🇬🇷🇹🇷
Auszeit 2022 - Die Kaukasusreise

Etappe 2: Antikes Europa - Nordgriechenland und südwestliche Türkei

8.-11. Juni 2022 – Bergroute aus dem Bilderbuch und drei Tage Pause

Zeitiger Aufbruch von Peštani, bestes Wetter und es beginnt mit einem Serpentinen-Auftakt aus dem Bilderbuch. Wenige Kilometer hinter Peštani beginnt der Galičica-Nationalpark, er bildet die trennende Bergkette zwischen dem Ohridsee und dem Prespasee. Für zwei Euro Eintritt erwarten einen knapp dreißig Kilometer Bergpanorama und eine paradiesische Motorradstrecke. Siebenhundert Höhenmeter gilt es zu erklimmen bis zum Sattel, kurz darauf hat man einen herrlichen Ausblick auf die andere Seite, auf den Prespasee, der genau auf dem Dreiländereck Nordmazedonien, Albanien und Griechenland liegt. Der Abstieg auf frisch asphaltierter Straße gestaltet sich zügig, dann beginnt eine eher langweilige Strecke bis zur griechischen Grenze. Irgendwann gegen Mittag bin ich da und das erste Mal mit Bienchen in Griechenland.

Direkt hinter der Grenze ist die Autobahn nach Thessaloniki (griech. Θεσσαλονίκη) ausgeschildert. Als Naturwissenschaftler kann ich das sogar lesen, da ich das griechische Alphabet in statistischer Thermodynamik sowie Physik und Mathematik mindestens einmal komplett durch habe. Siehe an, ich habe doch irgendwie fürs Leben studiert. Allerdings ist die Autobahn langweilig und ich nehme die nächste Ausfahrt und folge den Landstraßen. Aber auch diese sind wenig spektakulär, so dass es unvermeidbar auf „Strecke machen“ hinausläuft. Thessaloniki passiere ich über die mautpflichtige Autobahn, für 0,30 Cent halten die hier den Verkehr an und kassieren Autobahngebühr. Unfassbar! Eine Stunde später bin ich auf Chalkidiki, wo die mühsame Suche nach einer Unterkunft beginnt. Es hat sich erwartungsgemäß sehr viel verändert, seit ich das letzte Mal vor ziemlich genau vierzig Jahren an diesem Ort war. Im Touri-Rummel von Nikiti habe ich keine Lust zu übernachten, ich möchte Ruhe und wenn’s geht etwas Beschaulichkeit für meine kleine Pause. Wie schon oft erlebt, bieten einige Hotels im Netz schöne Unterkünfte an, kommt man aber dorthin, sind die guten Zimmer leider ausgebucht und man schimpft auf die Onlineportale. Beworben werden die besten Zimmern, Kohle verdienen will man mit irgendwelchen Löchern, die man dem späten Ankömmling in seiner Not versucht anzudrehen. Und das Hotel-Restaurant könnte man als Gast natürlich nutzen, die Taverne 20 Minuten fußläufig von hier sei aber besser... Bla bla bla, ich möchte intelligent übers Ohr gehauen werden! Ich suche mir was anderes!

Kurzum, ganz im Süden von Sithonia – das ist die mittlere der drei Chalkidiki-Halbinseln – finde ich den kleinen Ort Toroni, der zwar auch ein grauenhaftes Tourinest ist, aber sehr ruhig. An der erst besten Pension halte ich an und die freundliche alte Frau pfeift sogleich ihren Sohn vom Rasenmähen heran und ich bekomme ein Zimmer mit Balkon und Meerblick! Geht doch. Zwar ist alles ziemlich durcheinander hier und weit entfernt von Luxus oder Klasse, aber es bestätigt sich wieder genau das oben schon genannte: Die Gastfreundschaft ist durch keinen Luxus oder Komfort zu ersetzen. Das nächstgelegene Restaurant ist meins, es gibt Tintenfisch und einen leckeren Retsina! Und jetzt liegen drei ganze Tage Pause vor mir!

12. Juni 2022 – Einmal mehr Meer

Über den heutigen Startzeitpunkt habe ich mir viele Gedanken gemacht, denn es sind nach den ausgiebigen Gewittern der letzten Tage noch einige Schauer für Makedonien und Thrakien angekündigt. Wir werden sehen.

Letztendlich ist es viertel vor zehn und die Weiterfahrt geht an der Ostseite von Sithonia entlang Richtung Norden. Ich erlebe eine abwechslungsreiche, leichte Strecke und der große Berg Athos auf der Nachbarhalbinsel ist mein ständiger Begleiter am Horizont. Heute ist Pfingstsonntag in Griechenland und alles ist in Feiertagsruhe getaucht. Deshalb gibt es angenehm wenig Verkehr, die Menschen in den Ortschaften sind auf der Straße, mit der ganzen Familie und alle Tavernen und Cafés haben sich schon zum Frühstück ein wenig rausgeputzt für die Festtagsbesucher in Ausgehlaune. In Pyrgladika ist es so hübsch, dass auch ich in ein kleines Straßencafé einkehre und mein zweites Frühstück zu mir nehme: Einen großen Pott Kaffee und ein Gemüseomelette. Lecker!

Die nun folgenden 70 Kilometer bis zum Volvi-See sind noch ganz beschaulich, das Meer verschwindet erst einmal und dann wird es recht eintönig. Die Berge im Norden sind zu weit weg und landschaftlich macht die Küstenregion ab Stavros ostwärts nicht so viel her. Ich entscheide, es mir einfach zu machen und wähle ab hier bis auf Weiteres die Autobahn. Landstraße als Selbstzweck, nur weil man Motorrad fährt, ist ja auch Blödsinn. Schließlich habe ich dann später in meiner Unterkunft auch etwas mehr Zeit. Und das war die richtige Entscheidung! Nach guten zwei Stunden auf besagter Autobahn biege ich ab nach Maroneia. Und plötzlich wird es dann doch noch schön. Kleine ginstergesäumte Straßen führen in eine hügelige Landschaft, nur wenige winzige Dörfer liegen auf meinem Weg und nach kurzer Zeit taucht auch das blaue Meer vor mir auf. Ich hatte mir eine kleine Unterkunft direkt am Meer ausgesucht und jetzt hoffe ich, dass dort etwas frei ist. Das Vorbuchen habe ich mir abgewöhnt, ich schaue mir erst an, wo ich unterkomme. Alternativen gibt es immer ausreichend.

Diese Pension für heute ist jedenfalls herrlich. Ein altes griechisches Ehepaar empfängt mich und Zimmer sind ausreichend frei. Alles ist familiär, Frühstück gibt es morgen früh im Wohnzimmer und mein Zimmer, ja, das ist ein Volltreffer. So wollte ich das für meine letzte Übernachtung in Griechenland haben. Dass die Steckdose erst einmal abfackelt, als ich Teewasser erhitzen will, ist Nebensache. Ich glaube so richtig VDE gerecht ist das eh alles nicht installiert, das „D“ in dem Akronym steht ja auch für Verband „Deutscher“ Elektrotechniker :-) Das Ding brennt und funkt mindestens 15 Sekunden richtig heftig, der alte Grieche hat das dann aber anschließend gefühlt genauso schnell wieder repariert. Sieht etwas wild aus, aber ich habe heißes Teewasser und kann jetzt endlich meinen Balkon genießen und das Meer und den Wind.

Viel mehr Aufregendes passiert nicht. In der nahen Taverne bestelle ich später frische Meeräschen und einen göttlichen Zaziki, dazu wie meistens einen kühlen Retsina. Es folgt die geruhsame Nacht, in der ich viele Male hinaus auf die Terrasse gehe, um den Vollmond und das Meer in nächtlicher Stille zu bewundern. Was für ein Licht und was für eine Weite.

13. Juni 2022 – Enttäuschung in Edirne

Nach der schönen Nacht von gestern freue ich mich auf ein tolles Frühstück und den Aufbruch in die Türkei. Noch einmal geht es hinauf in die thrakischen Berge, genauer durch die südöstlichen Rhodopen, entlang der bulgarischen Grenze. Herrliche Bergstraßen, vereinzelte Lavendelfelder und tolle Aussichten begleiten mich bei bestem Wetter und die schlechten Straßen ordne ich dem Abenteueranteil der Reise zu. Unterwegs sprudeln Quellen aus den Bergwänden mit bestem Gebirgswasser. Ein paar Einheimische füllen hunderte von Flaschen ab und beladen ihre kaum noch verkehrstauglichen Pick-ups damit. Die üblichen Begegnungen mit Kühen, Schafen, Ziegen oder Pferden bin ich ja mittlerweile gewohnt, sie bringen immer etwas Abwechslung in die Fahrt. Bei Mikro Dereio dann noch eine Flussquerung über den Erythropotamos (roter Fluss). Eine abenteuerliche Holz-Stahl-Brücke, deren Fahrspuren mit Metallplatten gedeckt sind, führt über das fast trockene Flussbett. Das rhythmische Geräusch beim Darüberfahren klingt stabil, was mich aber nur bedingt beruhigt. Ich passiere dann später die kleine Grenze zur Türkei hinter dem griechischen Ort Kastanies. Die Griechen sind tiefenentspannt, meine deutsche Staatsbürgerschaft genügt offensichtlich zum sorgenfreien Durchwinken. Auf türkischer Seite sind fünf Autos vor mir, das ganze Prozedere dauert dann 45 Minuten, es hätte schlimmer sein können. Die Damen und Herren Grenzverbeamteten nehmen ihren Job sehr ernst, was sich allerdings darauf beschränkt, völlig humorlos irgendwelche Daten zu erfassen, hübsche Fotos von mir zu machen und vor allen Dingen, mir niemals in die Augen zu sehen. An der Ecke der Grenzstation steht hinter Sandsäcken irgendein Realschüler mit Maschinenpistole im Ferienjob und bewacht die Türkei.

Edirne ist nicht mehr weit, schnell tanken, Bienchen ist völlig leergefahren, dann: Herzlich Willkommen Türkei! Das Hotel finde ich problemlos, guter Laden, ich habe Hunger und Durst.

Etwas gestärkt mache ich mich auf zum Highlight, zur Selimiye Moschee. Doch was für eine Enttäuschung, als ich erkenne, dass sie von innen komplett eingerüstet ist. Das heißt, man sieht tatsächlich nichts – absolut nichts. Die großformatigen Fotos trösten da nicht, sie machen es nur noch schmerzhafter, was ich heute alles verpasse. Ich bin wirklich enttäuscht.

Als kleinen Ersatz schaue ich mir die Burmalı Moschee an, die Drei-Balkone-Moschee. Der Name rührt daher, dass drei Balkone an den Minaretten für die damalige Zeit eher unüblich waren. Und warum auch immer gehe ich auch noch in die Alte Moschee (Eski Ulu Camii). Sie ist fast leer und dort setze ich mich auf den Boden an eine Wand. Der dicke Teppich schmeichelt meinen nackten Füßen, es herrscht trotz des lärmenden Treibens draußen eine unglaubliche Stille hier drin. Die Luft ist angenehm kühl und die Größe des Innenraums ist beeindruckend. Das Faszinierende für mich in Moscheen ist genau diese Leere. Sie hält die Welt auf Abstand und gibt meinen Gedanken Freiheit. Fast eine ganze Stunde sitze ich dort, das tut so gut.

Der restliche Nachmittag und der Abend sind kurz und ich werde mich jetzt ausruhen, morgen wird es mit Sicherheit anstrengender. Gute Nacht.

14.-16. Juni 2022 – Istanbul: Die Hagia Sophia ist immer noch schön und ein vielleicht geklauter Tresor

Die Anreise aus Edirne war wenig spektakulär und am Ende wurde es erwartungsgemäß recht anstrengend. Sechseinhalb Stunden Überlandfahrt kamen insgesamt zusammen, davon drei(!) Stunden für den Großraum Istanbul bis Sultanahmet. Auf dem Asphalt waren es 40°C, Bienchen hatte im Stop and Go zweimal Überhitzungsalarm und mein T-Shirt war am Ende so nass wie ungeschleudert aus der Buntwäsche gezogen. Jetzt sind wir mittendrin und sind reich belohnt worden. Wir haben nicht aufgegeben, das Wunschhotel zu finden und haben das beste Zimmer der Stadt bekommen.

Da ich vor neun Jahren schon einmal länger hier war, kannte ich mich ein kleines Bisschen aus, d.h. natürlich nur hier auf dem Goldenen Horn. Der erste ziellose Spaziergang war sehr schön, ich hatte so ein Gefühl von Wiedersehensfreude. Trotz des Trubels ist es recht angenehm im Sultanahmet-Park. Die Menschen wandeln umher, sitzen auf den Wiesen oder Bänken und machen alle den Eindruck, dass sie glücklich sind, hier zu sein. Ich setze mich einfach dazu.

Nun, einen konkreten Plan für Istanbul habe ich nicht, ich muss ein paar Sachen recherchieren und vorbereiten, was meine weitere Reise durch die Türkei angeht. So muss ich z.B. prüfen, ob Fähren übers Marmarameer fahren, das würde zum einen eine hübsche kleine Seereise bedeuten, zum anderen ersparte es mir den Ritt aus dem Moloch heraus. Um es vorwegzunehmen, es fährt nur eine einzige Autofähre, die mir aber wenig nützt. Das habe ich durch den persönlichen Besuch bei der Reederei herausfinden können. Das Ausschlussverfahren war mir im Vergleich zu aufwändig. Online geht natürlich alles. Jedes Fährunternehmen ist das tollste, geilste und schnellste der Welt, genau bis zu dem Moment, in dem es ernst wird und der kaufwillige Kunde tatsächlich buchen will. Dann heißt es „Verbindung gestrichen“. In genau diesem Moment überlege ich mir immer, ob es nicht irgendein Business-Viagra gibt, was das peinliche Erfüllungsdilemma der vollmundigen Leistungsversprechungen beseitigen könnte. Es wäre dringend nötig.

Derartige Aktivitäten mischen sich in den drei Tagen mit kleinen Ausflügen in den großen Bazar, ins Herz von Eminönü oder in diverse Moscheen, falls ich mal wieder eine kleine meditative Pause brauche. Es ist herrlich, das Treiben in dieser zweitgrößten Stadt Europas (nach Moskau) einfach auf sich wirken zu lassen. Nicht alles versteht man hier. Falsch abgebogen steht man für einen Häuserblock in Stoßzeiten schnell mal eine halbe Stunde - auch mit einem vollbeladenen Reisemotorrad. Dagegen hilft es, Regeln zu brechen, an die sich hier eh nicht alle halten. Natürlich auch ich nicht, schließlich passe ich mich als Gast gerne respektvoll den Landessitten an. Eine Einbahnstraße im Gegenverkehr nehmen, vereinfacht manches Ortsfindungsproblem erheblich. Die sehr präsente Polizei sieht tatenlos zu und ist im Grunde handlungsunfähig. Die fährt ständig mit Blaulicht herum, Platz macht keiner und dann stehen die Ordnungshüter halt wie alle anderen in der Blechlawine und spielen auf ihren Smartphones. Derweil wird ein Tresor kurzerhand auf einer Sackkarre ganz in Ruhe davongeschafft. Ob er voll ist oder leer, weiß ich nicht, und welche geheime Geschichte dahintersteckt, werden wir nie erfahren.

Szenenwechsel. Der große Basar (Kapalı Çarşı) ist ein großartiges Erlebnis. Mehr oder weniger nach Warengruppen sortierte lange Bogengänge verzaubern mich mit hunderten teils winzigen Geschäften voller Glitzer, Gold und funkelnder Edelsteine. Rechts abbiegen und wunderschöne Kelims wecken meine Begeisterung. Links abbiegen und ein Intermezzo mit sinnlosem Plastikspielzeug und einfallslosen Fußballertrikots löschen diese Begeisterung im Handumdrehen wieder aus, so ein unfassbarer Müll, der hier angeboten wird. Dann folgt die „Feinschmeckerabteilung“, alles duftet, alles essbar, alles ist perfekt präsentiert und alles darf probiert werden. Ich bin verloren und begeistert zugleich. Lieblingsort, Leidenschaft, Genuss, olfaktorisches und gustatorisches Feuerwerk! Ich bin im Glück.

Auch der Besuch der mittlerweile wieder zur Moschee umgewidmeten Hagia Sophia steht auf meinem geistigen Zettel. Die Diskussion zum politischen Missbrauch eines kulturellen Erbes von fundamentaler, religionsübergreifender Bedeutung und der Entfernung eines ganzen Staates vom Laizismus führe ich hier nicht. Dazu gibt es keine zwei Meinungen!

Ich widme mich lieber der Imposanz, der Schönheit und der historischen Einzigartigkeit der Hagia Sophia. Die Auslegung des riesigen Innenraums mit dem dicken, grünen Gebetsteppich hat nicht wirklich geschadet. Es hat immer noch etwas Respektvolles, heilige Hallen barfuß zu betreten, finde ich. Die Schließung und Verdeckung christlicher Relikte und Darstellungen allerdings ist Diebstahl an der fast einhundertjährigen Symbolik der Hagia Sophia für die dringend notwendige Überwindung religiöser Grenzen, gegenseitigen Respekt und Akzteptanz.

Vielmehr ist dann auch in Istanbul gar nicht passiert. Ich habe meine Dachterrasse jeden Abend genossen, war sehr lecker Essen und habe die langen Abende mit viel Lektüre zu den noch kommenden Herzenszielen in der Türkei verbracht. Morgen geht’s weiter. Gute Nacht Istanbul!

17. Juni 2022 – Troja und die Reise nach Jerusalem

Die Entscheidung ist gefallen, ich werde den langen Weg gegen den Uhrzeigersinn durch die Türkei nehmen. Falls es mir nämlich tatsächlich gelingen sollte, in einigen Wochen eine Überfahrt von Batumi (Georgien) nach Varna (Bulgarien) über das Schwarze Meer buchen zu können, hätte ich keine Chance mehr, mir die Schönheiten in der Türkei anzusehen. Also raus aus dem Moloch Istanbul, was deutlich einfacher war als die Anreise, dann der bekannte Effekt, dass ich die kleinen Straßen nur schwer oder gar nicht finde. Eine völlig überdimensionierte sechsspurige Autobahn führt mittlerweile bis nach Çanakkale, ganze Abschnitte kleinerer Straßen sind oft dem Erdboden gleich gemacht worden und die Ausfahrten der Autobahn liegen extrem weit auseinander. Also besteht ein großer Teil der Fahrt aus leerer, aber langweiliger Autobahn.

Ich verlasse die Halbinsel Gallipoli (Gelibolu Yarımadası) und das europäische Festland über die große Çanakkale Brücke Richtung Asien und erreiche kurz darauf Çanakkale. Ein Besuch des Holzpferdes am Hafen, wenn man schon einmal hier ist, passt bequem in meinen Zeitplan. Es ist zwar nur eine Filmrequisite, aber dennoch ganz eindrucksvoll und eine kleine Einstimmung auf Troja selbst. Und bis dahin ist es nicht mehr weit. Eine simple Unterkunft hatte ich mir gestern schon reserviert und der restliche Nachmittag steht mir nun zur Entspannung zur Verfügung. Ganz hübsch ist es hier auch, was will ich mehr?

Ich treffe Valentino, der in sich gekehrt auf den Stufen im Garten sitzt. Hier parken Reisefahrräder und ich frage ihn, ob er einer der Fahrradreisenden sei. „Nein“ antwortet er auf Französisch, er sei zu Fuß unterwegs und wandere von Lille nach Jerusalem. „Cool“, ist meine kurze Antwort, meinen Respekt halte ich noch zurück.

Beim Abendbrot kommen wir natürlich nochmals ins Gespräch, das interessiert mich ja nun doch. Schließlich war eine meiner großen Ideen für meine Auszeit u.a. auch eine einjährige Wanderung auf dem Europawanderweg E1. Valentino erzählt mir viel über die Route, wie er die kalten Jahreszeiten überstanden hat und wie er das so mit den Unterkünften und den vielen aggressiven Straßenhunden regelt. Dann geht es um Weltpolitik, Philosophie und um die zu Hause gebliebenen Freunde und Bekannten. Ein Thema aller Globetrotter, das nie ausgelassen wird, weil es einfach nicht nachvollziehbar ist, fehlte auch in unserem Gespräch nicht: Die Bewunderung und manchmal auch der Neid lieber, daheim gebliebener Menschen, die es nicht schaffen, die Dinge zu tun, von denen ihr Herz erfüllt ist und nach denen sie sich sehnen. Stattdessen leben sie das Leben der anderen, in ihren Filmen, in ihren Fantasien und im großen weiten Internet. Ein Phänomen, das es schon so lange gibt wie es Reisende gibt und mit dem jeder schon einmal konfrontiert wurde, der für länger seine Heimat verlässt, um die Welt zu entdecken.

Der Abend wurde lang, das kleine Restaurant war schon längst geschlossen, als wir die weltbewegenden Themen alle fertig ausdiskutiert und das letzte Bier geleert hatten. Ich fühlte mich vierzig Jahre zurückversetzt in die Zeit meiner ersten Weltreise nach Südamerika. Was für ein Flashback! Es hat sich nichts an der Faszination von zufälligen Begegnungen mit spannenden Menschen und ihren verrückten Ideen geändert. Das sind die Begegnungen, die das Universum bereithält.

Jeder Mensch mit einer neuen Idee ist erst einmal ein Spinner, bis die Idee Erfolg hat!

18. Juni 2022 – Die Ruinen von Troja

Heute ist Geschichtsstunde. Thema: Die Stadt Troja von der frühen Bronzezeit bis zum Beginn des Mittelalters. Das sind mal ganz locker rund 3500 Jahre. Und um das einordnen zu können, der Beginn der Bronzezeit entspricht der „Ötzi-Epoche“ und das ganz frühe Mittelalter in etwa der größten Ausdehnung des Römischen Reiches (ca. 500 n.Chr.). Und diese ganzen Epochen finde ich nun hier in Troja gestapelt vor mir und bin zunächst völlig verwirrt. Ja, gestapelt, Ihr habt richtig gelesen. Die Trojas (Plural!) werden nämlich durchnummeriert von I bis X, von unten nach oben. Diese Antike Stadt ist viele Male zerstört worden und auf den eigenen Trümmern neu wieder aufgebaut worden. Im Einzelnen ist das ziemlich kompliziert, was ich aber im neuen Troja-Museum sehr schön erklärt bekommen habe.

Wie auch immer der historische Hintergrund tatsächlich gewesen sein mag und welch große Sagen und kleine Anekdoten sich alle um Troja ranken, allein mit meinem porösen Geschichtswissen sollte es heute ein Tag in einer anderen Zeit werden. Wer hier schon alles rumgelaufen ist! Ohne sie dem richtigen Troja I bis X zuordnen zu können: Paris, Odysseus, Achilles, Agamemnon und Aristoteles, um nur einige zu nennen. Wie waren die damals so drauf? Freundlich? In Eile? Mit Geleitschutz? Hätten sie gegrüßt, wenn ich sie gegrüßt hätte? Waren sie gut gekleidet und vielleicht parfümiert oder riechen Helden immer streng nach Kampfschweiß? Gerade kommt ein eindrucksvoller, heiterer Mann mit großem Gefolge die Südrampe herunter. Ist das nicht Nestor? Der Bekannte von Jason? Ihr wisst schon, Argonauten, goldenes Vlies usw. ...

Das Kopfkino weicht wieder der Realität, ich sehe die Mengen von großen und kleinen Steinen, die hier verstreut herumliegen. Alle hatten einst eine Aufgabe. Sie waren Teile von Häuserwänden, Stufen des Odeons (Theater) oder Verzierungen der Tempeldecken. Sie waren Pfeiler von Zisternen, Straßenplatten oder bildeten die Kaimauern des Hafens. Kaimauern? Ja, Troja war eine Hafenstadt. Kaum vorstellbar schaut man von hier oben in das weite Land von Troas, wie die Region korrekt heißt. Der antike Fluss Skamander mündete seinerzeit direkt vor den Mauern Trojas in eine große Meeresbucht, heute liegt sein Delta schon gute fünf Kilometer weiter nördlich. Die Bucht ist durch die Sedimentfracht verlandet und Troja liegt immer noch auf demselben einsamen Hügel, der die ganz besondere Lage dieses Siedlungsortes ausmacht.

Wie klein Troja ist, erstaunt mich. Gemessen an der historischen Bedeutung, könnte man berechtigt an den Überlieferungen zweifeln. Nein, der erforschte und ausgegrabene Teil misst nur wenige hundert Meter, aber viele Wissenschaftler vermuten eine weitaus größere Ausdehnung als die des Hisarlık Tepe - des Burgberges, den man heute besuchen kann.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, der anschließende ausgedehnte Besuch des wirklich guten Troja-Museums liefert mir noch einige spannende und Wissenslücken füllende Informationen, bevor ich zur geistigen Verarbeitung des Erlebten in meine nette Pension zurückkehre. Ein leckerer Salat, ein kaltes Bierchen und dann in tiefen Träumen mit Agamemnon plaudern oder sich von Homer eine Gutenachtgeschichte vortragen lassen...

19. Juni 2022 – Opfer für Athene und Apollo

Ich wandle ganz alleine im Tempel des Apollon Smintheus. Die heiligen Hallen werden von ionischen Säulen gestützt, das Wasser in den Hamams ist für die Götter und Helden eingelassen. Auf dem Heiligen Weg herrscht geschäftiges Treiben. Errichtet wurde dieser Tempel zu Ehren des Gottes Apollon der gerne auch den Beinamen Smintheus trägt. Zu seinen Füßen schuf ein berühmter Bildhauer einst eine Maus, die auf die Prophezeihung deutet, die Teukrer sollen auf ihrer Reise genau dort siedeln, wo die Geschöpfe der Erde sie überfallen werden. Feldmäuse zerfraßen ihnen dann eines nachts die Kleidung und sie ließen sich an diesem Ort nieder. So steht's geschrieben.

Mögen die Götter mich verschonen, dass meine Motorradkombi des Nachts auch von „Erdgeborenen“ – wie es bei Strabon heißt – zerfressen wird. So lasse ich in der nahen Tempeltaverne einen frischen Maulbeersaft bereiten, tief rot gefärbt vom Blute des Pyramos. Andächtig verleibe ich mir den Trunk ein, vertrauend auf die Wirkung des Rituals. Ich bezahle den guten Wirt königlich.

Mein Weg führt mich weiter in den Süden der Troas nach Assos, dorthin, wo Aristoteles lange lehrte. Hier bringe ich mein zweites Opfer heute. Ein steiler Weg führt bei großer Hitze hinauf zum Tempel der Athene. Nicht genug, ich muss diesen Weg mit voller Kampfausrüstung (Motorradhose und Stiefeln) bezwingen. Als ich oben ankomme hört der starke Wind ganz plötzlich auf und ich muss die Mittagshitze ohne Abkühlung ertragen. Wenn mir diese Last von den Göttern auferlegt ist, werde ich sie geduldig ertragen. Ich verweile andächtig im Tempelbau der Athene, und hier wird Aristoteles mit Sicherheit auf der Suche nach göttlicher Eingebung irgendwann mal langgeschlichen sein. Was für ein Gefühl. Ein Sonnenstrahl trifft mein Auge und meine Eingebung in diesem Moment ist: Ich soll ein zweites Getränk frisch bereiten lassen und zu mir nehmen! Und wieder suche ich die nächst gelegene Taverne auf und lasse mir ein durch Bakterien verdicktes Milchgetränk mit Wasser und Salz schaumig rühren und servieren. Andächtig trinke ich die weiße, dicke Flüssigkeit und spüre sogleich ihre Wirkung. Kraft steigt in meine Glieder, ich sattle auf und setze meinen Weg fort bis ins sagenumwobene Pergamon!

Freundliche Bewohner der Stadt empfangen mich in ihrem Palast mit irgendwie bekannter Nahrung aus dem fernen Rom und einem gekühlten Getränk aus Rindermilch und dem Extrakt einer gerösteten Bohne. Man bereitet mir ein Lager, ich bin müde von der staubigen Reise und den Aufgaben der Götter. Mögen die Erdgeborenen fern bleiben und mir eine geruhsame Nacht geschenkt werden. Id quomodo sit!

20. Juni 2022 – Pergamon, sonst nichts.

Der Tag gehört der alten Stadt Pergamon. Zu groß, zu geschichtsträchtig und mit einem Tag eindeutig zu wenig Zeit, um die Ereignisse und Geschichten auch nur annähernd zu verinnerlichen. So belasse ich es bei dem, was ich schon weiß, lese die Tafeln nur flüchtig und widme mich den Ausblicken, Anblicken und Eindrücken dieses größten, hellenistischen Monuments. Und am Ende wir es dann noch extra schön, ich gehe die gut erhaltene, alte Stadtstraße abwärts und wandle durch das obere und untere Gymnasium, den Tempel der Demeter und zwischen einfachen Stadthäusern hinab bis ins Tal. Hierher kommen keine Touristen her, das ist ihnen zu mühsam und zu unwegsam. Mir ist das gerade recht und nach über vier Stunden in den gigantischen Ruinen erreiche ich den Ausgang am Stadtrand des heutigen Bergama.

Die Bilder lasse ich unkommentiert, lasst sie einfach auf Euch wirken und lest in den unendlichen Quellen der einschlägigen Literatur über Heldentaten und den Alltag in Pergamon.

22. Juni 2022 – Ephesus und das Weltwunder gegenüber

Es etabliert sich ein gewisser Rhythmus. Einen Tag entspanntes Reisen, nicht zu lang, so dass ich unterwegs Zeit für Pausen habe und am Nachmittag mein Ziel erreiche. Den Abend nutze ich für notwendiges Organisatorisches und ein gemütliches Dinner. Den zweiten Tag widme ich dann den Sehenswürdigkeiten, auch hier bleibt anschließend noch ausreichend Zeit für Kontemplation und Wohlfühlen mit Kaffee, Schirmchen- oder Schaumkronengetränken. Und genau so ist es auch hier in Ephesus. Gestern angereist, chillen, Kaffee im Café und kleines Dinner sobald es sich abgekühlt hatte. Heute früh nach einem zauberhaften Frühstück mit dem Taxi rauf zum Südeingang der Ruinen von Ephesus.

Erwartungsgemäß bin ich nicht alleine dort. Obwohl keine Saison ist und es nur mäßig besucht ist, tummelten sich schon hunderte Touris am Eingang. Alles geht trotzdem zügig und ich betrete Ephesus, einen Ort, dessen Geschichte vor 9000(!) Jahren begann. Es ist die größte und einflussreichste Stadt des Altertums und zu ihr gehört auch eines der Weltwunder der Antike: Der Artemis Tempel, von dem aber nicht mehr viel steht. So begebe ich mich ehrfurchtsvoll auf den Weg durch die bedeutendste Stadt des Altertums. Vorbei an Wohnhäusern, den Bädern des Varius, immer die Via Curetes hinunter. Ich passiere das Herkules Tor, es folgt der Tempel des Domitan mit seinen großen Statuen und gleich dahinter der Tempel des Hadrian und die Brunnen des Trajan und des Pollio. Die Dichte der Monumente ist extrem, genau wie die der Eindrücke, die ich verarbeiten muss. In den sogenannten Terrassenhäusern, einem extra eingehausten Stadtteil, wohnte die gut betuchte Oberschicht der Metropole. Reich geschmückt sind Wände, Decken und Böden mit Fresken und wertvollen Mosaiken. Allesamt hervorragend erhalten. Eine Augenweide, allerdings auch ein Zeugnis dafür, wie weit die soziale Schere schon damals auseinanderging. Mittagshitze, Trinkpause im Schatten.

Dann weiter. Nicht nur die Via Curetes, fast alle Prachtstraßen sind belegt mit Marmorplatten und gesäumt von unzähligen Säulen. Statuen der Herrschenden und Sieger in den Nischen, manche größer, manche bescheidener. Der Reichtum dieser Stadt war immens. Ein Stück weiter, dort wo die Via Curetes einen Rechtsknick macht, steht prunkvoll die wieder aufgebaute Fassade der Celsus-Bibliothek. Gerne hätte ich an dieser Stelle Platz genommen, Geschichte geatmet und antike Gegenwärtigkeit erlebt. Stattdessen ungehemmte bis peinliche Selfieorgien einer amorphen Masse von schwitzenden, parfümierten Ignoranten. Sie treten in nummerierten Horden mit gruppenweise andersfarbigen Sonnenschirmen auf und wälzen sich gnadenlos durch die Heiligtümer. Lärmend, selbstverliebt und blind fürs Eigentliche. Ständig auf der Suche nach der optimalen Kulisse für die Ablichtung ihrer Bedeutungslosigkeit angesichts dessen, was man hier Wunderbares vorfindet. Eine Japanerin mit rotem Hut bittet mich, ein Foto von ihr und ihrer Freundin zu machen und drückt mir vertrauensvoll ihr Smartphone in die Hand. Ich scherze, dass es zwölf Dollar kostet. Erschreckt und vollen Ernstes nimmt sie mir das iPhone sofort wieder weg. Ich mache ihr klar, dass es ein Scherz gewesen ist und so kommt es dann doch noch zum Foto. Mehrmals treffe ich die Dame wieder und jedes Mal bedankt sie sich erneut und wünscht mir eine gute Reise. Das Erlebnis wird ihr vermutlich länger zu einer Urlaubsgeschichte gereichen als das, was sie von Ephesus mitbekommen hat.

Diese Stadt hat eine unglaubliche Ausstrahlung, sie ist mit Sinn, Verstand und Herzblut gebaut worden, auch wenn unübersehbar Statuspflege und Machtdemonstration die Hauptrolle spielen. Es gibt Perspektiven dieser Architektur, die unfassbar schön sind, aber unmöglich fotografisch darzustellen mit diesen Menschenmassen. Ich habe meine liebe Not, das abzulichten, was ich sehen kann und ich glaube, mein Bildbearbeitungsprogramm wird an seine Grenzen kommen.

Nach Stunden und auch ein paar stillen Momenten in den Randbereichen, wo keine Touris sind, verlasse ich den Rummel und mache mich auf den Heimweg. Die Taxifahrer lehnen eine Fahrt nach Selçuk ab, es lohnt sich nicht. Gut, wer sich’s leisten kann, gehe ich halt zu Fuß und mache in der späten Sonne noch einen Abstecher zum Tempel der Artemis – einem der sieben Weltwunder der Antike. Irgendwo von der Schnellstraße geht ein staubiger Feldweg ab, keine Menschen, kein Business, kein Eintritt. Der Artemistempel war der größte, der von den Griechen je gebaut wurde und vermutlich der erste aus Marmor. Es steht noch eine einzige Säule von 127, auf der ein Storchenpaar seinen Nachwuchs großzieht, daneben ein Säulensockel. Das war’s. Die Ostgrenze des Tempelgrundstücks liegt gleich gegenüber von meiner kleinen Pension und dem Café. Die Leute hier nennen die Anlage einfach nur Garten. Weltwunder! Toll!

Jetzt mache ich die Augen zu und spaziere durch ein menschenleeres Ephesus. Gute Nacht!

23. Juni 2022 – Das Orakel des Appolon, die Brücken von Nysa und Süleyman muss helfen.

Nach gutem Frühstück im meinem Hotel „Queen Bee“ – der Name ist eine Hommage an meine Reisegefährtin - brach ich gemütlich gegen zehn auf und wenig später in Didim erwartete mich ein imposanter und wunderbar erhaltener Tempel des Apollon samt Orakel und einem perfekten Adyton. Das ist eine unbedachte, aber rundum geschlossene Halle. Geschlossen heißt in dem Fall, dass die Quelle des Orakels hier einst sprudelte und die Halle nur über zwei schräg nach unten führende Tunnelgänge erreicht werden konnte. Andere Ein- oder Ausgänge hatte die Halle nicht. Es war brutal heiß, aber dafür schön leer und ich stellte mir ununterbrochen vor, wie das kühle Wasser des Orakels meine Füße umspült und mich erfrischt. Nun ja, die Quelle ist schon v. Chr. versiegt, es wird also nix mit Füße kühlen. Ohne Plan irrte ich noch ein halbes Stündchen durch die Ruinen und ließ mich von allen möglichen Relikten lenken, ablenken und inspirieren zu Bildern wie das Leben hier vor 2000 Jahren wohl ausgesehen haben mag. Ein riesengroßer Becher eisgekühlte Limonade in der Ruinentaverne musste das versiegte Quellwasser ersetzen, dann ging’s weiter nach Nysa.

Die Straßen waren wenig spannend, ich nahm die größeren, da kann ich schneller fahren und bekomme so mehr Fahrtwind in die Jacke. Das ist angenehm, denn es ist wie gesagt ziemlich heiß heute. Manchmal kommen trockene, warme Böen von der Seite und die Ortsdurchfahrten sind echte Härtetests. Das Thermometer steht auf 40°C, Bienchen gibt sich alle Mühe, die nächste Schnellstraße mit Fahrtwind wartet am Ortsausgang auf uns...

Wir erreichen Nysa, eine etwas abgelegene, nicht so populäre antike Stadt, die sich durch ihre Brücken auszeichnet. Sie liegt an einem Talende und ist mit mehreren Tunneln unterzogen. Große Brückenfragmente stehen noch am Straßenrand, manche Brücke ist noch sehr gut erhalten. Man darf die Ruinen sogar mit dem Motorrad durchfahren, was mich zunächst verwundert, aber wenn’s geht, warum nicht? An einem Brunnen erfrische ich mich und treffe dort Vater und Sohn aus Istanbul auf einem Motorrad. Sie sind auf Reisen, wie toll ist das denn. Weit komme ich durch die antike Stätte aber nicht, dann ist die Straße gesperrt, ich muss umkehren. Das war ein kurzer Besuch. Die Stadt Nysa ist hässlich, wie fast alle Kleinstädte hier, es gibt kaum Hotels und überhaupt, ich will hier nicht bleiben.

Navi auf Aphrodisias das kann ich heute noch locker schaffen. Und so war es dann auch. Es wurde ländlich und leer, das letzte Stück war sogar sehr beschaulich. Am Straßenrand habe ich irgendein Café mit Wifi gefunden und mir gleich eine ganze Flasche kalte Limonade bestellt, wer braucht das Zeug denn becherweise bei der Hitze? Hotels gecheckt und los, aber da war nix... alles zu oder gibt’s nicht... Und dann stand da Süleyman. Mit Moped. Ich fragte ihn, ob er auch ein Hotel suche. Ja, und es sei irgendwie alles voll und zu teuer und überhaupt... Wir suchen also ab sofort zu zweit. Vorteil, Süleyman ist Türke und er kann telefonieren und das tat er dann ganz intensiv. Ich kürze mal ab, eine Stunde und einen heißen Tee später haben wir zwei nette Zimmer mit Pool und in absoluter Stille in irgendeinem Dorf bezogen. Mehr wollten wir auch gar nicht. Man muss nur im richtigen Moment die richtigen Menschen treffen. Gute Nacht.

24. Juni 2022 – Aphrodisias, die vielleicht schönste Stadt

Nach ruhiger Nacht, einem guten Frühstück und entgegen der Gewohnheit beginnt der heutige Tag mit dem Besuch des antiken Aphrodisias.

Alles liegt still, ich werde vom Wärter persönlich begrüßt und ich trete ein in eine wunderschöne, einst berühmte und lebhafte Stadt. Schon vor 5000 Jahren in hellenistischer Zeit wurde hier Marmor in der Nähe abgebaut und behauen von den Schülern einer Bildhauerschule. Daher u.a. die Bedeutung und der wirtschaftliche Erfolg Aphrodisias. Vor und nach dieser Blüte-Epoche hatte die Stadt viele verschiedene Namen und sehr viel später nach dem Sieg des Christentums wurde der Aphrodite-Kult abgeschafft und geächtet. Wie schade, denn es war die Huldigung der olympischen Gottheit der Liebe, des Meeres und damit des lebensspendenden Wassers. In jeder antiken Kultur gab es eine Entsprechung zu Aphrodite, die bekannteste bei den Römern ist keine geringere als Venus.

Die Wege sind kurz und ich lasse mich wie immer treiben ohne so ganz genau zu wissen, an welchem berühmten Ort oder in welchem Gebäude ich mich gerade befinde. Ich durchschreite das filigrane Propylon, passiere den Tempel der Aphrodite und dann kommt der lange Weg zum großen Stadium. Die Sonne brennt schon am Morgen, aber der Weg lohnt sich. Ich habe noch nie ein eindrucksvolleres antikes Stadium gesehen als dieses. Es ist unglaublich lang und im Seitenverhältnis sehr schmal und sofort fahren Streitwagen aus den Toren in die staubige Arena, gezogen von mehreren Pferden und gelenkt von muskulösen, furchtlosen Kämpfern. Das Volk jubelt, der Stadthalter grüßt die Kontrahenten. Auf den langen Geraden werden sie sich nun in rasender Fahrt unerbittlich messen, dem blutrünstigen Plebs zur Freude und den Herrschenden als Empfehlung ihrer Dienste. Panem et circenses! Cut!

Ich verlasse das Stadium wieder und laufe bis zum großen Markt- und Versammlungsplatz, der Agora genannt wird. Auch dieser Platz hatte enorme Ausmaße und war wohl das Zentrum des täglichen Lebens in Aphrodisias. Noch immer wird an der Restauration und dem Wiederaufbau dieser historischen Stätten gearbeitet, eine unmöglich erscheinende Aufgabe wenn man die Millionen Fragmente betrachtet, die wohlsortiert und nummeriert oder einfach nur so herumliegen und auf ihren Platz warten, den die Architekten der Stadt für sie vor Jahrtausenden vorgesehen hatten.

Den Abschluss bildet das kleine, aber wunderschöne Theater, in dem die Säulen der Bühnenkulisse noch komplett erhalten sind. Es reizt mich, in dieser tollen Akustik Godot zu zitieren, aber das ist eine neuzeitliche Geschichte und passt jetzt nicht so gut.

Nach zwei Stunden in der Hitze bin ich völlig platt, aber bewegt und äußerst beeindruckt. Für mich war es die schönste historische Stadt die ich bisher besucht habe.

Erfreulicherweise folgte nun eine wunderschöne Bergfahrt durch Wälder und winzige Dörfer. Ein kleines Nickerchen an einer überdachten Bushaltestelle während eines heftigen Regengusses und die Ankunft in meiner Unterkunft in Pamukkale. Ein richtig schöner Tag.

25. Juni 2022 – Hierapolis, die Heilige Stadt hinterm Freibad

Nun, Pamukkale in der Türkei ist etwa so bekannt wie der Eiffelturm in Frankreich und deshalb liegt das auch auf meiner Route, irgendetwas muss ja daran sein. Gestern ist nicht mehr viel passiert hier, ich war recht platt, heute werde ich mir die beliebte Attraktion mal ansehen.

Ich muss zugeben, ich bin nicht besonders gut informiert wie das hier funktioniert und so bin ich als erstes etwas überrascht, dass man den Weg über die Kalkfelsen nur barfuß zurücklegen darf und zweitens war mir nicht klar, dass die ganz hübsch in den Felsen angelegten großen Bassins als Bäder benutzt werden. Die Menschen schwimmen, liegen oder sitzen hier in allen Wasserlöchern und Rinnen und über die gesamte Fläche (und die ist echt groß) läuft Wasser den Hang hinunter. Es ist extrem hell durch die Sonnenreflexion, aber das ist auch das einzig Unangenehme. Ich betrachte das einfach als eine Art Freibad und wenn ich die Augen schließe, hört sich das so an wie früher im Sommer in unserem städtischen Freibad in Essen.

Ich brauche eine ganze Weile bis oben, dann darf ich meine Schuhe wieder anziehen. Durch die riesige Freibadkirmes mit Pommes, Eis und Souveniers muss ich noch durch, dann beginnt der Hauptfilm: Hierapolis. Der Name bedeutet Heilige Stadt und die Stätte ist nicht klein. Die exponierte Lage an den warmen Quellen und oberhalb der eindrucksvollen Kalkterrassen haben diese Stadt vornehmlich für ihre heilenden Bäder berühmt gemacht. Auch wenn sich die Einrichtungen wie Theater, Agora, Tempel diverser Helden und Götter in allen antiken Stätten wiederholen, ist doch jede anders. Hierapolis ist weitläufiger und nicht so beengt angelegt. Zudem ist die Aussicht ins phrygische Lykos-Tal wunderschön. Glücklicherweise sind die Menschen alle im überfüllten „Freibad“ und die Ruinen sind tatsächlich leer. Der Himmel spielt auch mit und spendet mit seinen Wolken häufig Schatten, für den ich sehr dankbar bin, denn die Wege sind weit. Ich möchte die „Außenbezirke“ sehen, das römische Theater, das Martyrion, die Agora, das Frontinustor und die Necropolen. Unterwegs habe ich Gelegenheit, einfach vom Rundweg abzuweichen und meine eigenen Wege zu finden. Trotz der Weite ist es sehr übersichtlich hier. So komme ich durch alte verfallene Straßen, die hinunterführen zum Hauptplatz, die großen Steine liegen etwas derangiert, aber immer noch an Ort und Stelle herum. Bunte Blumen überranken die Straßen liebevoll, als wollten sie diese Wege verstecken, damit sie von trampelnden Touris verschont bleiben. Ich bin einmal mehr begeistert von den Dimensionen und der Harmonie der Architektur und verweile noch lange an den stillen Plätzen im weiten Hierapolis. Wie schön, dass sich meine Befürchtungen nicht bewahrheitet haben und mir der Rummel in dieser tollen Stadtruine erspart blieb. Lasst Euch von den Bildern beeindrucken und verzaubern.

Über Pamukkale ist nichts zu erzählen, ein völlig kaputtes Kaff, das seit Jahrzehnten vom Touristengeschäft aufgefressen wurde, ein Müll-Shop neben dem anderen, in jedem Restaurant das gleiche Angebot.
"Yes, Sir!", "Hello, come in!", "Welcome, we offer handmade food – all fresh!". Ignorieren und nix wie weg… Morgen geht’s weiter!

26. Juni 2022 – Nach Dalyan

Heute geht’s an die Küste. Genauer gesagt in die große Lagune von Dalyan. Hier gibt es Felsengräber von Königen anzusehen, die zur kleinen antiken Stadt Kaunos gehören, und die vom Aussterben bedrohten unechten Karettschildkröten.

Um dorthin zu gelangen, sind ein paar Stunden Motorradfahrt nötig. Heute bei teilweiser Bewölkung mit herrlich kühlen Temperaturen unter 30°C. Bei Kızılağaç geht es in rasanten Serpentinen abwärts mit atemberaubender Aussicht auf die rechteckige Bucht von Akyaka. Die erste schöne Aussicht aufs Meer von ganz oben – endlich wieder Meer! Wenig später verlasse ich die Hauptstraße und erreiche kurz darauf mein Hotel in Dalyan. Direkt am Dalyan Boğazı (Kanal von Dalyan) gelegen, Dachterrasse und bunte Kissenplätze im Garten. Wenn schon, denn schon. Ein Zimmer ist auch frei, das ist toll, dann habe ich noch den Nachmittag für die Besichtigung von Kaunos. Dusche, umziehen, Ayran!

Wie komme ich denn nun auf die andere Seite des Kanals? Es gibt eine Fähre. Nun ja, das richtige Wort wäre Paddelboot gewesen. Zwei Frauen – an jedem Ufer eine - bringen die Fahrgäste tatsächlich mit hölzernen Ruderbooten auf die andere Seite. Schon komisch, da setzt man sich als Tourist fett bramsig in das Boot und die Frau rudert einen dann nach drüben. Für umgerechnet 1,80 Euro. Als alter Skuller halte ich mich respektvoll zurück, ihr zu sagen, dass sie sich ziemlich ineffizient anstellt – im Stehen oder vorwärts in Blickrichtung zu rudern. Ich kann da gar nicht hinsehen, wie die gute Dame sich abrackert. Ich wende mich einfach ab und bewundere die Felsengräber hoch oben in der Bergwand.

Noch eine halbe Stunde Fußweg folgen, dann bin ich an den Ruinen. Sie sind recht bescheiden, aber nicht minder schön. Alles sieht irgendwie frisch ausgegraben aus, an vielen Orten ist man noch bei der Arbeit. Mittlerweile muss ich die Schilder nicht mehr lesen, ich erkenne schon selbst die Agora oder die Badeanlagen. Ok, Theater ist zu einfach, aber bei den Tempeln wird’s wieder schwierig, da brauche ich einen Spickzettel. Ich verweile an vielen schattigen Plätzen, beobachte die Ziegen und Esel, die sich hier frei bewegen können und lasse wie immer alles einfach auf mich wirken. Es macht sich etwas Hunger bemerkbar.

Der Rückweg ist einsam und heiß und ich lege einen Halt bei einer alten Frau ein, die am Straßenrand selbsthergestellte Säfte verkauft. Apfelsine, Zitrone, Aprikose, Pfirsich und Granatapfel. Aus den eigenen Gärten gegenüber, erzählt sie mir stolz und gut gekühlt sind die Durstlöscher auch. Herrlich!

Und jetzt folgt das Abendprogramm: Ich habe in einem Restaurant Platz genommen, in dem es Pizza gibt, einfach nur Pizza. Ganz einfallslose, simple Pizza! Mal keine Gurken, keine Oliven, keinen Schafskäse und keine Tomaten. Obwohl diese wertvollen Zutaten zu Hause durchaus zu meiner Grundausstattung an Lebensmitteln gehören, habe ich einfach keine Lust mehr darauf. Seit ich vor fast sechs Wochen die Grenze nach Kroatien überschritten habe vergeht kaum ein Tag ohne Tomaten, Gurken, Oliven und Schafskäse – meist schon zum Frühstück. Zur Pizza bestelle einen „Evin beyaz şarabı“ (Weißer des Hauses). Gegenüber das Restaurant ist leer, aber dort läuft die bessere Musik. 70er Chicago, 80er Foreigner, Neil Young und Bob Dylan. Die Musik ist laut genug und schallt herüber, ich habe das Optimum getroffen, Pizza und gute Musik! Obwohl mir die Belegschaft von gegenüber leid tut, dass sie zusehen müssen, wie andere das Geschäft machen. Mein Wein ist billig, warum habe ich bloß eine ganze Karaffe bestellt? Aber er ist schön kühl. Pizza! Einfach nur Pizza! Meine Gedanken können sich nicht lösen. Endlich ist es soweit. Da ist sie! Es ist eine richtige Pizza. So groß wie eine Single und alles unter Käse begraben, aber ich habe mich noch nie mehr über eine Pizza gefreut als gerade über diese. Wunderbar! Ein Erfahrung, dass selbst so mittelmäßige Dinge einen manchmal so glücklich machen können. Am Nebentisch ist eine Großfamilie eingefallen mit völlig übermüdeten Blagen, die den ganzen Laden zusammenbrüllen. Ich kann die Musik nicht mehr hören. Ich esse, ich bezahle, ich gehe. Gute Nacht.

27. Juni 2022 – Strandtag und zweifelhafter Naturschutz

Strandtag! Schildkrötenstrand! Allerdings mache ich mir keine Hoffnung, welche zu Gesicht zu bekommen, auch wenn hier ein traditioneller Eiablageort der Tiere ist, welcher es erfolgreich verhindert hat, dass die Massentourismusindustrie mit ihren Wohnbatterien diesen wunderbaren Strand zerstört. Dennoch, auch ohne diese Bettenbunker, gibt es sehr viel Tourismus hier, aber eher klein klein. Alles ist privat betrieben, kleine Anlagen und Pensionen am Flussufer und in den Schilfwiesen. Ob das so sehr viel besser ist, weiß ich nicht, aber jedenfalls scheinen die Menschen von Dalyan das Geld selbst zu verdienen und der Meeresstrand bleibt unbebaut.

Eine Bootsfahrt später durch das hohe Schilf erreichen wir die Strandkirmes. Ich dachte, das sei ein Schildkrötenschutzgebiet. Die Holzliegen und Sonnenschirme sind ordentlich aufgebaut, Getränkebude und Umkleidekabinen gibt’s auch. Ein ganz normaler voller Strand. Aber wo sind die Schildkrötengelege, immerhin ist gerade Eiablagesaison. Und dann sehe ich das extrem durchdachte Konzept des Naturschutzes. Kleine Drahtpyramiden von einem Viertel Quadratmeter sind aufgestellt, um die Gelege der Reptilien zu schützen. Rundherum das tobende Volk. Unfassbar. Deutlicher kann man Prioritäten nicht dokumentieren. Ich laufe sehr weit den Strand entlang, bis die kleine Brandung die Geräusche der Menschen verschluckt. Hier mache ich es mir gemütlich. Ausziehen und hinein ins erfrischende Meer. Tut das gut! In der Sonne auf dem Handtuch trocknen und die vielen flinken Krebse beobachten. Einfach nichts tun, nichts denken, nichts sagen, nur aufs Wasser starren und hier sein.

So vergeht die Zeit, einmal noch kurz durch den Badeterror und mit dem nächsten Wassertaxi zurück nach Dalyan. Trotz allem ein sehr entspannter Nachmittag, der sich gerne in den Abend fortsetzen darf. Und so passiert auch nicht mehr viel heute, ich hoffe, ich schlafe diese Nacht etwas besser in der Hitze, morgen geht’s weiter. Nacht.

28. Juni 2022 –Demre das No-Go und Myra wird geopfert

Es geht weiter entlang der Küstenstraße. Die Aussicht von der Schnellstraße über das intensiv blaue Meer ist herrlich und veranlasst mich zum tiefen Durchatmen. Meine jugendliche Prägung als mitteleuropäischer Inlandbewohner assoziiert Anwesenheit am Meer immer mit den großen Schulferien, Familien- oder Trampurlaub, Sommer und Weit-weg-von-zu-Hause-sein. Ein sehr glückstiftendes Gefühl, das auch nie mehr verloren gehen wird. Hier jedenfalls, an der Küste, an der sich die Ägäis und das Mittelmeer treffen, liegt mein heutiges Ziel. Demre und die Felsengräber von Myra. Die Zeit passt, es ist ungefähr 14:00 Uhr und ich suche mir jetzt ein Hotel und dann werde ich die Felsengräber von Myra besichtigen. Und genau hier beginnt die Herausforderung. Demre ist ein grausames Küstenkaff. Schon von oben von der Schnellstraße habe ich eine weiße Zeltstadt wahrgenommen. Hunderte von riesigen Gewächshauszelten mit weißen Kunststoffplanen, bestimmen die Stadtfläche. Dementsprechend ist die Suche des Hotels eine Gurkerei durch ein Industriegebiet bestehend aus weißen Zelthallen. Überall nur Last- und Lieferwagen, die mit Gemüse und Obst beladen werden. Ein Großteil wird mit Sicherheit auch unsere Supermärkte in Deutschland versorgen. Das gesuchte Hotel steht mittendrin, nicht einmal einen Gedanken verschwende ich an einen Check-in. An der Promenade gibt’s noch ein paar gut gemeinte Lodges, aber auch hier: No way!

Umdisponieren! Weiterfahrt bis zum nächst schönen Ort und dort zwei Tage bleiben. Kilometermäßig kein Problem, nur die Ruinen von Myra fallen dann aus, sonst wird es zu spät. Meine Freundin B. aus Berlin war vor kurzem in Çiralı, einem noch nicht ganz verdorbenem Stranddorf. Diese Empfehlung nehme ich gerne an. Die Lage ist sehr schön, sieben Kilometer Stichstraße ans Meer und gelegen gleich neben der kleinen antiken Ruinenstadt Olympos. Ok, es ist Tourirummel, aber er hält sich in Grenzen. So finde ich auch eine bodenständige Lodge am ruhigen Ende von Çiralı. Sehr nette Menschen empfangen mich dort und die Hütte erfüllt alle Bedürfnisse, die ich habe: Bett, Dusche, Balkon und Ruhe. Zwei Tage buchen, denn ich muss ja noch den Termin für meinen Reifenwechsel bedenken, das ist noch eine große Unbekannte.

Der restliche Tag füllt sich angenehm mit Eis am Stiel und einem leckeren Abendbrot, ja, natürlich auch mit Tomaten, Gurken und Oliven. Dann die gute Nachricht, meine Reifen sind in Konya bei Ahmet dem Reifenhändler angekommen. Läuft!

Der Mittwoch war recht unspektakulär, weshalb ich auch keine eigene Geschichte schreiben mag. Ich habe ein touristisches Intermezzo eingelegt. Das heißt, lange geschlafen, lange gefrühstückt, gelesen und geschrieben, einen Strandspaziergang gemacht und die kleinen Ruinen von Olympos angeschaut.

Auch heute ein Eis am Stiel, Dusche und Abendessen in meiner kleinen Lodge. Ich war eingeladen von den Gastgebern, was mich wirklich gefreut hat. Es gab hausgemachten Bohneneintopf, Joghurt und Brot. Ein Festmahl! Und diesmal ohne Tomaten und Gurken!

30. Juni 2022 – Auf in die Berge und das Haus im Weingarten

Heute am letzten Junitag heißt das Ziel Ibradi in den Bergen. Die Strecke dorthin soll sehr schön sein und die potentielle Unterkunft hat mich begeistert. Auf dem Weg lege ich einen Halt in Aspendos ein, hier steht in der alten Ruinenstadt noch ein sehr eindrucksvolles Theater, das möchte ich mir gerne ansehen. Es ist wieder eine Affenhitze, bis an die 40°C auf der Straße und die Passagen der größeren Orte sind keine Freude. Aber es soll noch einen zweiten Teil geben heute und der beginnt unmittelbar nach dem „Theaterbesuch“ in Aspendos.

Kurze Verwirrung, da meine alte Karte im Navi nicht alle Straßen kennt. Der vorgeschlagene Weg kann nicht sein, er endet im Niemandsland. Grober Schotter mit tennisballgroßen Steinen, ausgewaschene Furchen und lockere Erde. Umkehren und ich muss nach dem Weg fragen. Ein türkischer Rollerfahrer versteht tatsächlich den Ortsnamen, nach dem ich ihn frage und hilfsbereit wie die Menschen hier sind, fährt er kurz voraus. Au Weia! Ich war doch auf dem richtigen Weg! Aber was für eine Strecke? Lange nicht mehr richtig Offroad gefahren, merke ich gerade. Ich komme mit meinem Bienchen so gerade hinterher, 400 kg in diesem Gelände zu bewegen, das ist nicht ganz ohne. Gott sei Dank ist es nur ein knapper Kilometer und trotz einiger Rutscher und Lenkeranschläge, bei denen ich förmlich spüre, wie mein Adrenalin freigesetzt wird, erreichen wir den richtigen Abzweig nach Ibradi. Zwischen den Imagefilm meines Motorradherstellers und der kleinen, simplen Realität liegen halt doch immer noch Welten. Ich bin stolz, diesen miesen Kilometer geschafft zu haben – auch wenn ein Rollerfahrer mich fast abgehängt hat. Ich bedanke mich ganz herzlich und biege auf die geplante Bergstraße ein, umgefallen am Straßenrand liegt ein kleines Richtungsschild zu meinem Zielort, ich bin richtig!

Die nächsten 45 Kilometer sind wunderschön, die Straße steigt in Serpentinen stetig an und der Himmel mit seinen schneeweißen Cumuluswolken sieht dramatisch aus. Im ersten Drittel sieht man noch die verheerenden Folgen der Waldbrände aus dem letzten Jahr. Hier steht fast kein Baum mehr. Wie komplett abgebrannte Zahnstocher stehen hunderttausende von verkohlten Baumstämmen in der Berglandschaft. Auch wenn schon wieder viel neues Grün sprießt, es wird ewig dauern, bis die Pinienwälder wieder stehen – wenn überhaupt.

Immer weiter schlängelt sich die schlechte Straße durch die Berge, ich muss mich sehr konzentrieren, der lediglich aufgespritzte Asphalt ist weich und der Rollsplit ist unberechenbar. Unbefestigte Schotterpassagen und Schlaglöcher groß wie Waschbecken kommen dazu. Also, langsam fahren, dann kann ich auch noch die vielen schönen Wegeindrücke mitnehmen. Ich hab ja Zeit! Zum Ende der Fahrt wird es besser und gegen 17:00 Uhr erreiche ich den Ort Ormana, der zu Ibradi gehört. Er ist ein sehr beschauliches Bergdorf, die Männer sitzen auf der Straße und in den Cafés, spielen Domino oder Backgammon, trinken Tee und schauen sich den Außerirdischen an auf seinem gelben Motorrad. Das schummrig schöne Hotel liegt mitten im Ort, die Zimmer scheinen aber ausgebucht zu sein, nicht gut! Doch so schnell gibt man nicht auf. Viel Bewegung entsteht, mehrere Menschen telefonieren, diskutieren, verschwinden und kommen mit heißem Tee zurück, den solle ich erst einmal in Ruhe trinken. Wieder erlebe ich diese tolle Hilfsbereitschaft, es ist wunderbar. Dann, wie aus dem Nichts, steht da ein freundlich lächelnder und sichtbar entscheidungsbefugter Mann vor mir. Er stellt sich vor, er sei der Manager und leider sei das Hotel wirklich ausgebucht. Aber! Er habe da noch ein Zimmer etwas entfernt von hier, ein besonderer Ort, ich werde es mögen. Es ist der Weingarten. Er führe mit mir jetzt kurz dahin, damit ich sehe, ob es mir gefällt. Bienchen steht vor dem Hotel, der Zündschlüssel steckt, der Manager winkt ab: Alles sicher hier!

Über winzige Wirtschaftswege erreichen wir zwischen großen eingemauerten Obst- und Gemüsegärten ein Holztor. Der Manager öffnet es und in dem Weingarten steht tatsächlich ein wunderschönes Steinhaus in traditioneller Bauweise mit großer Holzterrasse, ein Brunnen im Hof und alles passt zusammen... Ein sehr besonderer Ort, ich bin überwältigt. Der Preis ist beschämend gering, ich bekomme sogar noch einen Rabatt, weil es weiter weg ist und kein Wifi hat. Das nehme ich sehr dankbar an. Zurück zum Hotel, kurzer Check-in, Motorrad holen, zurück zum Haus, Klamotten rauf und dann mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse das Ganze einfach mal nur auf mich wirken lassen. Es ist alles wie ein temporäres zu Hause, ich bin völlig alleine hier draußen und fühle mich sowas von wohl.

Nach der dringend notwendigen Duschparty und einer ebenso fälligen Rasur laufe ich die zehn Minuten zum Hotel, denn ich habe richtig Hunger. Ich treffe drei Mopedfahrer, die gerade in die Gegenrichtung unterwegs sind und auch hier Quartier machen. Wir essen zusammen und haben uns bis spät nachts verquatscht. Einige hilfreiche Tipps werden ausgetauscht wie Strecken- und Hotelempfehlungen und dann tauchen wir ein in wunderbare Reiseerzählungen bis uns die Augen fast zufallen. Mein nächtlicher Spaziergang mit Stirnlampe zurück ist kurz, ein großer Straßenhund begleitet mich fürsorglich bis zum Weingarten. Die Sterne und die beeindruckende Stille hier draußen geleiten mich in eine kühle, erholsame Nacht in den Bergen.

1.-4. Juli 2022 – Weingarten, Reifenwechsel und keine Lust auf Kappadokien

Der zweite Tag in Ormana, in meinem kleinen Weingarten war ein Faulenztag. Einfach ausschlafen, Sachen sortieren, Fotos aufarbeiten, Filme schneiden und Kaffee trinken. Internetverbindung hatte ich nicht, das war komisch, aber tat sehr gut. Abends ein Spaziergang zum Dinner, Tolga, der Hotelbesitzer, hat Ziegenfleisch von den Nomaden gekauft und traditionell zubereitet. Veggie hin oder her, es war unglaublich gut, was der Koch da zubereitet hat. Eine zweite stille Nacht schloss sich an.

Am Samstag mit üppigem Frühstück gestartet. Das war auch gut so, denn der Tag sollte lang werden. Über gut ausgebaute Straßen fahre ich in die Stadt Konya, wo schon meine neuen Reifen warten. Die Navigation klappt perfekt, aber kann das sein? Ich stehe vor einer kleinen Werkstatt in einem Außenbezirk, vor der Türe Fahrräder, Mofas und Roller. Das Logo über der Tür stimmt, ein netter junger Mann lächelt mich an, er hat auf mich gewartet und als ich in die Werkstatt eintrete stehen da meine beiden bestellten Reifen. Ich bin richtig. Erst einmal Begrüßung, ein heißer Tee wird gebracht und dann redet man über dieses und jenes. Reden heißt in diesem Falle Translation-App. Doch bei aller Freude, dass die richtigen Reifen da sind und meine weitere Reise gesichert ist, stelle ich mir ohne Unterlass die Frage, wie die ganzen Jungs hier die Dinger auf meine Felgen bekommen wollen. Ahmets Bruder kommt gleich zu Hilfe er kann das und überhaupt. Ok, Vertrauen in Fachleute ist wichtig. Und ehe ich mich versehe ist der Bruder da und die Montage beginnt. Rad raus, Luft raus, aus! Die Felge wird noch ein bisschen gequält und die Erkenntnis wächst: Hier wird eine Maschine benötigt! Nun, man kann einen Reifen dieser Größenordnung manuell wechseln, aber das ist ein echter Knochenjob und das sollte man auch geübt haben. Ich mache es kurz. Rad ins Auto und die Reifenwerkstätten in Konya abfahren, wer Lust hat zu helfen... und das hatte nicht jeder. Am Ende fuhren wir für jedes Rad zweimal 10 km – hin und zurück – alles wieder zusammenbauen. Drehmomentschlüssel ist Luxus, kurze Testfahrt, Bremsen und ABS gehen auch wieder, Reifendruckkontrolle zeigt leider nur noch Unsinn an. Hauptsache wieder Profil auf den Gummis. Prima, dann kann es ja weitergehen... Abschiedsfoto und nach drei Stunden geht’s los.

Da der Tag noch jung ist, habe ich die Zielfahne im Navi auf Mustafapaşa in Kappadokien gesteckt. Mal sehen, ob ich es schaffe. Die Straßen waren gut und leer und tatsächlich erreiche ich nach einer abenteuerlich steilen Baustellenumleitung das von den Jungs in der letzten Unterkunft in Ormana empfohlene Hotel. Leider ausgebucht. Es war schon Sonnenuntergang und so ließ ich mir von den netten Damen des Hotels eine Empfehlung geben. Zufällig war diese gleich nebenan. Nun ja, schön ist das Zimmer schon, mit großem Balkon und Whirlpool und Kelims und Höhlenstyle und ich bin platt und ich freue mich eigentlich nur, eine unkomplizierte Unterkunft gefunden zu haben. Es folgt das Dusch- und Kostümwechselprogramm, dann suche ich mir das nächst beste Restaurant. Der Wirt spricht Französisch, das ist jetzt sehr komisch. Es gibt kappadokischen Auflauf in einer Steinschale. Bierchen, Licht aus, schlafen.

Der nächste Morgen beginnt mit Bus-Chaos vor der Tür. In diesem Dorf? Wieso das? Also aufstehen und Frühstück im kalten Höhlenrestaurant. GOST, da sind sie wieder: Gurken, Oliven, Schafskäse, Tomaten. Und irgendwie kommt die Begeisterung nicht in Schwung. Ziemlich unmotiviert mache ich mich auf den Weg in den Göreme Nationalpark, ins Rose Valley. Ja, es ist unglaublich schön hier herumzuwandern, die Formen, Farben und Dimensionen sind beeindruckend. Ich verbringe ein paar Stunden mit Fotografieren und Gucken, dann hat die Hitze mich geschafft. Eine Dusche im Hotel schafft Abkühlung und ein Blick auf die örtliche Umgebungskarte zeigt mir, dass eine gewisse Planung nötig ist, um die schönen Dinge Kappadokiens richtig zu erleben. Nun, das eigentliche Ziel meiner Reise liegt ja noch 1300 Kilometer in der Ferne, aber wenn es schöne Dinge am Wegesrand gibt, wieso ignorieren? Doch Kappadokien ist eine Nummer zu groß. Es ist ein riesiges Gebiet mit hunderten von kleinen und großen Sehenswürdigkeiten, da braucht man Wochen für.

So mache ich mich gegen Abend ein zweites Mal auf und fahre ins sogenannte Love Valley. Ein besserer Name ist den Menschen nicht eingefallen dafür, nur weil hier ein paar Dutzend riesige Tuffsteinphalli rumstehen. Geologisch allerdings ein wunderbarer Anblick und wehrt man sich nicht gegen die unvermeidbare Assoziation, so erkennt man eine saubere Schichtgrenze, die die anatomischen Teile exakt unterscheidet. Durch die mineralische Zusammensetzung sind sie auch farblich präzise wie das Vorbild abgegrenzt. Einzig die Erosion und Freilegung der fehlenden Testis dürfte noch ein paar hunderttausend Jahre dauern, sofern die Deckschicht diese Strukturen vorhält. Aber Spaß beiseite, es ist wirklich ein sagenhafter und kurioser Anblick dessen, was der Vulkan Erciyes Dagi und die Zeit hier geformt haben. Ich könnte mir das stundenlang angucken. Es stört allerdings, was der Mensch daraus gemacht hat. Ein wenig einfallsreicher Mega-Rummel für einfallslose Heiratswütige, die in vorzugsweise roten Cabriolets mit Schleifchen von coolen Chauffeuren hupend durch den Staub gekarrt werden, bis zu den begehrten Shooting Spots, wo die voll kostümierten Brautpaare dann Schlange stehen, um vor einer versteinerten Peniséquipe küssend abgelichtet zu werden. Was für ein Start in den neuen Lebensabschnitt. Alles Gute!

Nach dem Erlebnis habe ich mir zu Hause im Dorf ein Lahmacun mit „doppelt scharf“ bestellt, ich brauchte eine wirksame Ablenkung! Gute Nacht.

Nein, ich habe in der Nacht nichts Schlimmes oder Obszönes geträumt, sondern gut geschlafen. Dennoch ist meine Motivation, weitere Highlights zu besuchen in der Nähe des Nullpunkts, Ballons steigen auch nicht auf, es ist viel zu windig. So habe ich mich entschieden, endlich ein paar notwendige Planungen für Georgien und Armenien vorzunehmen. So lang ist es nämlich nicht mehr bis dahin. Möge man den Kopf schütteln oder sonst etwas, dass ich hier auf dem Balkon sitze und Routen rausschreibe, anstatt mir Höhlen und Landschaft anzusehen. Am Ende bin ich sehr froh und zufrieden, den Job endlich gemacht zu haben und belohne mich mit einem leckeren Abendbrot bei meinem französischen Wirt. Und jetzt ins Bett, morgen geht es wieder in die Hitze Richtung Kurdistan. Ich werde berichten.

5. Juli 2022 – Anatolische Landschaftssymphonie, Allegro espressivo

Frühes Frühstück, Navi Richtung Osten und Kappadokien liegt schnell hinter mir. Die Schnellstraße umrundet den Erciyes Dağı halb und allmählich wird der imposante Vulkan im Rückspiegel immer kleiner, bis ich bei Pinarbasi Richtung Süden abbiege. Dann ist er endgültig verschwunden. Die Landschaft wird immer karstiger, Bäume gibt es so gut wie keine mehr. Mich beeindrucken diese monochromen Flächen, die von Rostrot, Gelb oder mattem Grün dominiert werden. Der Himmel ist blau ohne eine einzige Wolke. Ich habe das Gefühl, hier endet die Zivilisation und dann kommt nur noch diese Landschaft. So geht das stundenlang und ich spreche schon mit mir selbst, weil ich mein Staunen mitteilen muss. Die Temperatur ist auch angenehm auf dieser Höhe, was ich sehr genieße. Eine geplante Abkürzung über den Killi Tepe streiche ich, nachdem ich in die grobe Schotterpiste eingebogen bin. Achtzig Kilometer auf der Piste ist mir zu anstrengend und würde mindestens drei Stunden kosten. Guckt eh keiner zu und bewundert oder bedauert mich.

Ich komme sehr zügig voran, ein Tee am Pass, ein Foto hier oder da. Es läuft. So entscheide ich mich, heute durchzufahren bis Nemrut Dağı. Jetzt übernachten wäre verschwendete Zeit. Die kann ich besser in Georgien gebrauchen zum Wandern. Nach dieser sehr beeindruckenden Landschaftssymphonie jetzt der letzte Satz. Eine kleine Bergstraße nach Nemrut Dağı. Einsam und steil führt sie mich durch die Berge immer weiter nach oben. Ich möchte so nah wie möglich an den Nationalpark heran. Hier oben soll es Unterkünfte geben. Und tatsächlich, im Ort Karadut steht ein Schild „Pension“. Anhalten, fragen. Der junge Mann ruft seinen Onkel an, ja das geht und zufällig kommt dieser gerade auch mit dem Auto vorbei und ich möge doch schon einmal vorfahren. Mach ich! Netter Laden, basic, Dusche, Abendessen, Bett. Der nette Herr des Hauses lädt mich noch ein, morgen früh um 3:40 h mit ihm zum Sonnenaufgang auf den Berg zu fahren. Mach ich auch – au weia, jetzt muss der Langschläfer Opfer bringen.

Kurzum, es hat heute fast alles geklappt und insgesamt sind es 683 km gewesen, die ich nie gedacht hätte, so kurzweilig und so schön hinter mich zu bringen. Ab ins Bett, die Nacht wird kurz!

6. Juli 2022 – Sonnenaufgang mit den Göttern und 40°C Buntes

Und der Wecker klingelt tatsächlich um 3:25 h, der Schweinehund wehrt sich, aber den habe ich ja gestern Abend schon mit Unternehmungsgeist gefesselt. Aufstehen, anziehen, Fotorucksack auf und raus. Es ist herrlich lau und im Hotel ist schon Bewegung, andere Gäste fahren auch rauf. Es ist unterwegs auf den 12 km bis nach oben stockduster, sehen kann ich nichts außer Sterne und die Autoscheinwerfer, wie sie die kleine Bergstraße ausleuchten. Oben ein Ticket kaufen – die haben um 4:00 h echt schon geöffnet für die Sonnenanbeter – und das jeden Morgen! Respekt, das ist Kundenorientierung. Wir warten als erste vor dem geschlossenen Tor, um Punkt 4:00 h wird aufgeschlossen. Der letzte befahrbare Kilometer geht noch einmal richtig steil rauf, dann kommt man nur noch zu Fuß weiter. Auf geht’s. Einhundertfünfzig Höhenmeter bis auf 2150 m und das morgens um vier. Mein Gastgeber kennt alle Leute hier und weiß, wie das Spiel läuft, deshalb bin ich als erster auf dem Weg. Der Wind bläst ordentlich, aber zu kalt ist es nicht. Eine viel größere Rolle spielt meine glänzende Kondition. Sie fehlt! Das sportliche Atmen hört sich eher unsportlich an, sagen wir mal, es erinnert stark an akuten Keuchhusten. Und meine Beine wären sowieso lieber im Bett geblieben. Auf halber Strecke holt mich ein älterer, grauhaariger Gipfelwärter ein und zieht leichtfüßig vorbei. Dann verschwindet er vor mir in der Dunkelheit. Nun ja, die Menschen hier sehen alle älter aus, der war höchsten erst sechsundzwanzig, kein Wunder, in dem Alter! Der Schlussspurt ist richtig hart, riesige Natursteinstufen, dann bin ich endlich oben. Ok, deutlich abgeschlagener Zweiter, aber immerhin Silber!

Mit der Zeit tröpfeln noch etwa zwanzig andere Frühaufsteher ein, mit Daunenjacken oder Pullovern bekleidet oder einfach in Decken gehüllt. Jeder sucht sich den optimalen Platz, Handys sind gezückt, Testpositionen für die Selfies werden geprobt, damit im punctum temporis nichts schief geht. Noch völlig unbeachtet und farblos stehen die Götterköpfe im Dunkel der Dämmerung, jetzt hat der Sonnenaufgang Priorität. Das Orange am Osthimmel wird heller, das glänzende Wasser des Euphrat ist in der Ferne zu sehen, die Berge am Horizont sind fast schwarz. Dann ist es soweit, fünf Uhr acht, da erscheint der erste Sonnenstrahl über den fernen Berggraten. Der Neigungswinkel ist in diesen Breiten und zu dieser Jahreszeit fast an seinem Minimum, so dass die Sonne sehr schnell steigt und mit ihrem ganzen Umfang den Tag einleuchtet. Die Menschen schweigen plötzlich und eine mystische Stille würdigt den Ort, die Götter und das Ereignis. Wie wunderbar.

Die anschließende Selfie-Party ignoriere ich und wende mich nun den Göttern zu. Nein, ich habe weder rituelle Opfer dargebracht, noch huldigende Gesänge angestimmt, sondern mit Begeisterung zugesehen, wie die Jahrtausende alten Steinfiguren zum Leben erweckt werden. Langsam legen sie ihr fahles Antlitz ab und tauchen in das warme orange Licht der aufgehenden Sonne. Da alles sehr schnell geht, ändern sich Schatten und Helligkeit ihrer Gesichter laufend, was ihnen Leben einhaucht. Ich bin beeindruckt von den souveränen und respekteinflößenden Gesichtsausdrücken. Allein schon von den Bildern, die ich in Büchern gesehen hatte, war ich von Anfang an fasziniert und ich habe Nemrut Dağı seither auf meiner Reiseliste. Aber jetzt und hier mitten im Taurusgebirge ihnen Auge in Auge gegenüberzustehen, ist ein unglaublich bewegendes Gefühl.

Der geschichtliche Hintergrund dieses Ortes ist komplex und einzigartig. Es ist ein aufgeschüttetes Königsgrab und heilige Stätte zugleich und Zeuge der späthellenistischen Kultur kurz vor dem Jahre null unserer Zeitrechnung. Lest nach, es ist sehr interessant!

Als Letzter verlasse ich das sogenannte Hierothesion und nehme den Weg über die West-Terrasse, die allerdings noch im Schatten liegt und unscheinbar wirkt. Hier trifft sich dann heute Abend die Sonnenuntergangsfraktion.

Zurück in der Pension gibt’s nach einem Defizit-Nickerchen ein leckeres Frühstück und ich entscheide mich spontan, heute noch hier zu bleiben. Zu sehr gefällt mir die Bergwelt und das schöne Wetter und außerdem habe ich noch einige organisatorische Rückstände, die ich in Ruhe aufholen kann. Als erstes: Ich muss waschen! Danach muss ich die Tour zum nächsten Ziel basteln und jede Menge Fotos bearbeiten.

Und genau mit diesen Tätigkeiten füllt sich der sehr heiße Tag. Und um Euch die Hitze und Trockenheit zu verdeutlichen, meine schlecht geschleuderte, nasse Wäsche war in der Sonne in 25 Minuten trocken!

So, jetzt bin ich fertig und gut vorbereitet für den morgigen Tag. Für das Dinner wähle ich den kleinen Pavillon mit Aussicht. Es gibt Bohnen, Salat mit Granatapfeldressing und Cacık, das ist türkischer Joghurt mit Gurke. Sehr erfrischend. Alles sehr einfach und äußerst schmackhaft. Sitzen bleiben kann ich nicht lang, ich muss flüchten vor den Mücken. Gute Nacht zusammen.

7. Juli 2022 – Tee auf dem Euphrat

Der Tag beginnt gut, aber später als geplant. Ich habe nicht so gut geschlafen und bin noch recht müde, als ich zum Frühstück gehe. Vater und Sohn des Hotels sitzen bereits beim Mittagessen, so sieht es jedenfalls aus. Aber weit gefehlt, heute gibt es eine Gemüsepfanne zum Frühstück. Sehr deftig und es wird mit Fladenbrot direkt aus der Pfanne gegessen. Harter Start! Es ist genau zehn Uhr als ich mich verabschiede und Richtung Nordosten aufbreche. Das erste Stück ist Schnellstraße, dann geht’s über die große Euphratbrücke und anschließend immer tiefer ins nördliche Kurdistan. Das Tagesziel steht noch nicht fest, mal sehen wie weit ich komme.

Die Landschaft ist jetzt schon sehr schön und das sind noch nicht einmal auf meiner Karte ausgewiesene schöne Strecken. Nach zwei chaotischen Stadtdurchfahrten in Siverek und Elâzığ erreiche ich die Euphratfähre in Fatmalı. Hier wird die Verständigung richtig schwer, denn man spricht weder Englisch noch sonst irgendetwas. Auch zwei jüngere Türken, die im Allgemeinen ganz ordentlich Englisch sprechen, können nicht weiterhelfen. Da taucht wie aus den Nichts eine Gruppe Kurden auf, die eher in die Wahrnehmungsgruppe „Was-guckst-du-Alder?“ passen und einer mich auch tatsächlich auf Deutsch anspricht: „Deutscher? Hast du Probleme?“. Und durch mein generell sehr freundliches Auftreten, entsteht eine Situation, die genau das Gegenteil ist von dem, was jetzt eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Der Mann gibt sich weltmännisch und sonnt sich in seiner Sprachkompetenz vor den Anwesenden. Ich bekomme schnell alle Informationen, die ich brauche, mir wird Geld zum fairen Kurs getauscht, weil ich nämlich keine Lira mehr habe, Tee, Vorstellung aller Reisenden mit Name und Handschlag und dann die üblichen Fragen: Woher? Wohin? Magst Du die Türkei?

Die Fragen werden alle wahrheitsgemäß beantwortet und bis zur letzten Minute erörtert, dann im Eiltempo auf die Fähre. So ist die Wartezeit sehr kurzweilig, sie ist ohnehin nur 15 Minuten gewesen, ich bin also genau zur richtigen Zeit hier eingetroffen. Volltreffer! Das Ent- und Beladen der Fähre geht sehr pragmatisch, sie schrabbelt auf den Anleger und dann alle auf einmal runter. Das funktioniert natürlich nicht, aber man könnte daraus in England eine tolle Echtzeitwette machen.

Und so fahren ein Kurde ehemals aus Solingen, sein alter Vater, ein Musiklehrer aus Elâzığ und ich über den Euphrat. Ein flinker, witziger Syrer bringt uns viele Becher Tee auf einem Tablett. Der alte Vater nimmt mich am Arm und lächelt: “Trink Tee mit uns!”. Ich verstehe weder Kurdisch noch Türkisch, aber ich bin mir sicher, dass er genau das gesagt hat! Dann trinken wir den heißen süßen Tee und die Fähre bringt uns über den stillen Euphrat.

Als ich beim Verlassen des Schiffs die Überfahrt bezahlen möchte, winkt der Fährmann ab, legt seine rechte Hand aufs Herz und weist mir mit der linken lächelnd den Weg von Bord. Was ist das für ein geiles Land, was sind das für freundliche Menschen!

Und dann bin ich lange mit dem Euphrat alleine in einer fantastischen Bergwelt! Blaues Wasser, grünes Wasser, breite Flussbetten, grüne und gelbe sanfte Berge, in der Ferne ein paar hoch aufragende knapp Dreitausender. Mein Sprit geht zur Neige und weit und breit kein Dorf. Ich vertraue auf die Reichweitenprognose meines Motorades, wird schon gehen. Und geht auch, ich erreiche Kemaliye, ein außergewöhnliches Dorf mit Holzhäusern und richtig rausgeputzt. Das erst beste Hotel ist meins und dann steht plötzlich Paul hinter mir, ein slowakischer Endurofahrer auf fast der gleichen Route wie ich. Daraus jetzt den Schluss zu ziehen, dass es ein langer Abend wird, ist goldrichtig. Beim Abendessen geht es um Routenempfehlungen und dann um Gott und die Welt, wie das so ist bei frischen Bekanntschaften.

Nebenan tobt noch eine Hochzeitsgesellschaft mit ohrenbetäubend lauter Musik. Gegen Mitternacht ist auch dieser Spuk vorbei und ab ins Bett, es ist kühl draußen und ich hoffe auf eine erholsame Nacht.

8. Juli 2022 – Canyons und im Nebel nach Sümela

Nach einer erholsamen Nacht steht heute mein letztes Ziel in der Türkei auf dem Plan. Das Kloster Sümela im Zigana Gebirge. Ich werde die Südroute nehmen, die von Yeniyol 70 Kilometer meist über unbefestigte Straßen nach Sümela führt. Vom angekündigten Regen werde ich weitgehend verschont, dann beginnt eine wunderbare, einsame Fahrt durch die Bergwelt. Zunächst ist die Straße noch asphaltiert mit den üblichen Schlaglöchern, dann wird sie ausgesetzter und windet sich immer höher ins Gebirge. Mein Navi konnte ich nur sehr rudimentär programmieren, da es diese Straße gar nicht kennt. Also fahre ich eher nach dem Kompass und frage jeden Menschen, den ich treffe, nach dem Weg. Es sind aber nicht viele hier oben und so ist es manchmal ein Pokerspiel, wenn sich Wege kreuzen. Längst ist der Untergrund übergegangen in breite ausgewaschene und furchige Naturwege. Tiefe Löcher und große Steine muss ich sorgfältig umfahren, müsste ich mein Motorrad nach einem Umfaller aufheben, wäre das bei 300 kg kein Vergnügen. Doch ein ganz anderes Problem stellt sich plötzlich. In Minutenschnelle ziehen Wolken auf die Hochebene, die Sicht schrumpft auf unter zehn Meter und es nieselt. Der Untergrund droht nun glitschig zu werden und die weite Voraussicht, in welche grobe Richtung die Wege führen ist nun verschwunden. Luftlinie sind es nur noch runde zehn Kilometer bis Sümela, aber das hilft nicht. Kurz darauf stehe ich vor einer Hütte, vor der eine alte Frau kauert. Ich grüße freundlich und frage nur: „Sümela?“ Sie winkt heftig in die entgegengesetzte Richtung, brabbelt laut irgendetwas, was ich nicht verstehen kann. Nun ja, ich interpretiere das mal als eine präzise Richtungsweisung zurück und werde an der letzten Gabelung eben in die andere Richtung abbiegen. Hat geklappt! Auf der folgenden Brücke über den Fluss ist meine Helmkamera dann alle, aber der Weg fühlt sich richtig an, was mir der Fahrer eines entgegenkommenden Vehikels (Auto kann man das nicht mehr nennen) bestätigt. Vorsichtig geht’s weiter bergab, meine Reifen sind nicht grob genug für den nassen Untergrund, aber nun beginnt auch wieder ein straßenähnlicher Verkehrsweg und ich bin froh, als ich Sümela kurz darauf erreiche.

Saudreckig parke ich Bienchen vor dem Eingang, gebe meinen Helm bei dem Barbecue-Mann in Verwahrung und werde nun das Kloster besichtigen. Es geht noch einmal richtig bergauf, diesmal zu Fuß, über eine steile Treppe gelange ich zum einzigen Eingang in das uralte Heiligtum.

Alles begann mit einer Ikone, die der Evangelist Lukas selbst gemalt haben soll. Dann kommen Engel ins Spiel, die diese Ikone an diesen heiligen Ort brachten, der ursprünglich nur die Höhle eines Eremiten war. Die weitere fast zweitausendjährige Geschichte von Sümela ist sehr wechselhaft. Heute ist es Weltkulturerbe und wird von der Türkei seit Jahrzehnten restauriert. Herzstück von Sümela sind die kunstvollen Fresken in der Kapelle, leider sind sie in Armhöhe ruiniert von irgendwelchen armseligen, ignoranten Idioten, die ihre bedeutungslosen Duftmarken in Form von Namensritzereien hier hinterlassen haben. Ich könnte kotzen! Gleichzeitig ist aber auch ein Versagen der türkischen Kulturverwaltung zu beklagen, seine Schätze nicht ausreichend zu schützen gegen derartige Intelligenzallergiker! Bei der restlichen Restauration gibt man sich erfreulicherweise viel Mühe, was den unvermeidlichen Effekt hat, dass viel technisches Gerät herumsteht und die gesamte Bergwand mit riesigen Stahlnetzen gegen Steinabbruch gesichert ist. Schaut man sich nun die in Jahrtausenden gewachsene Architektur an mit ihren winzigen Kapellen, den kleinen Treppen über die gerade mal Kinder bequem gehen können, erinnert mich das an die Puppenstube meiner Schwester als wir Kinder waren. Das erklärt möglicherweise auch die große Freude der Kinder hier, die ein heiteres Versteckspiel in den Zimmerchen und Kammern veranstalten. Warum nicht? Andächtige Bewunderung kommt bei mir nicht auf, obgleich ich mit großem Staunen dieses Menschenwerk betrachte, aber vielleicht bin ich nach der Tour auch einfach etwas zu platt.

Helm holen, noch die restlichen Kilometer bis zu den ersten Hotels hinunter und dann checke ich in dem erst besten Laden ein, der am Weg liegt. Ist eh alles touristisch und zu teuer hier, aber mir reichen für heute eine Dusche, ein Bett, ein gutes Abendessen und kühle Nachttemperaturen. Konnte geboten werden, war ein toller Ritt heute! Gute Nacht.

Weiter zur Etappe Kaukasusstaaten.  ➡️