Reisegeschichten nach dem Reisen
Was zu Hause mit dem Erlebten passiert
26. März 2023
Das Bild
Wenn man alte Kisten öffnet...
Heute fällt mir altes Zeug in die Finger. Wertvolles altes Zeug. Wertvoll in dem Sinne, dass es uralte Fragmente zum Ganzen fügt.
Kennt Ihr das vom Puzzeln? Da liegt ein ganz markanter Stein seit Ewigkeiten herum, weil er eine besonders schöne Farbe, eine auffällige Zeichnung oder bizarre Form hat. Auffällig oft kreuzt der Stein Eure Suche nach anderen fehlenden Teilen, immer wieder wird Euer Blick von seiner Prominenz eingefangen und immer wieder nehmt Ihr ihn in die Hand, ohne ihn irgendwo passend im Bild unterbringen zu können. Ihr wisst nicht einmal wohin im großen Puzzle er gehört.
Bei meinen Großeltern hing seit jeher ein Foto an der Wand, das mich als Kind sehr fasziniert und sich für immer in mein Bildergedächtnis eingeprägt hat. Mein Onkel hat es gemacht. Er war ein perfektionistischer Amateurfotograf und leidenschaftlicher Reisender in den fünfziger und sechziger Jahren. Zu sehen war auf dem Farbfoto eine aus schräger Aufwärtssicht betrachtete alte, dichte Häuserzeile entlang einer ebenso alten ansteigenden Pflastergasse. Die Häuserzeile ist die einzige Bebauung rechter Hand, das Gegenüber ist nur eine breite Natursteinmauer, die die Straße vom tief abfallenden Gelände trennt. Die verputzten, zweistöckigen Häuserfronten sind jede für sich monochrom, aber voneinander unterschiedlich in Pastellfarben angestrichen. Die Gebäudeecken bestehen aus großen, hellen Bossensteinen, die verzahnt bis unter die Giebel reichen und die Dachstühle tragen. Die kleinen Fenster und großen Bogenflügeltüren sind ebenfalls mit hellen Steinquadern gestaltet, die wie breite Passepartouts die dunklen Holzfensterläden würdig einrahmen. Ein paar Menschen sind auf der Steingasse unterwegs, der leicht bewölkte Himmel unterwirft sich mit seinen hellblauen Flecken den dominierenden Farben der Fassaden. Die Sonne scheint und alles wirkt friedlich und dörflich bis familiär. Der grafische Bildaufbau ist perfekt, keine erwähnenswerten stürzenden Linien, die horizontale Fluchtlinie teilt das Hochformat exakt auf der Hälfte und verläuft von rechts zum Fluchtpunkt am äußeren linken Bildrand. Zieht man vom Fluchtpunkt zwei Geraden in die rechten Bildecken ergeben sich drei symmetrisch angeordnete Sektoren, die präzise mit den Motivflächen übereinstimmen: Dem Himmel oben, in der Mitte mit der Häuserzeile als primärem Bildmotiv und mit der nach unten abgrenzenden Mauer, die wie ein Fundament das ganze Bild trägt.
Nun, und heute fällt mir ein ausgeschnittener, sorgfältig von meiner Mutter archivierter Zeitungsbericht in die Hände, ganzseitig illustriert mit genau diesem oben beschriebenen Bild. Verfasst von meinem Onkel, vermutlich Anfang oder Mitte der sechziger Jahre. Wow! Zunächst verfängt sich mein Blick in dem kleineren Schwarzweißfoto von der Stari Most, meiner geliebten "Alten Brücke" von Mostar. Die Abbildung zeigt sie im Urzustand vor der Zerstörung im Balkankrieg 1993! Und mein Reise- und Fotoonkel hat damals darüber geschrieben. Das ist schon irre genug und dann daneben dieses Wahnsinnsfoto aus meiner Kindheit. Eine der ältesten Fragen meiner Kindheit, nämlich wo dieses Foto gemacht worden ist, erhält heute ihre Antwort: Es sind die Lagerhäuser von Mostar an der Alten Brücke, fotografiert vor zirka sechzig Jahren! Am 29. Mai 2022 bin ich auf meiner Kaukasusreise genau dort entlanggeschlendert und habe es nicht erkannt. Ich fasse es nicht! Der Puzzlestein hat seinen Platz gefunden. Mostar ist und bleibt ein ganz besonderer Ort für mich.
14. April 2023
Bienchens Heimkehr
Es war doch erst gestern...
Freitag war ich in Hamburg und habe mein Motorrad abgeholt. Alles lief wie am Schnürchen, tolles Wetter, perfekte Bahnverbindung - ich kenne den Weg ja jetzt - und die Jungs im Hafen sind eine erfrischende Spezies für sich. Auf dem Fußweg durch die Containerburgen des sogenannten Rosshafens erinnere ich mich unweigerlich an den 7. September als ich mit gebündeltem Tatendrang mein Moped hier abgegeben habe und damit den point of no return überschritten hatte. Die Zündschnur für Südamerika war angezündet. Voller Spannung, Aufregung und einer gehörigen Portion Respekt sah ich ab da dem Abenteuer entgegen. Das war doch erst gestern, oder? Dass Erlebnisse rückwirkend immer so schnell vorbei sind, beeindruckt mich immer wieder. Begreifen werde ich das vielleicht nie.
Nach etwas Papierkram laufe ich runter in die weitläufige Lagerhalle. Riesige Überseekisten, deren morphosyllabische Aufschriften ich nicht lesen kann, werden von protzigen Gabelstaplern wie Schuhkartons durch die Halle befördert. Die Sonne quält sich durch die dreckigen Hallenfenster und dann steht sie da, ganz vorne mit all den anderen reisenden Bikes. Mein Bienchen! Der lustige Lagermeister nennt sie „die Große“, weil sie so breite Koffer hat. Ich bin nur froh, dass sie wieder daheim ist und alles so gut gelaufen ist. Papiere kleben am Topcase und die Koffer dann zu öffnen war ein Erlebnis für sich. Nur der Slogan von Peter Stuyvesant beschreibt das olfaktorische Ereignis adäquat. Es ist schon ein feierliches Gefühl, in die stinkenden, verdreckten Klamotten aus den Koffern hineinzusteigen. Der eingebrannte Staub der Atacama wird ein ewiges Souvenir bleiben und (hoffentlich) nie wieder rausgewaschen. Mein Gefühl sagt mir, ich bin noch in Südamerika und es geht jetzt weiter, mein Kopf widerspricht, es geht nach Hause. Aber beide sind sich einig, das war nicht das letzte Abenteuer.
Doch bei aller Freude, dass mein Moped heile zurück ist, ist Bienchen leider krank. Seit Bolivien hat sie Kupplungsschnupfen, den sie in Südamerika noch über 3000 km tapfer ausgehalten hat, aber der nun nach der langen Seereise schlimme Symptome zeigt. Sie springt zwar sofort an, aber nur mit viel Kraft und braucht etwas Gas, damit sie an bleibt. Wenn ich dann den ersten Gang einlege hüpft sie und ist aus. Ok, also warmlaufen lassen und dann ganz vorsichtig. Sie läuft. Kupplung ist hypersensibel, aber wir schaffen das. Nun ja, ohne tiefer in die Diagnose einzusteigen muss sie wohl zur Kur in die Werkstatt. Mit etwas Geschick und Fingerspitzengefühl haben wir es dann nach Hause geschafft. Bei Betriebstemperatur läuft alles nahezu normal.
Nach gut zwei Stunden bei Sonnenschein auf dem Teutoburger Wald angekommen, ist nun auch der letzte Punkt der Reise gemacht. Ich bin gespannt, wie es in den nächsten Monaten weitergeht, welche Pläne und Ideen wachsen und was anders wird in meinem Leben. Welcome home.