag und habe genügend Zeit, mir eine nette Unterkunft zu suchen. Die Preise für das Gebotene sind horrend, etwas hilft mir mein professionelles Verständnis für die kostspielige Logistik, das ganze Zeug hierher zu transportieren. Nach mehreren Runden durch den farbenfrohen und sympathischen Ort finde ich mit etwas Hilfe durch Anwohner eine private Unterkunft in einem Wellblechhaus an der Ecke Benjamin Zamora und Miraflores. Eine alte, schwerfällige Dame öffnet kraftvoll die klemmende Tür und wirkt etwas verunsichert durch meine Frage nach einem Zimmer. Dann bittet sie mich herein und weist vermutlich ihren Sohn an, mir das Zimmer zu zeigen. Wunderbar! Klein, gemütlich, chilenischer Kitschbarock mit selbstgewebten Pinguinbildern, Tisch, Stuhl, baño privado, eine Küche zum Kochen und ein winziger Aufenthaltsraum. Volltreffer! Alles sehr liebevoll und Señor hijo ist richtig nett. Preis ist mehr als fair und Bienchen darf sicher im Hinterhof parken, direkt neben der Hundehütte. El perrito schnuppert kurz und die beiden sind Freunde.

Den Nachmittag verbringe ich mit einem Stadtrundgang, Geldbeschaffung, Supermarktbesuch und der Suche nach Autovermietungen. Plan B ist derzeit nämlich, am Montag einen Mietwagen zu buchen und die Runde durch den Nationalpark auf vier Rädern zu machen. Jedoch sind alle Infos im Netz falsch, de facto sind die Vermietungen heute am Samstag geschlossen. Man nagelt einfach einen Zettel mit der Aufschrift „Cerrado“ an die Tür. Nun gut, ich genieße draußen das frische, sonnige Wetter und sitze anschließend drinnen bei heißem Kaffee und Keksen an meinem Tisch vor dem Fenster und schreibe.

Der Sonntag sieht nicht viel anders aus. Zunächst gelingt mir ein sanftes Erwachen zur Brunch-time. Ich weiß nicht, wie lange die Sonne schon ins Zimmer scheint, aber das ist auch egal, ich lebe in einem Modus der Verschwendung und leiste mir diesen Luxus der Verpflichtungslosigkeit. Den Kaffeeduft muss ich mir selbst bereiten, aber das ist mit dem löslichen Convenienceprodukt und heißem Wasser schnell bewerkstelligt. Etwas Trockenmilch habe ich noch im Gepäck und von gestern sind ausreichend Kekse übrig. Ich definiere das als ein vorweihnachtliches Sonntagsfrühstück, die Welt ist irgendwie gut zu mir.

Ich vervollständige die Geschichten, die gestern liegengeblieben sind und schaue etwas Fußball WM: Unterm Strich war die argentinische Mannschaft besser und hat gewonnen. Freunde, bin ich froh, jetzt in Chile zu sein und nicht bei den Nachbarn! Am Nachmittag dann mache ich mich auf zu einem weiteren Stadtspaziergang. Puerto Natales ist bunt und lebensfroh. Alles ist farbig angestrichen, man hört viel Musik aus den Häusern und Geschäften, die Menschen drängen sich in Eisdielen und an Imbissständen, Kinder turnen am Plaza de Armas in Daunenjacken auf Weihnachtseisenbahnen herum. Die Sonne wechselt sich mit Wolken ab und der Wind vom Wasser ist immer noch kalt, aber nicht mehr so heftig wie gestern. Ich laufe viele Blocks bis hinunter zur Seepromenade. Stoisch trotzen hier die Pfähle des alten Piers den Wellen des Golfo Almirante Montt und etwas weiter erscheint das Monumento al viento wie eine mutige Kampfansage an die Naturgewalten. In der Ferne sehe ich schneebedeckte Berge, die ich aber nicht zuordnen kann. Irgendwo da draußen stehen die Torres del Paine, hoffentlich stimmt die Vorhersage für morgen und das Wetter wird mir gnädig sein. Zum Abschluss das ehrende Denkmal für den Missionar, Forscher und leidenschaftlichen Entdecker Feuerlands und Südpatagoniens, Alberto Maria De Agostini. Ihm begegnet man sehr oft, Gletschern, Fjorden und ungezählten touristischen Einrichtungen gab man seinen Namen. Besonders aber ist seine tiefe Zuneigung zu den Bewohnern Feuerlands und Patagoniens in diesem Denkmal hervorgehoben.

Meinen Plan B mit dem Mietwagen habe ich zwischenzeitlich verworfen, irgendwie ist Autovermietung hier für mich als Mitteleuropäer zu umständlich. Im Supermarkt beschaffe ich noch das Nötigste fürs Abendbrot, dann richte ich mich gemütlich zu Hause ein. Die Sonne geht stundenlang unter, der Himmel ist wie Kino und die Hunde vor meinem Eckfenster erobern langsam die nächtlichen Straßen. So gefällt mir das. Bis in den späten Abend. Bis in den Schlaf. Gute Nacht.

19. Dezember 2022 - Torres del Paine Nationalpark

Alles was jetzt kommt ist schön! Bestes Wetter weckt mich, gegen zehn möchte ich aufbrechen zum Torres del Paine Nationalpark. Was ich vor drei Tagen wegen des starken Windes abgebrochen habe, möchte ich heute erleben. Die Route ist eine 250 Kilometer lange Rundfahrt, von der etwa einhundert Kilometer Schotterpiste sind. Das ist zwar eine straffe Ansage, aber ich halte die Zeit dagegen, von der ich heute reichlich habe. Slow traveling ist ohnehin mein Credo. Los geht’s.

Die ersten Kilometer sind schnell erledigt, es ist warm. Links abbiegen und dann endlos geradeaus. Die Höhle des Milodón lasse ich rechts liegen, ich möchte die Berge sehen. Kurz darauf beginnt eine üble Wellblechpiste mit Schotter, langsam fahren. Nach zehn Kilometern wieder Asphalt und so setzt sich das mehr oder weniger fort bis zum Eingang des Nationalparks. Jedoch vergesse ich die Mühen der Straße sehr schnell, denn schon hier wird die Landschaft bezaubernd schön. Kleine Seen tauchen auf, der Horizont wird immer breiter und ganz weit weg erhebt sich das Macizo de Paine - das Paine Massiv. Deutlich zu erkennen sind Grande Paine, Los Cuernos und der Cerro Almirante. Die Torres del Paine sind noch nicht zu sehen sie verbergen sich hinter den riesigen Gipfeln.

Alle paar Kilometer bleibe ich stehen, mache Fotos oder sitze einfach nur da und staune. Angenehmerweise ist erstaunlich wenig los auf der Piste, vereinzelte kleine Touribusse und nur wenige Mietwagen, das war‘s. Trotzdem geht mir am Mirador Cuernos del Paine ein herzensguter, freundlicher Japaner tierisch auf den Zünder. Statt sich dieses einzigartige Panorama anzusehen macht er mit seinem Kumpel ein heiteres Flaggenraten an meinen Motorradkoffern. Ich weiß nicht, was die Siegesprämie war, aber vermutlich darf der Gewinner mit mir plaudern. Und genau das tut er dann auch. „Nice motorbike. BMW very good (Daumen hoch). Japanese always interested in motorbikes, you know. I will buy a BMW and next time come here with motorbike, then we drive together, very fast.” Oh Mann! Ich antworte ihm wirklich sehr freundlich auf deutsch, er meint es ja nett. „Erstens kommst Du bei der Karre gar nicht mit den Füßen auf die Erde! Und zweitens werden wir beide allein schon aus diesem Grund niemals zusammen Motorrad fahren.“ Das überzeugt ihn, er antwortet mit einem verbindlichen „Yes, yes!“, dann fahren alle weiter und winken zum Abschied. Ich auch.

Das Panorama gehört wieder mir, kurze Registrierung am Gate, dann kommt die Prachtstrecke. Die Fahrt geht auf staubiger Piste durch die Seen- und Flusslandschaften, gesäumt von den gigantischen Bergen, die direkt von den Ufern in die Höhe steigen. Hinter jeder Kurve eine andere Perspektive, hinter jedem Hügel ein anderes Panorama. Bizarr und äußerst markant thronen die nadelspitzen Gipfel vor dem glasklaren, blauen Himmel. Reflektiert wird die Farbe von den Seen, Lagunen und Flüssen, alles wirkt surreal. Auf halber Strecke mache ich Halt am Salto Grande, dort beginnt ein zwanzigminütiger Spazierweg zum Wasserfall des Río Paine, vor atemberaubender Kulisse versteht sich.

Doch wo sind die berühmten Torres del Paine, nach denen sogar der ganze Park benannt ist? Dazu muss ich die Hauptpiste verlassen und über die Puente Laguna Amarga Richtung Trailhead fahren. Dann zeigen sie sich allmählich, für den perfekten Blick fehlt jetzt noch eine Zehn-Kilometer-Wanderung. Tja, es geht nicht alles. Dennoch bin ich extrem beeindruckt, aber auch schon ein wenig müde, ich habe schon über fünf Stunden hinter mir. Nach ein paar Fotos, bei denen ich mich Frage, ob man derartige Anblicke tatsächlich adäquat ablichten kann, trete ich die Heimfahrt an. Nicht ohne noch viele Male anzuhalten, mich umzudrehen, Blicke mitzunehmen, Fotos zu machen oder einfach nur um glücklich zu sein, hier verweilen zu dürfen.

Der Asphalt beginnt wieder, ich passiere das bekannte Cerro Castillo von vorgestern und siebzig Kilometer weiter bin ich bei herrlicher Abendstimmung wieder in meinem Hostel. Aus meinen restlichen Vorräten koche ich mir noch schnell etwas, ein kühles Bier dazu und mit all den Bildern im Kopf und der Freude über diesen wunderbaren Tag schlafe ich irgendwann ein. Gute Nacht.

20. Dezember 2022 - Sonnentag und Serendipität

Ein sonniger Tag beginnt - nicht allzu früh - und ich muss mich um die letzte Etappe nach Ushuaia kümmern. Die Wettervorhersage ist nicht so eindeutig, eine Kombination aus Wind, Regen und Sonne machen es schwierig, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Streckeneinteilung zu wählen. Einfach ausgedrückt verlangt gutes Reisewetter eine recht lange erste Etappe. Ich müsste morgen bis nach Río Grande fahren, was über 500 Kilometer bedeutet, plus einer Grenze und einer Fähre. Dem zu Folge würde ich etwas eher in Ushuaia ankommen, aber den Freitag als extrem windigen Reisetag vermeiden.

Der Plan festigt sich, ich packe schonmal meine Sachen, dann ist es morgen früh entspannter. Ich höre ein bekanntes Geräusch in der Straße, ein Motorrad wie meines - Biker erkennen sowas sofort! Christoph fährt vor der Tür vorbei, das ist ja eine Freude. Ich schreibe sofort eine kurze Nachricht, vielleicht sucht er ja ein nettes Hotel. Nein, tut er nicht, ist seine schnelle Antwort, dennoch treffen wir uns nach meiner Packaktion und haben bei einem gemütlichen Rubia viel zu erzählen seit unserer letzten Begegnung in El Chaitén. Natürlich steht der Torres del Paine Nationalpark auch auf seinem Plan und ich kann ihm ein paar Tipps zur Gestaltung seiner Tour geben. Beim Spaziergang an der Promenade treffen wir zufällig noch alte Bekannte aus UK und bei der ausgiebigen Plauderei im nachmittäglichen Sonnenschein kommen wir zur Essenz der Reiseweisheit: Serendipity! Zum ersten Mal höre ich dieses Wort aus anderem Munde. Im Deutschen ist dieser psychologische Fachbegriff umgangssprachlich wenig gebräuchlich, beschreibt aber sehr genau, wie man dem Glück geschickt auf die Sprünge helfen kann: „Ich finde, was ich nicht gesucht habe, und erkenne darin etwas Wertvolles und Schönes!“ Offenheit für Neues und Achtsamkeit sind Voraussetzung und Schlüssel für den Erfolg dieses Lebensprinzips. Ich versuche schon länger diesem Lebensprinzip zu folgen und nenne es bekanntlich immer „Universum“, wenn mir glückliche oder nützliche Entdeckungen begegnen. Es ist das gleiche. Es ist wunderbar.

Gemeinsam kochen ist mir heute zu spät, ich suche mir lieber ein nettes Bistro fürs Abendbrot aus. Quiche und Salat gereichen mir zum Mahl und noch bevor der Mittsommerhimmel dunkel ist schlafe ich tief und fest.

21. Dezember 2022 - Región de Magallanes oder das Ende der Welt

Heute steht die Región XII auf dem Plan. Vollständig heißt sie „Región de Magallanes y de la Antártica Chilena“ und hat eine wunderschöne Flagge. Ich werde die berühmte Magellanstraße überqueren und die Isla Grande de Tierra del Fuego betreten. Aber alles der Reihe nach.

Sehr früh wache ich auf, trotz bester Vorhersage von gestern regnet es. Nicht viel, aber die Straßen sind nass. Nö, da drehe ich mich doch lieber noch einmal um und versuche es später erneut. Eine richtige Entscheidung, gegen zehn Uhr ist alles trocken und der Himmel hat blaue Löcher, die mich hoffnungsvoll stimmen. Ich bereite mir einen starken Kaffee, dann sattle ich all mein Zeug auf und verlasse kurz vor elf den Hof. Die erste Überraschung folgt schon kurze Zeit später an der Tankstelle. Kein Benzin. Sollte es sich tatsächlich rächen, dass ich vorgestern nicht sofort nach der Rückkehr getankt habe? Das wäre ich dann selbst schuld. Nun, es gibt noch eine zweite Tankstelle in Puerto Natales mit ausreichend Sprit. Glück gehabt, ab sofort wieder umgehendes Tanken! Dann geht’s los, nach zehn Minuten wird es leer, die Straßen werden wieder endlos und gerade und ich nehme meine gemütliche Reisehaltung ein und genieße die weite Einöde Süd-Patagoniens. Die Sonne setzt sich immer mehr durch und ich komme bei bestem Wetter flott voran.

Nach gut zwei Stunden erreiche ich die Magellanstraße und es zieht richtig kalte Luft vom Wasser heran. Aber es ist nicht mehr weit bis Faro Punta Delgada, von wo die Fähre zur Hauptinsel Feuerlands ablegt. Am Cruce Rio Gallegos noch einmal rechts abbiegen, immer geradeaus, dann bin ich da.

Es ist nicht viel los hier an der Anlegestelle und warten muss ich demnach auch nicht lange. Ich fahre mit als Letzter auf die wackelige Ladeklappe, Fähren werden hier nicht festgemacht, der Kapitän hält sie mit Motorkraft auf der Rampe. Wie immer bekommt Bienchen eine gemütliche Ecke zugewiesen. Sicher abstellen ist heute auch kein Problem, denn das Wasser ist glatt, wenn auch mit heftigen Strömungen, die durch die enge, natürliche Wasserstraße selbst verursacht werden. Quietschend legen wir ab. In einem riesigen Bogen, der ebenfalls den extremen Strömungen gezollt ist, navigieren wir zur anderen Seite nach Bahía Azul. Etwa eine Stunde dauert das Ganze und ich genieße die frische Luft, Sonnenschein und die tolle Aussicht. Ganz zu schweigen von den glücklichen Gedanken, dass ich gerade in diesem Moment die legendäre Magellanstraße überquere. Ein paar verspielte Commerson-Delfine, die nur hier rund um Feuerland leben, begleiten uns. Sie sind so schnell, dass es mir nicht gelingt, ein paar vernünftige Fotos zu machen. Dennoch ist es eine Freude, ihnen zuzusehen. Etwa in der Mitte der Meerenge dreht der Kapitän die Fähre in die starke Strömung und nutzt den Schwung für die zweite Hälfte der Überfahrt. Wir laufen heftig auf die steile Rampe auf, die mit reichlich Schotter und kaputtem Beton geschmückt ist. Na prima, aufsitzen und warten bis die Ladeklappe frei ist und dann beherzt ohne anzuhalten hinauf zur Straße. Geschafft. Ein großes Schild begrüßt mich auf der „Isla Grande de Tierra del Fuego“. Ich bin tatsächlich hier, unfassbar!

Noch 250 Kilometer und das Wetter zieht sich ganz langsam zu. Zudem wird es merklich kühler. Bis zur Grenze bleibt alles trocken, dann beginnt es zu regnen. Ärgerlich, aber da muss ich jetzt durch. Ich erledige die Grenzformalitäten, alles geht super schnell, die Beamten sind äußerst nett und der argentinische Zöllner hat sogar eine rote Zipfelmütze auf. Ich wünsche allen schöne Weihnachten und ziehe meine Regenkombi an. Bäh, dieses gehasste Gehampel bis man das Ding an hat und bis alles richtig sitzt. Das Motto heißt jetzt „Augen-zu-und-durch“ und genauso ist es auch. Der Regen bleibt glücklicherweise nur mäßig bis nach Río Grande, dann hört er auf. Tanken, Regenpelle ausziehen und ab ins Hotel. Fertig für heute. Bin ich froh, den Brocken hinter mir zu haben. Morgen ist es dafür dann nicht mehr weit. Der riesige Fernseher im benachbarten Bowling-Center-Restaurant wiederkäut aufdringlich das siegreiche Endspiel Argentiniens und die Menschen schauen sich das auch tatsächlich an. Es gibt sogar Applaus für die Tore. Unglaublich. Die leckere, aber etwas zu große Pizza stillt meinen Hunger, ein Bier meinen Durst und später das ruhige Bett meinen Schlafbedarf. Gute Nacht.

22. Dezember 2022 - Die letzte Etappe

Das Frühstück ist lausig, ich drücke mir ein trockenes Stück Gebäck rein und zwei Tassen schlechten Kaffee mit kaum löslichem Kaffeeweißer. Das ist also der Kaffee der Weltmeister? Eher Bezirksliga. Beim Beladen des Motorrades treffe ich noch zwei alte Bekannte, die Kanadier vom Perito Moreno Gletscher. Netter Plausch und geteiltes Leid bezüglich des Wetters. Es nieselt und ist nebelig. Also beginne ich heute so wie ich gestern aufgehört habe: volle Regenmontur. Nicht jammern, rein in die unbequeme Kombi, zu machen und ab nach Süden. Es ist eine kluge Entscheidung, denn es regnet zunehmend und beständig. Egal, Motto s.o.

Schade um die Wegeindrücke, ich sehe nämlich kaum etwas, die Sichtweite ist manchmal weniger als 150 Meter, weshalb ich auch recht wenig von unterwegs berichten kann. Zumindest nicht bis zum Ort Tolhuin. Hier dreht die Ruta 3 wieder landeinwärts weit genug von der Atlantikküste entfernt und der Regen hört auf. Gleichzeitig steigt die Straße an und windet sich in die Berge. Wunderschön geht es am Lago Fagnano entlang, dann hinauf zum Lago Escondido, wo ich meine Regenkombi ausziehen kann. Herrlich. Ein kleines Bisschen kommt sogar die Sonne durch, die beiden Kanadier fahren winkend vorbei und ich mache mich auf zur Zielgeraden.  Noch ein halbes Stündchen durch wunderschöne Bergtäler, dann taucht vor mir das „Portal de Ushuaia“ auf. Zwei kleine Türme rechts und links der Ruta 3 mit der vertikalen Aufschrift des Namens der südlichsten Stadt der Welt: Ushuaia. Ich halte an wie vermutlich jeder Motorradfahrer, der hier sein Ziel erreicht. Was für ein Moment. Was für eine Freude. Was für eine Energie. Die Kanadier sind ja bereits da, wir klatschen ab, wir freuen uns, wir sind stolz, dass wir es geschafft haben. Ja, und hier mache auch ich ein paar Selfies.

Da ich ja nun zwei Tage eher in Ushuaia bin als geplant, brauche ich noch zwei Übernachtungen bevor ich mein Weihnachtsapartment beziehen kann. Meine alte Bekannte, Tina, die Französin, ist auch hier und besorgt mir noch ein freies Zimmer in ihrem Hostal. Da zahlen sich die gepflegten Kontakte in der Travelergemeinschaft aus. Zudem ist es schön, Gesellschaft zu haben, die Themen der tagelangen Selbstgespräche erschöpfen sich irgendwann auch. Nach dem Duschen folgt ein kleiner Stadtbummel an der Bucht entlang und durch die bunte Innenstadt. Im Café Tante Sara begehe ich meine Ankunft mit einem sündigen Schokokuchen namens „Triple“ und nach dem Kaffee-Flopp von heute Morgen mit einem hervorragenden Americano. Nach dem Kalorienkracher ist Bewegung angesagt und der Heimweg führt über Umwege an der weihnachtlichen Cartel Ushuaia vorbei und dann den ganzen Berg hinauf zum Hostal. Ushuaia ist bunt, wie viele Städte in Patagonien. Das Leben hier erscheint mir recht entspannt, aber vielleicht liegt das auch an der Vorweihnachtszeit. In jedem Fall genieße ich es und freue mich hier zu sein. Später am Abend gibt es nur noch ein kleines Abendbrot, wenn auch deshalb nicht weniger schmackhaft. Tina ist Französin, sie kocht auch Suppe mit Rotwein, was farblich eine ernste Herausforderung für das mitessende Auge ist, kulinarisch aber überzeugt! Meine anschließende erste Nacht am Ende der Welt ist ruhig und erholsam. Gute Nacht.

23. Dezember 2022 - Tag der Defizite

Lange ausschlafen, draußen regnet es kräftig und in den Bergen schneit es. Ein später Kaffee, dann muss ich Geld von Western Union abholen, das ich mir selbst gesendet habe. Grund ist der gute Wechselkurs des sogenannten Dollar-Blue bzw. Euro-Blue, den nur Western Union anbietet. Er ist 2,5 mal so hoch wie der offizielle Kurs an den Geldautomaten. De facto ist das ein geduldeter Schwarzmarkt. Argentinien braucht eine stabile - wenn auch fremde - Währung, weil sie ihre Inflation nicht in den Griff bekommen. Die Schlange ist sehr lang und so gehen schnell anderthalb Stunden ins Land fürs Warten. Eine furchtbare Bürokratie folgt und am Ende bekommt man stapelweise gebündeltes Papiergeld, weil es keine großen Banknoten gibt. In abgelegenen Touristenorten Argentiniens sind Auszahlungen sogar limitiert, weil nicht ausreichend Banknoten existieren. Tja, wenn man Touristen melken will, sollte man auch für ausreichend Zahlungsmittel sorgen im Land der Weltmeister.

Es folgt ein kleiner, aber notwendiger Einkauf im Supermarkt. Auch hier frönt man dem Ritual des Schlangestehens. Endlos! Irgendwie ein argentinisches Hobby in Supermärkten. Nur drei Kassen sind geöffnet, aber ich zähle mindestens fünf Wachpersonalheinis, die die Kundenschlange bewachen. Nee, behaltet euren Kram, ich suche mir lieber einen Tante-Emma-Laden.

Zurück im Hostel muss ich noch meine durchgebrannte Scheinwerferbirne wechseln, das ist auch so eine Defizitgeschichte. Da besitze ich eines der besten Motorräder der Welt und es ist ein Höllengefrickel, ein dämliche Birne zu wechseln. Ich weiß nicht, welcher Praktikant das Bauteil entwickelt hat, aber eine Laufbahn als Ingenieur sollte er ernsthaft überdenken.

Genug geärgert, der Rest des Lebens ist schön und dem wende ich mich jetzt wieder zu. Kaffee trinken mit Tina, draußen regnet es wieder, ein kleines Nachmittagsnickerchen, chatten mit der Heimat und etwas Schreibschulden beheben. So vergeht die Zeit. Die Lebensmittel aus dem Tante-Emma-Laden verarbeite ich zu einem einfachen Abendbrot und nach viel Plauderei und leckerem Rotwein ruft mein Bett. Morgen ist Umzug, ich freu mich schon. Gute Nacht.

24. Dezember 2022 - Zimmer mit Aussicht und Weihnachtsspaghetti

Heute steht wie gesagt der Umzug in mein Weihnachtsapartment an und ein Großeinkauf für die nächsten Tage. Gegen zwölf kann ich einchecken. Alles provisorisch packen, es ist ja nicht weit. Es ist etwas schwierig die Adresse zu finden, alles Baustellenkrater und loses Erdreich hier. Am Ende der Lehmstraße hat Bienchen mit ihrem sonoren Motorgeräusch die gesamte Population Dorfhunde aufgeschreckt, die das ganze Viertel aus den Häusern bellt. Fenster und Türen werden geöffnet, Gardinen zur Seite geschoben, geguckt und einer ruft dann meinen Namen. Das muss Eduardo sein, der Eigentümer. Prima. Geht doch. Spart das Klingeln. Ich soll das Moped gerne direkt vor der Tür parken. Dann ist es mit dem Gepäck leichter. Prima! Eine Geschicklichkeitsübung für Fortgeschrittene am Steilhang. Man könnte auch einer alten Oma sagen, sie kann die vollen Einkaufstüten gerne über die Feuerleiter auf den Balkon bringen. Ist dann einfacher mit dem Auspacken. Weia!

Alles andere ist perfekt und genauso wie ich es mir ausgedacht hatte. Eduardo ist super nett und hilfsbereit, die Ferienwohnung ist nagelneu und bietet eine Aussicht auf die Bucht und den Beaglekanal wie sie nicht besser sein könnte. Ich bin richtig happy und freue mich auf die nächsten Tage.

Ausladen, hochschleppen und dann flott zum Supermarkt. Nein keine Details, ich bin nach einer guten Stunde zurück und muss mich etwas sputen mit dem Kochen. Bei meinen ganzen Reiseplanungen hatte ich immer die Idee, Weihnachten für Gäste zu kochen. Und genau das mache ich jetzt. Die Kanadier waren schon verabredet, andere Bekannte habe ich noch nicht getroffen, dann kochen Tina und ich eben zu zweit. Eigentlich sollte es Fisch geben mit Fenchel und Zitronenschaum, aber guten Fisch gab der Supermarkt nicht her. Muscheln im 5 Kilo-Gebinde oder Lachsfilets mit Gefrierbrand waren beides nicht das, was mir vorschwebte. Für Gemüse-Lasagne fehlten eine feuerfeste Auflaufform und ausreichend gutes Gemüse, für Coq au vin oder Queue de bœuf hätte ich wohl gestern schon anfangen müssen zu kochen. Nun ja, Spaghetti al Ragú, der alte Campingklassiker, ist doch auch eine tolle Idee.

Und so soll es sein. Da die Zubereitung äußerst einfach ist, kann ich gleichzeitig einen Weihnachtsplausch mit dem Filius in der Heimat führen, und dann ist es ein lustiger Heiligabend am Ende der Welt mit traumhafter abendlicher Aussicht auf die Bucht, viel multilingualer Konversation und ohne Geschenke, außer dem Glück, das ich mir selbst geschenkt habe, heute hier zu sein! Und jetzt gönne ich mir eine kleine Schreibpause. Frohe Weihnachten!

31. Dezember 2022 - Gedanken zum vergangenen Jahr

2022 ist um. Wie gestern kommt es mir vor, dass ich dieses frischgeborene Jahr 2022 begrüßt habe. Es war an einem warmen Freitag in Porto. Wir tranken einen Branco am Cais da Estiva. Dass in diesem Jahr viele Dinge passieren werden, war mir bekannt, schließlich hatte ich genügend Zündschnüre angezündet, dass es ordentlich knallt: Mein Sabbatical stand ab Mai an, einen großen Teil meines Hausstandes hatte ich schon 2021 verkauft, der Rest ging bis April weg. Ab Ende April besaß ich kein Auto mehr, die fast unbenutzte, überflüssige Luxuskarosse ging mit meinem letzten Arbeitstag zurück an meine Firma. Kartons mit den wertvollsten Lebensreliquien wurden eingelagert. Seit Februar war die Kündigung meiner Wohnung beschlossene Sache und am 7. Mai fiel die Tür einer der schönsten Wohnungen, in denen ich je gelebt habe, hinter mir endgültig ins Schloss.

Am 14. Mai buk ich Pizza im Landhaus von Schwester und Schwager, die mir ein temporäres Dach boten. Einen Tag später brach ich mit meinem Motorrad auf in den Kaukasus. Das erste Abenteuer nahm seinen Lauf und es war ein Erlebnis once-in-a-lifetime. Die Reise dauerte drei Monate.

Zum Umzug meiner alten, aber jung gebliebenen Mutter, die ein neues wunderbares Heim gefunden hatte, kehrte ich zurück, um zu helfen. Genau vier Wochen dauerte das und es war bis zum letzten Tag nicht klar, wie und wo ich mein verbleibendes Sabbatical verbringen werde. Dann fiel eine innere Entscheidung, nach Südamerika zu reisen. Mit Bienchen. Schnell waren die logistischen Verträge unterschrieben und mein Motorrad stand am 7. September in der Lagereinheit „San Antonio, Chile“ im Hamburger Hafen.

Neuseeland. Sechs Wochen reist mein Bienchen alleine im dunklen Container über den Atlantik, durch den Panamakanal bis nach Chile. Sechs Wochen erfülle ich mir einen lang gehegten Lebenstraum: Eine Reise nach Neuseeland. Dieses Land verändert das Leben!

Chile, spontane Entscheidung zur Osterinsel zu fliegen, dann beginnt wenige Tage später die Herausforderung Südamerika mit dem Motorrad, in der ich jetzt mittendrin stecke. Der Weihnachtsurlaub in Ushuaia ist vorbei und war wichtig, um einfach mal Luft zu holen. 

Ich habe eine Flasche Sekt geöffnet und werde mich nun in Dankbarkeit und mit viel Freude von diesem besonderen Jahr verabschieden, auch wenn es für immer lebendig bleiben wird. Tolles altes Jahr, Frohes Neues Jahr! Hoch lebe das Universum.

Ein Nachtrag um 0:33 h

Der nächtliche Himmel ist nicht ganz dunkel so weit im Süden. Blasses Licht erhellt die Lücken zwischen den Wolken. Es ist kühl, trotzdem stehe ich barfuß auf meinem Balkon und schaue über die weite Bucht von Ushuaia und in den Beaglekanal. Von meiner Playlist ertönt zufällig Pat Metheny „Are You Going With Me?“. Nein, das ist kein Zufall. Es ist fast windstill, Schiffe lassen ihre Hörner ertönen. Eine mickrige Silvesterrakete scheitert mit drei Leuchtkugeln an der Dunkelheit. Tanzmusik ist zu hören, es riecht nach Asado, ich höre entfernte Stimmen „Felicidades“ rufen. Unter mir auf der Veranda stoßen Menschen mit klingenden Gläsern an, man prostet mir zu, ich antworte „Felicidades“. Ich stehe hier völlig alleine mit mir und der ganzen Welt. Was für ein Widerspruch, was für eine Harmonie. Was für ein kristallklares Gefühl von Existenz, von Jetzt, von Hier.

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