🇵🇹 Porto

Die Reiseblogs im Überblick

➡️  Porto, Dourotal und Lissabon, im Winter 2021/2022
➡️  Porto, Rückkehr nach Europa, Februar 2023
➡️  Porto, im Januar 2024


Porto, Dourotal und Lissabon

Samstag, 18. Dezember 2021 – Anreise im Fotofinish

Wie so oft nützt die beste und langfristige Planung des Urlaubs nichts, wenn Murphy’s Gesetz in Kraft tritt. Bis wenige Tage vor der geplanten Abreise türmten sich die Zufälle, Unfälle, Ausfälle, Einfälle und Begehrlichkeiten. Hinzu kamen noch die positiven Ereignisse, die unerwartet früh eintraten, worüber man sich im Normalfall freut, die aber sofortigen Handlungszwang bewirken, um die gewonnene Zeit nicht gleich wieder zu verschenken. So lag der ungepackte Koffer tagelang auf dem Boden, nicht wissend, ob es sich lohnt, ihn zu packen. Man will sich ja nicht vergeblich die Mühe machen, wenn man am Ende doch nicht verreist. Wie traurig wäre das denn, einen reisefertigen Koffer herumstehen zu haben, wenn der Urlaub geplatzt ist. Nee, kommt nicht in die Tüte.
Also Pokern bis zur letzten Karte. Einreisedokument für Portugal ausfüllen und anmelden, obligatorischen Corona Test machen lassen, Lieblingsklamotten waschen und vorbereiten, Lebensmittel aufbrauchen usw.
Und dann ergab sich diese Lücke im Universum, die sagte: Jetzt! Flüge buchen, Parking buchen, Zimmer buchen, alle Dokumente ausdrucken – besser ist! Der Koffer war Dank über 40 Jahren Erfahrung in einer Stunde perfekt gepackt, die lange Checkliste war um 1:00h nachts abgearbeitet. Prima! Noch dreieinhalb Stunden gesunder Schlaf lagen vor mir, denn der einzige noch freie Flieger geht nämlich um 6:25h.

Der Wecker musste gar nicht klingeln, ich habe eh kein Auge zu getan. Jetzt ging alles sehr schnell. Rüber zum Flughafen, Check in, boarding und aus dem Fenster gucken. Umsteigen in München, eine Stunde Verspätung, der Luftraum über Zürich ist gesperrt. Der Umweg führt über Paris (finde den Eiffelturm und den Arc de triomphe im Foto :-) und dann Chegada ao Porto! Taxiluxus, keine Lust auf ÖPNV. Schließlich scheint die Sonne heute und die Wetteraussichten sind nicht so besonders für die nächsten Tage, die kostbare Zeit möchte ich nicht in der U-Bahn verschwenden. Angekommen finde ich eine schöne Hütte, mittendrin in der Altstadt! Koffer rein, Jacke wechseln und auf in die Stadt am Douro!
Wie meistens in einer neuen Stadt, gehe ich am ersten Tag einfach los, und laufe an die Orte, die mir die wichtigsten sind zu sehen. Und so führt mich mein Weg mehr oder weniger direkt zur Ponte Dom Luís I. Porto ist sehr hügelig, die Straßen und Gehwege sind steil und bisweilen kommt man nur über lange Treppen weiter. Am Ende belohnt mich ein atemberaubender Blick von der oberen Ebene hinunter auf das alte Ribeira mit seinen weltberühmten kleinen bunten Häusern am Nordufer des Douro. Ich genieße die herrliche Aussicht auf meinem Weg über das stählerne Bauwerk hinüber zum Jardim do Morro, von wo aus ich die Teleférico nehme hinunter zum Cais de Gaia. Der Blick bei spätem Sonnenlicht von hier hinüber auf das Weltkulturerbe der Cais da Ribeira ist wunderschön. Und schon hatte sich die teure Taxifahrt als eine gute Entscheidung erwiesen.

Etwas später lasse ich mich von einem Wassertaxi übersetzen und erkunde planlos die kleinen Gassen, Straßen und Escadas, das sind die steilen Treppen, von denen ich schon berichtete. Und überall trifft man Menschen, die Musik machen, tanzen oder irgendetwas feilbieten vom Gebrauchsgegenstand über Kleidung bis hin zu handgemachtem Schmuck.
Auf der Suche nach einem Supermarkt verzweifelte ich fast. Das Pflaster hier ist zu teuer geworden für den kleinen Tante-Emma-Laden. Alles ist entweder verfallen oder schickimicki luxusaniert für die zahlungskräftigen Touristen. Keine gute Entwicklung für die Kultur einer Stadt. Ich sprach einen älteren Mann an, ob er mir helfen könne. Er nahm mich gleich mit auf seinem Weg und wir unterhielten uns über seine Stadt, die er sehr schön findet und er pries mir viele Orte an, die ich unbedingt sehen müsse. Was kommunikativ so alles geht, wenn man es will. Ein Kommunikationsgemenge aus Spanisch, Englisch und Portugiesisch, das mit „Obrigado“ und „Feliz Natal“ endete. Schön! Es waren glatte 15 Minuten vergangen bis unsere Wege sich an einem bescheidenen Supermarkt trennten, der mir das Nötigste bot für mein Abendbrot. Für einen Restaurantbesuch war ich heute nach 17 Stunden und vielen Höhenmetern zu müde.
Mein kostenloser Stadtplan aus dem Touristbüro, der eher bunt als nützlich war, brachte mich dann auch irgendwie wieder zu meinem Appartment wo der Abend nach Brot, Käse, Oliven und einem Gläschen Vinho tinto in einer Art Narkolepsie endete. Ein ereignisreicher Tag.

Sonntag 19. Dezember 2021 - Baustelle im Labyrinth

Die frühe Sonne und das laute Geschrei der Möwen befördern mich vom erholsamen Schlaf in die Wirklichkeit. Es war ein langer Tag gestern und heute wird er nicht kürzer werden, vermute ich. Ich öffne Fenster und Balkontüren, draußen ist es warm, der Tag beginnt mit einem heißen Kaffee auf dem Balkon. Die bunten Baukräne überall verhindern zwar die uneingeschränkte Sicht, aber baut man sie wohlwollend in das Bild der morgendlichen Stadt ein, sind sie Gitterlinien, die mein Panorama aufteilen wie der Sucher einer Kamera. Und das bin ich ja gewohnt.
Eigentlich weiß ich nie wie und wo ich anfangen soll, eine neue Stadt zu erkunden. Meine Liste mit der Überschrift „Porto Highlights“ liest sich wie eine Checkliste für gierige Kurzurlauber, die nichts verpassen dürfen, weil sonst ihr Urlaub wertlos wäre. In Ermangelung einer besseren Idee gehe ich einfach los. Es gibt ein paar Kreuze in meinem kleinen Stadtplan, die spaziere ich einfach ab.

Die Topografie der Stadt ist im wahrsten Sinne des Worte atemberaubend, es geht dermaßen steil rauf und runter, da sollte man sich genau überlegen, ob man rechts oder linksherum einen Häuserblock umrundet. Ein Labyrinth von Gassen Avenidas und endlosen Treppen. Das erste Kreuz ist der Mercado Ferreira Borges. Ich komme zufällig an der Buchhandlung Lello vorbei, das ist die mit der berühmten Treppe. Die Schlange vor der Tür ist überschaubar, dennoch stelle ich mich nicht an. Stattdessen linksherum um den Parque Saba Praça bis zum Torre dos Clérigos. Eine schmale langgezogene Kirche mit einem prächtigen Turm an der Spitze. Weiter geht es vorbei am Museum für portugiesische Fotografie eine schmale Gasse hinunter bis zum Miradouro da Vitória. Nach kurzer Aussicht führen steile dunkle Treppen hinunter Richtung Ribeira. Zwei Blocks weiter erreiche ich den Mercado. Nun, es ist kein richtiger Mercado mehr, in dem es die frischen Lebensmittel des Alltags zu kaufen gibt, sondern eine Markthalle, die sich dem portugiesischen Wein gewidmet hat. Zumindest heute. Da mein junger Tag noch nicht wirklich bereit ist, Alkoholika zu sich zu nehmen, belasse ich es bei einer rein optischen Verkostung der alten Eisen- und Glaskonstruktion.
Ich folge den Straßen weiter bis zum westlichen Ende der Ribeira Promenade. Überall die alten Fliesenfassaden, deren Zustand von jämmerlich bis prächtig variiert. Ganz davon abhängig, ob bereits ein Investor sich der Restauration dieser Kunstwerke angenommen hat oder nicht.

Mein Weg führt mich über die Tourimeile der Ribeira Promenade, ja hier ist es überlaufen, hier kostet ein schlechter Kaffee 4€, hier gibt es Markensonnenbrillen zu Schnäppchenpreisen und schönen handgemachten Schmuck von Rastafari-Freaks. Nach dem wohligen Duft von gutem Gras zu urteilen werden die Umsatzgewinne auch gleich genussbringend investiert. Natürlich ist die Kulisse einzigartig, die Szenerie atemberaubend schön, sonst wären die ganzen Besucher ja auch nicht hier.

Schaut man aber mal etwas genauer hin, wohnen in dieser Kirmes tatsächlich noch viele Menschen, für die das ein Zuhause ist – oder sollte man traurigerweise sagen „war“. Vieles ist luxussaniert, an den Eingangstüren prangen dezent edle Tafeln von Expedia, Trivago, booking & Co, die irgendwie besagen: „Das gehört jetzt mir!“ Und dann beschleicht mich wieder die Moral, ich schäme mich, die alte Frau im Fenster zu grüßen, die gerade Wäsche auf dem Balkon aufhängt. Oder dem alten Mann zuzuwinken, der sich emotionslos aus seinem Fenster die Karawane der Sehenswürdigkeitskonsumenten anschaut. Mancher versucht das Beste draus zu machen, aber ein Fußballtrikot des FC Porto einem Plüschtiger übergestreift und laute Folklore aus dem Ghetto-Blaster sind amüsant, aber keine Lebensgrundlage. Für sie alle bin ich nicht unterscheidbar: Mitteleuropäer, Kamera über der Schulter und konform im Fluss der Massen unterwegs. Und tatsächlich bin ich ja auch nur ein Tourist unter tausenden. Am Nachmittag kehre ich zurück in mein luxussaniertes Appartement, genieße einen Kaffee auf meinem Südbalkon und freue mich hier zu sein. Ich habe etwas Hunger vom Bergsteigen, da wird sich doch für heute Abend etwas finden lassen.

Da ich „mittendrin“ bin, ist die Auswahl an Restaurants mehr als groß. Ich möchte portugiesische Küche. Vorbei an der nächtlichen Igreja do Carmo, nur wenige Minuten Fußweg von meiner Unterkunft gibt es eine portugiesische Tapas Bar, die in den modernen Bewertungsmedien sehr gut bewertet wird – was anderes habe ich zunächst nicht als Auswahlkriterium. Und tatsächlich, kein Tourischuppen, sondern ganz bescheiden in einer Häuserreihe untergebracht, am Nebentisch spricht man Portugiesisch und der nette Kellner bietet mir ebenfalls bescheiden sein Spanisch an. Und dann gab es ein Highlight. Dass Sardinen zu den Grundnahrungsmitteln der Portugiesen zählen, war mir bekannt, aber dass man sie zu solch kulinarischen Erlebnissen zubereitet und ich sie serviert bekomme, ist mir eine wahre Freude. Der Vinho da casa ist klasse, so habe ich mir das gewünscht. Ein paar Schritte Richtung Praça de Carlos Alberto fand ich dann noch ein anderes Kleinod, die Bar Casa-da-Bó. Herrliches historisches Ambiente, das weder einer Stilrichtung noch einer Epoche exakt zugeordnet werden kann und eine „sonnig-fröhliche“ Bedienung. Ein zwanzig Jahre alter Tawny Port sollte den Abend beschließen – hat er dann auch. Ein wunderbarer Tag.

Montag 20. Dezember 2021 - Regen, geller’sche Verformung und die zwei Schwestern

Bilder gibt es heute nur das eine von meinem Apartment, denn ich verbrachte den Tag zu Hause. Angekündigt war er ja ab heute. Der lange Regen mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 100%. Dann mache ich es mir halt drinnen gemütlich. Abgesehen von einem kleinen unverrückbaren Arbeitseinsatz am Morgen, hatte ich für heute nichts besonderes geplant. Es gibt da ja noch die ganzen Fotos und Filme von gestern und vorgestern, die bearbeitet werden wollen. Und mit den Reisegeschichten stehe ich auch zwei Tage in der Kreide.

Zu allem Überfluss habe ich dann am Nachmittag noch den Vermieter herbemühen müssen. Und das war so: Um die Hütte bei dem Sauwetter einigermaßen zu temperieren, muss ich die AC einschalten. Und da auch in Portugal die Gesetze der Physik gelten, steigt die teuer erwärmte Luft nach oben in die erste Etage und heizt so sinnloserweise mein Schlafzimmer und unten bleibt es kalt. Lösung: Oben Tür zu. Gesagt getan, Schiebetür oben zu. Dann machte es leise Klack und sie ließ sich nicht mehr öffnen. Sie hat sich verkantet. Na, prima! Eine ganze Menge Zeug von mir war nun eingeschlossen und mein Bett steht auch in dem verschlossenen Raum. Werkzeug gibt es keines in der Bude, wozu auch? Einzig mit Messer und Gabel die schwere Türe auszuhebeln, war einen Option, aber eine schlechte. Es war dennoch einen Versuch Wert und kaum hatte ich die glänzenden Esswerkzeuge unter die Tür gerammt, hatte ich auch schon große Mühe, den verkeilten Messergriff des schicken WMF Bestecks wieder zu entfernen. Es trat das Phänomen der geller‘schen Besteckverformung auf und irgendwie lagen die Teile dann anschließend nicht mehr so konform in der Schublade wie vorher. Genützt hatte es aber nichts. Es dauerte dann bis in die Abendstunden, bis der Vermieter mit seinem Bruder und schwerem Gerät anrückte. Derweil ging ich ein Häppchen essen. Dann kam die kurze Nachricht, dass die Tür wieder offen ist. In Sekundenschnelle. Es lag halt doch am Werkzeug! Ansonsten wäre es mir schon sehr unangenehm gewesen, wenn ein Deutscher Ingenieur an einer portugiesischen Schiebetür scheitert – wieviel Klischees in diesem kleinen Satz stecken, erstaunlich.

Viel mehr passierte heute auch nicht mehr, mein Dinner war sehr spannend in einer winzigen Butze hier in der Straße, wegen des Regens wollte ich nicht weit laufen, ich war schon nach den 80 Metern klatschnass. Zwei kleine Damen, die aussahen wie Geschwister servierten bodenständige portugiesische Küche. Eine Schwester kochte, die andere servierte. Lieb, nett und zuvorkommend zeigte die servierende Schwester mir meinen kleinen Platz, an dem sie gerade noch ein Kreuzworträtsel gelöst hatte. Ich weiß nicht, warum sie mit mir französisch sprach, aber dann eben auf Französisch. Beherrsche ich zwar auch nur in Grundzügen, aber besser als Portugiesisch allemal. Die bunten Teller waren zusammengewürfelt in Größe und Farbgebung wie zu meinen besten Studentenzeiten. Bier war eiskalt – auch wie zu Studentenzeiten - und immer wenn sie an meinem Tisch vorbeikam lächelte sie mir zu, als wolle sie sagen: „Du verstehst die Speisekarte doch sowieso nicht, bestell doch einfach was, bei uns schmeckt alles lecker!“ Dessen war ich mir sicher, denn der kleine Laden füllte sich zusehend mit Portugiesen, die nicht wie Touristen aussahen - sehr vielversprechend. Ich bestellte ein kleines Gericht mit Sauergemüse und warmem Käsebrot. Leider hatte ich irgendwie die Variante mit Fleisch erwischt, nun gut, nehmen wir das mal so hin. Es hat aber hervorragend geschmeckt, alles war in einer sauren, leicht scharfen Soße eingelegt, die an Sauerbratensoße erinnerte. Mehr als satt wurde ich auch. Mein Bier war leer und ich um ein regionales kulinarisches Erlebnis reicher.
Der Tag endete mit dem Verfassen dieser Reisetagebuch-Geschichte und einem Gläschen vinho tinto. Boa noite!

21. Dezember 2021 – Franz von Assisi hat rot und wo man Zauberbesen kauft

Wider alle Vorhersagen weckte mich schon früh die Sonne, der Himmel war blau und das penetrante Kreischen der Möwen nötigte mich zum Verlassen meines warmen Bettes. Kaffee, Balkon, Sonne. Das technische Equipment wurde über Nacht aufgeladen. Auf geht’s. Einen echten Plan gibt es auch heute nicht, beginnen wir mit dem Mercado do Bolhão, dessen Originalstandort zwar schon seit 2019 wegen umfangreicher Sanierung geschlossen ist, es aber einen Mercado Temporário nebenan im Kellergeschoss eines Einkaufszentrums gibt. Doch bevor ich das Ziel meiner kulinarischen Leidenschaft erreiche, hält mich eine rote Ampel auf. Direkt vor der Capela das Almas, was sinngemäß soviel bedeutet wie „unserer lieben Frau der Seelen“. Da stehe ich auf dem schmalen Pavimento eingeklemmt zwischen Verkehr, Einkaufsmeile, Bussen, einem blinden Lottoscheinverkäufer und dem drängelnden Volk im Weihnachtsmodus.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite leuchten mich die über 15.000 handgemalten blauen Azulejos der angeblich schönsten Kathedrale Portugals an, die mir Geschichten erzählen. Vom Ordensbruder Franziskus von Assisi, von seiner Predigt vor dem Honorius, einem Diskurs der Jungfrau Catarina und einem wundersamen Springbrunnen. Immer wieder stürzen mich derartige Eindrücke in einen inneren Widerspruch. Als bekennender Widerständler gegen den katholischen Klerikalfaschismus bin ich gleichermaßen bewegt vom tieferen Sinn, der in den Geschichten ihrer Protagonisten verkündeten vorbildlichen Haltungen und rührenden Lebenstaten. Irre ich mich vielleicht in meinem harten Urteil? Tue ich der katholischen Kirche Unrecht? Stop! Rote Ampel! Stehenbleiben! Aufpassen!

Nun zu den irdischen Leidenschaften. Der Eingang zum Mercado Temporário do Bolhão und das Gebäude selbst zeigen sich im 90er Jahre Bausünden-Stil, das Ambiente hat Parkhaus-Charme. Die angebotenen Waren überzeugen aber nach wie vor mit Frische, Auswahl und Qualität. Wer etwas auf sich hält und beste Waren wünscht, kommt um den Bolhão nicht herum. Lange Gänge sortiert nach Gemüse, Obst, Süßigkeiten, Grundnahrungsmitteln, Fleisch, Käse und eine eigene Sektion nur mit bester Fischauswahl lassen mein Herz als leidenschaftlicher Hobbykoch höher schlagen. Insbesondere der frische Fisch hat es mir angetan. Einzig die bizarre Vorstellung, was ich mit einem frischen roten Robalo (Wolfsbarsch) oder einem Tamboril (Seeteufel) und der Mikrowelle in meinem Apartment anstellen soll, bewahrt mich vor einem unüberlegten Einkauf. Ich wäre so gerne Koch geworden, das ist mir mittlerweile klar... :-)

Ich verlasse das olfaktorische Panoptikum und laufe die bunte aber langweilige Rua Catarina entlang bis zur Igreja de Santo Ildefonso. Auch sie ist eindrucksvoll geschmückt mit blauen Kacheln, steht aber eher etwas einsam zwischen Flohmarkt und Bauzäunen herum. Weiter zur Sé do Porto, dann treffe ich auf den Jakobsweg. Winzige blumengeschmückte Gassen leiten mich extrem steil hinunter Richtung Ribeira. Miradouro da Rua das Aldas, ein Aussichtspunkt in Höhe des Glockenturms der Igreja de São Lourenço nur wenige zehn Meter entfernt. Weiter hinunter geht es durch steile Gassen, die nur noch mittels Treppen überwunden werden können. Da ist der Mercado Ferreira von gestern, irgendwie war ich hier überall schon mal.

Mir fällt ein kleines Schild in der Rua de Belomonte ins Auge. „Escovaria de Belomonte“. Auf Deutsch „Bürsten von Belomonte“. Ich habe recherchiert, diese Manufaktur wurde vor fast einhundert Jahren gegründet und war vermutlich die Inspiration für J. K. Rowling’s Zauberbesenladen in der Geschichte von Harry Potter. Ich aber finde einen kleinen Handwerksladen vor, in dem ein unglaublich freundlicher Mann mir seine Bürsten zeigt. Ich bin beeindruckt und spüre, dieser Laden hat tatsächlich etwas zauberhaftes.

Jetzt eine verdiente Pause am Ufer des Douro und auch wenn das Tachymeter erst Mittag zeigt, lasse ich mir einen Expresso (portugiesisch!) und einen Porto branco servieren. Die Sonne scheint warm und das Glas mit dem edlen süßen Likörwein beschlägt schon leicht. É assim que deve ser.

Der nachmittagliche Regen gibt mir Zeit für eine kleine Regeneration bevor ich mir das erleuchtete Porto in dieser klaren Nacht ansehen möchte. Eine ähnliche Wanderung wie am Vormittag erwartet mich und trotz der immensen Höhenmeter, die man hier zu bewältigen hat, belohnt mich jeder Ausblick mit Freude und Faszination. Que cidade encantadora.

Der Abend endet in meinem kleinen Apartment in der Rua Fabrica kurz vor einem heftigen Regen. Ich bin völlig platt und muss die ganzen Eindrücke erst einmal verarbeiten. Der Restaurantbesuch ist gestrichen, die Füße in Hochlage sind eindeutig überzeugender!

22. Dezember 2021 – Der letzte Tag in Porto und warum Rot besser ist als Blau

Nach dem üblichen kleinen Frühstück musste ich heute noch kurz ausprobieren, wie lange ich zu Fuß durch die ganzen Baustellen zum Bahnhof São Bento brauche. Von dort geht morgen früh mein Zug und den darf ich nicht verpassen. Es sind genau zehn Minuten.
Was steht heute auf der Liste? Ein paar Postkarten an meine Lieben möchte ich noch schreiben, die legendären Cafés Majestic und a Brasileiro werde ich besuchen und dann muss ich doch noch einmal in den Balhão, ein paar kulinarische Souveniers einkaufen.
Das Café a Brasileiro ist nicht weit vom Bahnhof São Bento entfernt und um diese frühe Uhrzeit ist es gewöhnlich noch wenig besucht. In einem der vielen Tourikramläden kaufe ich zuvor noch richtig schöne, kitschige Postkarten. Ich liebe es, Postkarten aus fremden Ländern zu verschicken. Das spannende daran ist zum einen, wann sie ankommen, zum anderen gibt das immer noch einmal Freude bei den Empfängern, wenn Monate später Post eintrifft. Und was gibt es schöneres, als bei einem Expresso (ja, mit „x“ im Portugiesischen) und einem Pasteis de Nata Postkarten zu schreiben. Der Name des Cafés ist Programm. "Brasileiros", wie das schon klingt, wenn man es richtig ausspricht. Der Kaffee ist aus Minas Gerais in Brasilien und schmeckte erwartungsgemäß mehr als hervorragend! Das Interieur präsentiert sich ebenfalls sehr edel und gediegen im Stil der Belle Epoque, allerdings etwas kühl, wie ich fand.

Und schon sind die Postkarten fertig gestaltet und weiter geht's zum Mercado Balhão - zielstrebig zum Sardinenhändler. Ich habe mir gestern schon ein paar Sorten ausgesucht, die sich vielversprechend anhörten. Einmal Sardinen in Zitronenöl, einmal Sardellen mit Chili. Es war leicht für den Händler, mich dann noch zu kleinen Makrelen in Senfsauce und Makrelen mit Piri-Piri zu überreden. Ich weiß noch nicht, ob ich sie tatsächlich verschenken werde. Bloß schnell wieder raus aus der Kalorienhölle und weiter zum wunderbaren Café Majestic, das nur zwei Block von hier entfernt ist. Seinerzeit soll bekanntlich J. K. Rowling hier Stammgast gewesen sein und bei einem guten Café am ersten Teil ihres Romans "Harry Potter" geschrieben haben. Kein Wunder, dass die beeindruckend üppige und gleichzeitig verspielte Inneneinrichtung im Stil des auslaufenden 19. Jh. sich inspirierend auf ihre Fantasie ausgewirkt hat. Für mich soll es heute ein Galão sein, das ist ein Expresso (wieder mit „x“) mit aufgeschäumter Milch.

Weiter Richtung Sé – ah, da sehe ich gerade zwei Briefkastensäulen. Die Postkarten müssen ja noch eingeworfen werden. Der linke Postkasten ist blau, der rechte ist rot. Was bedeutet das? Zwei Postunternehmen? Habe ich auch die richtige Marken für den richtigen Beförderer? Ist einer vielleicht Express und da muss dann mehr Porto drauf? Ich mache mir in erster Linie Sorgen, dass ich den falschen Kasten wähle und die kitschigen Postkarten ihre Empfänger nie erreichen werden. Oder es wird gar Nachporto vom Empfänger abgefordert und dann stehen da nur ein paar nette aber belanglose Urlaubsgrüße drauf. Ich entscheide mich, eine seriöse, nette Dame zu fragen, die offensichtlich vor einem Laden auf etwas wartet. Auf perfektem Portugiesisch (subjektiv) frage ich, welcher Kasten denn der richtige sei und zeige ihr meine Postkarten. Das heißt auf Portugiesisch: „Qual é a caixa postal certa?“ Sie antwortet mir unmittelbar auf Englisch, was mich maßlos enttäuscht, weil ich einerseits wieder sofort als Ausländer entlarvt worden bin, andererseits mein Portugiesisch wohl doch nicht ganz akzentfrei ist. Noch verblüffender aber ist die Antwort selbst: „I think the red one is the better one.“ Auf meine Frage, warum, erwiderte sie: „Red means fast, I think.“ Und tatsächlich, bei genauerem Hinsehen kann man lesen, der rote Kasten wird 1 Stunde eher geleert. Ich werfe die Postkarten in den roten Briefkasten ein und bin mir absolut sicher, das Richtige zu tun!

Als letztes Highlight für heute habe ich mir die Besichtigung einer Portwein-Kellerei vorgenommen. Es ist nicht viel los am Cais de Gaia und so bekam ich eine exklusive Einzelführung mit anschließender Verkostung – nun ja, Steigerung der Kaufbereitschaft durch liebevolle Alkoholisierung der Besucher. Ich hatte mich für Sandeman entschieden, weil die Uhrzeit am besten passte. Allerdings war es schon sehr interessant, was der Schotte alles bewegt hat im Portweinhandel. Schließlich war er der erste, der den Portwein nach Mitteleuropa brachte. Heute gehört er dem größten portugiesischen Portweinhändler. Es ist sehr aufregend, durch die dunklen Keller zu streifen, in denen noch Flaschen vom Anfang des letzten Jahrhunderts liegen. Und auch mancher Mythos wird zerstört, so zum Beispiel, dass ein Port wertvoller wird je länger man die Flasche aufbewahrt. Nein, er wird nicht mehr besser, sobald er auf der Flasche ist. Und Jahrgänge gibt’s beim Port auch nicht – alles „Blend“. So jedenfalls berichtet es die kompetente Dame aus dem Hause Sandeman.

Resultat: Erstens, ich mag die hellen Ports nach wie vor am liebsten (außer zu Stilton Käse, da muss es ein ruby oder tawny sein!) und zweitens, ich war um 15:30h schon gut angetütert...

Das Wassertaxi bringt mich zurück ans Nordufer des Douro und den steilen Weg hinauf zur Rua Fabrica gehe ich dann heute wohl zum letzten Mal. Ein Häppchen noch im excellenten Tapas Restaurant, noch einen Absacker in der schönen Bar Casa-da-Bó und dann freue ich mich auf Morgen auf meine Reise nach Lissabon.

23. Dezember 2021 – Intermezzo in Lissabon

Die Reise nach Lissabon war kurz. Ein paar organisatorische Gänge wegen Corona, Reisebeschränkungen, Tests usw. Die Stadt war sehr aufgewühlt, ob es an Weihnachten lag oder der Vorbereitung auf Silvester in Zeiten rasant steigender Coronainfektionenen, ich kann es nicht sagen. Irgendwie waren das Leben und die Stimmung ein Konglomerat aus Sorgen, Prävention und Business as usual mit Maronenröstern, Weihnachtseinkäufen und Lichterglanz auf allen Plätzen. Der Ausflug nach Sintra musste dann auch scheitern, da die Wahl des Zeitpunktes schlecht war. Regen und Kälte sowie Massen an Weihnachtsbesuchern machten die Visite zur Strapaze.

Nicht zuletzt auch wegen der schrecklichen Unterkunft und des anhaltenden Regenwetters lag die Entscheidung nahe, unmittelbar vor Silvester zurück nach Porto zu fahren. Mit dem Zug und einem Fensterplatz in der preiswerten 1. Klasse erlebte ich nun zum zweiten Mal eine Panoramafahrt durch Portugal. Mit einem so schnellen Wiedersehen der Mündungsstadt des Douro habe ich tatsächlich nicht gerechnet. Um so glücklicher war ich, hierher zurückgekommen zu sein. Als ob man einen alten Freund ganz unerwartet wiedertrifft.

Die Wege am verbleibenden Tag waren die alt bekannten, schönen Pfade durch die steile Altstadt. Es ist Silvester und wegen der aktuellen Testauflagen in Innenräumen stellten alle Restaurants kurzerhand ihre Tische und Stühle auf die Straße. Geht doch!

Das bessere Wetter und die Wärme der Sonne konnte man tagsüber einfach nur dankbar genießen. Und es waren da noch so viele spannende Ort, die ich vorletzte Woche nicht mehr geschafft habe, zu besuchen. Aber davon mehr in den nächsten Tagen.

Der Abend kam schnell und die hell erleuchtete Stadt verwandelt sich erneut in einen Lichterzauber, der seinesgleichen sucht. Der Höhepunkt ist natürlich die Ponte Dom Luís I, deren stählerne Silhouette sich mit dem Glanz der tausend Lichter von Ribeira vermischt und sich im stillen Douro spiegelt. Es vergeht wunderbare Zeit, bis die Seele wieder aufgetankt ist und bis die Magie dieses Panoramas mich wieder loslässt.

5. Januar 2022 - Palácio da Bolsa und mehr...

Die letzten Tage schönes Wetter, heute etwas durchwachsen. Irgendwie weiß man nicht so recht, was man sich ansehen soll. Es gibt so unendlich viel, was die Sinne berührt. Also eine beliebige Besichtigung ausgesucht, der Rest wird sich schon ergeben. Heute hieß diese Besichtigung "Palacio da Bolsa", der berühmte ursprüngliche Handels- und Börsenplatz Portos. Ein architektonisches Monumentalbauwerk, das heute für unterschiedliche Zwecke sinnvoll genutzt wird. Der Eindruck erstreckt sich von überwältigend bis protzig mit Überraschungen. Man findet hier u.a. das Arbeitszimmer von Gustave Eiffel und im Salao Arabe beeindruckende maurische Einflüsse nach Vorlage der Alhambra.

Ein kleiner Imbiss und die Electrico fährt mitten durch das Restaurant, der Half Rabbit am Cais de Gaia und ein uralter Krämerladen in der Nähe des Mercado do Bolhão, in dem ich mich habe hinreißen lassen zu ein paar umwerfenden Pates de Peixe für's Abendbrot. Und unterwegs ungezählte, mehr als beeindruckende Gebäude der Stadt, die alle ihre eigene kleine Geschichte in sich tragen. Und immer wieder der Torre dos Clérigos, eines der Wahrzeichen der Stadt. Porto ist so wunderbar und geheimnisvoll!

7. Januar 2022 – Kunst!

Bus 743 ohne Umsteigen bis zum Museum und Park der Fundação de Serralves. Ein absolutes Highlight Portos, für das alleine es sich fast schon gelohnt hat, zurückgekehrt zu sein.

Künstlerisches Schaffen, Bewusstseinsbildung, Umwelt, kritische Reflexion der Gesellschaft und Kreativität. Das sind die fünf fundamentalen Leitgedanken der Stiftung Serralves. Eines der meistbesuchten Museen für zeitgenössische Kunst der Welt. Ohne mir anmaßen zu wollen, in drei Stunden und mit meinem bescheidenen Kunstverständnis ein fundiertes Urteil abgeben zu können, ist es ein Juwel eines Museums. Und damit ist nicht nur das Museum gemeint, sondern der ganze Jardim de Serralves samt der beeindruckenden Art Deco Villa, der wundervoll duftenden Eukalyptushaine, dem kleinen See, dem Treetop Walk und dem verspielten Teehaus. Eine kleine Oase in der überaus aktiven Stadt Porto.

In den Ausstellungsräumen präsentiert sich dann eine beeindruckende Komposition aus bekannten und (mir) unbekannten Künstlern, die man auch ohne großes Sekundärwissen einfach nur auf sich wirken lassen kann: Tudela, Kubisch, Beuys, Ai Weiwei und Bradford, um nur ein paar von ihnen zu nennen.

Hach, den Alltag verlassen, die Welt vergessen, eintauchen, sich leiten und verleiten lassen, sich verlieren und freudig wiederfinden und am Ende das Leben mit neuer Energie wieder aufnehmen. Was für ein wunderbarer Tag...

8. Januar 2022 – Ausflug ins Tal des Douro

Die Tage in Porto vergehen schnell und erlebnisreich, was auch die kulinarische Erkundung sehr gemütlicher und guter Restaurants und Kneipen mit einschließt. Vom Bahnhof São Bento fährt ein Zug direkt bis ins Dourotal nach Peso da Régua, unserem Ausgangspunkt für die kleine Erkundung des Flusstals mit seinen weltberühmten Weinbergen. Davon möchten wir einen eigenen Eindruck bekommen.

Mietwagen abholen und wir beziehen kurz darauf unser Zimmer in der Quinta do Valdalágea, einem sehr alten Weingut in der Nähe, dem man ärgerlicherweise die Autobahn A24 in die Aussicht gebaut hat. Nun ja, sie war weit genug weg, um akustisch zu stören und Autofahrer sind wir ja auch. Spaziergang in den hauseigenen Weinbergen und mehrere Ausflüge zu den ungezählten Aussichtspunkten. So füllten sich die folgenden Reisetage sehr schnell mit unvergesslichen Bildern und Aussichten über die älteste Weinbauregion der Welt, wie man behauptet.

Schnell brechen die letzten Tage an, die Sonne ist wohlgesonnen und verschenkt Wärme und Licht. Das Dourotal ist eine der schönsten Gegenden von Portugal, allerdings ist es nicht in wenigen Tagen zu erkunden, dazu benötigt man vermutlich Monate. Die Wege sind einfach zu weit und zu schön. Immer wieder geht es über kurvige Straßen und winzige Bergdörfer zur anderen Talseite. Manchmal braucht man über eine Stunde bis man das Dorf auf der anderen Talseite erreicht, auch wenn es zum Greifen nah erscheint. Hier und da muss man etwas schwindelfrei sein, ansonsten ist die Topografie zwar atemberaubend, aber nicht zu herausfordernd. Und so standen heute der Bahnhof von Pinhão und mehrere Aussichtspunkte auf dem Zettel, die im Portugiesischen mit dem schönen Wort Miradouro bezeichnet werden: Miradouro da Formiga und Miradouro São Leonardo de Galafura waren die schönsten.

Für den Miradouro da Formiga mussten wir noch einen Spaziergang durch die steilen Weinberge und Olivengärten absolvieren. In allen Weinbergen herrscht rege Aktivität, der Rebschnitt ist noch nicht überall abgeschlossen, die Böden werden gereinigt und bearbeitet. Das Weinreisig wird wie eh und je verbrannt. Das ist zwar eine riesige, qualmende Sauerei, aber riechen tut es toll, denn mit dem Reisig werden auch viele Ölhölzer verbrannt und ich verbinde diesen Duft untrennbar mit dem Mittelmeerraum. Alles für die hoffentlich reiche und gute Lese 2022.

Viel mehr Sachliches gibt es auch nicht zu berichten, den Rest der Zeit verbringt man am besten mit tiefem Ein- und Ausatmen, mit Seelenpflege und mit Weitblicken in die Berge und Hügel und auf den still dahinfließenden mächtigen Douro. Que maravilha!

13. Januar 2022 – Letzter Tag in Lissabon bei Sonnenschein

Nach der Rückreise aus dem Dourotal, wieder per Bahn, ist heute der letzte Tag in Lissabon und Portugal. Notwendige Aktivitäten zur Organisation der Rückreise stehen an und das erledigt man am besten direkt am Flughafen. Hier weiß die rechte Hand allerdings nicht, was die linke tut, irgendwie überfordert COVID das gesamte System. Zudem sind arbeitende Portugiesen nach meiner Erfahrung entweder völlig ignorant oder extrem hilfsbereit. Dazwischen ist das Land unbevölkert. Am Flughafen wird man zunächst überall abgewiesen, weil angeblich irgendein Formalismus nicht erfüllt ist, in Wahrheit wissen die hier selbst nicht, wie das Spiel läuft. Am Ende ist dann doch alles korrekt und niemand interessiert sich für irgendein Papier, QR-Code oder Einreiseformular. Fertig!

Und jetzt noch bei schönstem Sonnenschein eine Runde durch Lissabon. Linha 28, Alfama, der alte Künstlermarkt am Mercado de Santa Clara war leider geschlossen, einen letzen Ginjinha am Miradouro das Portas do Sol, Miradouro de Santa Luzia mit Aussicht auf den Tejo, Sé de Lisboa (darf nicht fehlen) und ganz am Ende eine Erfrischung in der warmen Wintersonne am schönen Praça do Comércio, der trotz seiner Prominenz und Gewaltigkeit zu einem meiner liebsten Plätze in Lissabon gehört. Der Wecker ist auf 3:00h gestellt.

Adeus Portugal, foi bom estar contigo! Até à próxima!

 

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Porto im Januar 2024

Samstag, 13. Januar 2024 – Wiedersehen mit der Lieblingsstadt

Es ist 3:30 h nachts, es regnet draußen. Mein erster Wecker stimmt pünktlich eines meiner Wecklieder an. Ich stelle mir immer mehrere Wecker, wenn ich keinesfalls verschlafen darf. Auch heute, obwohl das wäre nicht nötig gewesen, denn ich bin schon wach. Nein, nicht vor Aufregung, weil es in ein paar Stunden losgeht, sondern weil mein Leben in den letzten elf Monaten etwas heftig durchgeschüttelt wurde, aber diese Geschichte soll an anderer Stelle erzählt werden. Ich lasse mir Zeit für ein nächtliches Frühstück, der Koffer ist natürlich schon reisefertig, letzte Kontrolle, alles aus und alles zu, dann breche ich auf.

Am kleinen Flughafen im Münsterland ist es noch dunkel, draußen auf dem Vorfeld steht der unbeleuchtete Cityhopper, der mich nach Frankfurt bringen wird. Von dort sind es dann schnelle zweieinhalb Stunden bis nach Porto. Als drei Stunden später der Tag erwacht, genieße ich schon die Aussicht hoch über den Wolken und das wärmende Sonnenlicht. Unter mir ziehen stumm die Biskaya und Asturien mit den verschneiten Picos de Europa vorbei als plötzlich etwas Altbekanntes in mir erwacht. Es ist das wunderbare Gefühl jener Momente, in denen man sich auf den Weg macht, eine Reise beginnt oder zu neuen Taten aufbricht. Ein schönstes Lebensgefühl.

"Cabin crew, please prepare for landing!" dann beginnt der rumpelige Sinkflug durch dicke Regenwolken, nun ja, es ist Januar. Wir landen pünktlich, der Koffer dauert etwas, dann bringt mich ein älterer, fröhlicher Taxifahrer zu meinem Apartment. Er macht sich einen Spaß daraus, meine sprachlichen Gehversuche im Portugisischen zunächst überhaupt nicht zu verstehen, um dann, nach einer gekonnten Kunstpause, meinen Text mit perfektem Zungenschlag zu repitieren. Danach folgt jedesmal ein kleines Gewinnerlachen und die Aufforderung zur phonetischen Korrektur meinerseits. Die Ankunft in Vitória, dem alten Stadtviertel direkt oberhalb von Ribeira, kommt viel zu schnell. Ich bezahle den Taxifahrer und merke mir seine Nummer schon mal für die Rückfahrt.

Mein Apartment mit Aussicht ist in der obersten Etage, genau so wollte ich das! Ich öffne die Balkontüren und Porto Velho begrüßt mich wie ein alter Freund es tun würde. Eine grandiose Aussicht umarmt mein Innerstes: "Schön, dass du da bist!" Die große Brücke nach Vila Nova de Gaia überspannt wie eh und je den dunklen Douro und ich atme die frische Luft, die von Ribeira heraufweht. "Olá cidade favorita! Wie schön wieder hier zu sein, wir haben über eine Woche Zeit füreinander!"

Sonntag, 14. Januar 2024 – Regenkaleidoskop und Sichtwechsel

Gestern ist außer einem Spaziergang und ein paar Einkäufen für das leibliche Wohl nicht mehr viel passiert. Es war ein langer Tag und das Bett rief beizeiten zur Nachtruhe. Umso frischer der heutige Morgen. Frisch in dem Sinne, dass draußen ein ziemlich unwirtliches Wetter herrscht. Es regnet in wechselnden Intensitäten und ein frischer Wind bläst das Wasser frontal an meine großen Balkonfenster. Also beginne ich zunächst die Hütte nach meinem Geschmack umzuräumen. Der Tisch gehört ans Fenster, schließlich brauche ich beim Schreiben Tageslicht und eine gewisse visuelle Inspiration. Ja, das geht auch bei Mistwetter. Die Tagesdecke meines Bettes wird zur Tischdecke, ich stehe nicht auf ungemütliche, weiße Schleiflacktische. Im Treppenhaus stehen nur zur Deko dicke Kerzen herum, eine davon übernehme ich in mein Inventar und führe sie ihrem originären Zweck zu: Gemütliche Beleuchtung! Bei der Gelegenheit wird auch gleich die Flasche mit diesen unsäglichen Duftstäbchen von meiner Etage ins Foyer verbannt. Mein ganzes Apartment stinkt schon nach dieser olfaktorischen Übergriffigkeit. So, Tür zu, das sieht doch schon ganz gut aus in meinem Zuhause. Sessel noch an den Tisch ranschieben und jetzt ein Tässchen Kaffee und ein kleines Frühstück. Geht doch! Auch bei Regen.

Der Regen macht wenig Anstalten aufzuhören, ja nicht einmal weniger zu werden. Im Gegenteil, es prasselt regelrecht an meine Scheiben, dass das Wasser nur so in Schlieren herunterrinnt. Ich gieße mir eine weitere Tasse Kaffee auf und beginne zu schreiben. Etwas später in ein paar kurzen Regenpausen ist draußen die Luft vom Wind dermaßen klar geblasen, dass die Farben der Dächer und die der Häuser am anderen Flussufer eine beeindruckende Intensität bekommen. Die an meiner Fensterscheibe verbliebenen dicken Regentropfen und Rinnsale wirken wie hunderte optische Linsen, die meinen Panoramaausblick jetzt kunstvoll verfremden. Je nachdem wie ich meinen Kopf zur Seite oder auf und ab bewege, verändert sich das Bild völlig unregelmäßig, aber es bleibt geradezu brillant scharf. Wie ein riesiges Kaleidoskop, dem die Geometrie der gespiegelten Objekte abhanden gekommen ist. Ich nenne es mein "Regenkaleidoskop", obwohl die präzise Bezeichnung eigentlich "Teleidoskop" sein muss, aber das kennt doch kein Mensch, nicht einmal der Taxifahrer von gestern. Was für ein kurzweiliger Spaß!

Am Nachmittag wird das Wetter besser. Es hört auf zu regnen mit Aussicht auf leichte Sonnenintervalle. Ich mache mich auf den Weg, ich brauche frische Luft. Doch was stelle ich in einer Stadt an, die ich schon mehrmals besucht und deren prominenteste Orte ich schon aus allen erdenklichen Perspektiven betrachtet und abgelichtet habe? Ich beginne ein kleines Fotospielchen. Kann ich die Ansichten der bekannten Lokationen nur durch ihre Farbe und ihre gegebene Bildaufteilung darstellen? Sind die typischen Sehenswürdigkeiten auch so identifizierbar? Spannend. Ich mache also vorsätzlich fotografisch alles falsch, was man in den Lehrbüchern für den Fotoanfänger beigebracht bekommt. Ich begehe Todsünden der Fotografie, brenne den Himmel aus und lasse Schatten elend absaufen, architektonischen Linien ist das Stürzen erlaubt und beim groben Verreißen meines Fotoapparates verspüre ich eine rechte Freude. Da dies nicht meine übliche Arbeitsweise ist, kann ich auch die künstlerische Ausbeute dieses Experiments nicht abschätzen. Also mache ich zig Bilder von jedem Motiv, nicht lange im Sucher gestalten, es wird "geballert"! 

Und das ist die durchaus vorzeigbare Ausbeute meines "Sichtwechsel-Experiments", allerdings nicht ohne aufwändige Nachbearbeitung...

Mir gefällt das für den Anfang schon richtig gut. Es ist eine Art Sichtwechsel auf Altbekanntes, ohne das Wesentliche zu verlieren. Noch mehr, es ist die Entfernung des diskreten Äußeren, die Entfernung der primären Identifikationsmerkmale wie Grenzlinien, Flächengeometrie und Objektumrisse. Übrig bleibt eine unscharfe, aber nicht willkürliche, impressionistische Farb-, Hell- und Dunkelverteilung. Und was für herrliche Farben, Formen und Kontraste. Ich erkenne auf den Bildern zweifelsohne meine längst liebgewonnenen Anblicke dieser Stadt, nur haben sie mir bei der Betrachtung noch nie soviel Platz für Fantasie gelassen. Welche Freude so einfache Sichtwechsel doch machen können!

15.-17. Januar 2024 – Frühstück mit Jonathan und macht bergauf glücklich?

Der zum Teil heftige Regen wechselt sich mit dem Atlantikwind ab. Azorenwetter. Für meine kleinen alltäglichen Einkäufe muss ich die Regenpausen nutzen, meist abends gehe ich dann durch die nassen, glänzenden Straßen runter zum kleinen Supermarkt unterhalb von Vitória. Der hat das Nötigste und bis Mitternacht geöffnet. Im Grunde ist es kein Supermarkt, sondern ein besserer Kiosk, wo sich alle möglichen Nachtgestalten treffen und Menschen, die irgendetwas vergessen haben oder auf dem Heimweg von der Nachtschicht noch einen Verlegenheitsimbiss kaufen, weil sie todmüde sind und nur noch nach Hause wollen. Ach ja, und ich, der wählerische Tourist, der Obst, Milch und Kekse kauft und tatsächlich nach Biowaren sucht. Ich komme mir arrogant vor, aber davon nimmt glücklicherweise niemand Notiz und der Mann an der Kasse ist auch bemerkenswert freundlich. Als ich gehe sage ich laut "Adeus" und wundere mich, wer mir alles ein ebenso freundliches Auf Wiedersehen wünscht. Sogar der kräftige Türsteher verabschiedet mich, er nickt mir lächelnd zu, als ob er es bedauere, dass ich schon gehe. Ja, ich komme bestimmt wieder hierher zum Einkaufen. Auch wenn es keine Biowaren gibt. Und nun den ganzen Berg zum Brunnendenkmal "Chafariz da Porta do Olival" wieder hinauf. Er ist steil. Die meisten Straßen und Gassen hier sind steil und ich überlege mir jedes Mal genau, wo ich bergab gehe oder ob es einen klügeren Umweg mit weniger Höhenmetern gibt. Mir kommen einige wenige Menschen entgegen. Bergab sind sie immer so flotten Schrittes, was kein Wunder ist. Ich frage mich, ob Menschen, die bergab gehen, in diesem Augenblick tendenziell glücklicher sind als Menschen, die bergauf gehen. Und könnte man traurige Gemütszustände durch Bergabgehen kompensieren? Das wäre ein interessanter Therapieansatz. Die Fragen kommen auf meine innere Denkliste, sie müssen bis zur Beantwortung noch reifen. Da ist der Brunnen, jetzt geht es nur noch bergab, ich bin fast zu Hause. Es beginnt wieder kräftig zu regnen als ich mein Apartment erreiche. Glück gehabt.

Oft, wenn ich mir morgens mein Frühstück bereite, sitzt eine dicke Möwe auf meinem Balkongitter. Möwen haben keinen Fabelnamen, deshalb taufe ich sie ganz einfallslos Jonathan. Etwas nervös schaut er mir durch das Balkonfenster in der Küche zu. Normalerweise sind Möwen scheuer, Jonathan nicht. Ob er auf Futter spekuliert? Oder ist das Balkongitter sein Stammplatz und ich störe gerade sein Territorium? Ich bewege mich ruhig und gleichmäßig, mir gefällt die Gesellschaft, denn zugegeben, manchmal ist es schon etwas einsam hier alleine mit dem Ausblick. Und bei meinen Selbstgesprächen weiß ich fast immer vorher, was ich mir antworten werde. Heißer Kaffee, Müsli, frisch gepresster Orangensaft, ein gut belegtes Sandwich und ein 6 Minuten Frühstücksei. So kann der Tag beginnen. Jonathan mit seinem schiefgestellten Kopf wirkt neidisch und in dem Moment sehr menschlich. Tatsächlich beginne ich mit ihm zu reden. Nichts Gehaltvolles, eher so wie Menschen mit ihrem Hund sprechen, wenn sie sich um seine Beipflichtung zum eigenen Lamento bemühen. Jonathan scheint nicht beeindruckt und wendet sich ab. Dann wirft er sich ohne einen Flügelschlag elegant in den Aufwind, der von Ribeira hochweht, und gleitet davon. Nachdenklich beginne ich das Frühstücksei zu pellen, es ist noch sehr heiß.

Ich muss an die Luft. Das Wetter scheint stabil genug für einen Spaziergang nach Vila Nova de Gaia. Dicke Schuhe an und los. Meine Spaziergänge beginnen fast immer mit einem kurzen Ausblick vom Miradouro da Vitória, anschließend durch die winzige Escada da Vitória hinunter zur Rua de Belmonte. Ein paar Häuser von hier ist der berühmte Bürstenmacher Escovaria, der die reale Romanvorlage für den Zauberbesenmacher in Harry Potter lieferte. Ich biege aber nach links ab und spaziere vorbei am Palácio da Bolsa weiter hinunter zum Ufer des Douro. Es ist alles so vertraut und behaglich normal. Ich sehe keinen Anlass vor den vielen imposanten Gebäuden stehen zu bleiben oder Denkmäler zu bestaunen. Auch mein Fotoapparat bleibt meist im Rucksack. Um die Urlaubsfotos kümmern sich schon die Touristen. Ja, formal bin ich auch einer, aber das fühlt sich gerade überhaupt nicht so an, denn ich mache ja meinen Frühstücksspaziergang, der nur ganz zufällig hier entlangführt. So etwas haben Touristen nicht und da ist der Unterschied. Auf der Hälfte der Promenade besteige ich ein wartendes Taxi. Dreifünfzig kassiert der Kapitän, kurz darauf legen wir ab. Es ist das Wassertaxi rüber nach Gaia und ich bin der einzige Fahrgast. Das habe ich schon ganz anders erlebt. Die Fahrt dauert nur drei Minuten und mir gefällt immer wieder diese Totale der bunten Häuser an den Cais da Ribeira. Auch einer meiner Lieblingsorte in dieser Stadt. An der Promenade von Gaia ist wenig los, die Parkbänke sind überwiegend unbesetzt und ich experimentiere wieder etwas mit meinem "Sichtwechsel". Das Wetter hält sich prima und ich nutze eine der trockenen Parkbänke zum Verweilen. Die frische Atlantikluft tut gut und weckt Lebenslust. Tief einatmen, ausatmen, Seele auftanken.

Welchen Rückweg schlage ich denn nun ein? Ich bin lange keine Seilbahn mehr gefahren. Das letzte Mal war vor fast einem Jahr. Es war hier in Porto. Ich fahre immer Seilbahn, wenn ich hier bin. Die Talstation der Teleférico ist leer, ich besteige die Gondel Nr. 13 und genieße den Luxus alleine zu fahren. Ein im wahrsten Sinne des Wortes erhebendes Gefühl, von der Fußhöhe der riesigen Ponte Luís fast geräuschlos auf die Scheitelhöhe ihrer Stützparabel angehoben zu werden. Oben am Aussichtspunkt der Seilbahnstation werden vor dem atemberaubenden Flusspanorama Maronen geröstet. Da ich Maronen nur zu gebratenem Wildschwein mag, verzichte ich auf den Kauf und schlendere los über die lange Stahlbrücke. An dem Blick von hier oben auf die ewige Promenade von Ribeira werde ich mich wohl nie sattsehen können. Etwas weiter habe ich Einblick in die letzten wilden Ruinengärten, die offensichtlich noch von Menschen genutzt und sogar behelfsmäßig bewohnt werden. Die fortschreitende Luxussanierung der Stadt wird diese in absehbarer Zeit auch verdrängt haben. Eine polarisierende Diskussion. Der Weg führt vorbei an der imposanten Sé do Porto bis hin zum Bahnhof São Bento. Trotz der Großbaustelle für die U-Bahn Linha Rosa nehme ich den kleinen Umweg durch das berühmte Foyer des Sackbahnhofs, der auf den Grundmauern des Klosters des Heiligen Benedikt fußt. Die prächtigen Fliesenarbeiten und die üppige Höhe der Eingangshalle sind schon sehenswert. Hier fahren die Züge ins Dourotal ab und unmittelbar hinter den Bahnsteigen beginnt übergangslos ein riesiger Tunnel in den Berg.

Die Baustelle wird mir zu laut und ich verschwinde besser von hier. Das Wetter gestaltet sich weiter ganz stabil, weshalb ich nicht den kürzesten, sondern den angenehmsten Rückweg wähle. Er führt durch die eine oder andere kleine Seitengasse, vielleicht finde ich ja zufällig noch eine gemütliche Taverne oder ein hübsches Restaurant, denn in den nächsten Tagen möchte ich es wagen, mal wieder essen zu gehen, was sich derzeit wegen des ganzen Krebsdurcheinanders in meinem Hals noch etwas schwierig gestaltet. 

Der kleine Umweg führt zufällig auch am freundlichen Supermarkt vorbei. Das trifft sich gut, denn meine Apfelsinen sind aufgebraucht und morgen früh möchte ich schließlich wieder Orangensaft pressen, wenn ich mit Jonathan frühstücke. Der Einkauf geht flott, der Türsteher ist um diese Zeit ein anderer, dann weiter hinauf nach Vitória. Es geht stetig bergan und dabei fällt mir wieder die Frage von der inneren Denkliste ein, ob Menschen, die bergab gehen, in diesem Augenblick tendenziell glücklicher sind als Menschen, die bergauf gehen. Formuliere ich daraus eine These, erscheint sie mir zunächst schlüssig, allerdings widerspräche sie der populären, positiv belegten Redewendung "Jetzt geht's bergauf!" Ich beobachte nun genau, ob mich der Anstieg ohne Glücksgefühl lässt oder ob er mir im Sinne der zitierten Redewendung eher motivierenden Zuspruch schenkt. In dem Moment fällt mir von einer Häuserwand ganz prominent ein kleines Graffiti ins Auge: "Fuck cancer". Es ist kein kunstvolles Werk, eher eine hingekrickelte Aufforderung. Ich fühle mich aufgeweckt, eine Botschaft des Universums? So en passant und doch so klar? Schließlich ist da ja noch was in meinem Leben, das diese Motivation von Zeit zu Zeit dringend braucht. Erstaunlich treffend. Ich muss unwillkürlich lachen und streiche die aktuelle Frage des "Bergaufglücks" von der Denkliste. Sie ist beantwortet: Bergauf macht glücklich, am Ende. Und bergab macht auch glücklich. Am Anfang. Das erzähle ich Jonathan morgen früh.

18. Januar 2024 - Die köstlichen Muscheln des Jakob und ein Denkausflug

Heute morgen wache ich leicht verwirrt auf. Ich habe sehr realistisch von meiner Südamerikatour geträumt. Da war eine wunderschöne, aber endlose Piste, die mein Motorrad, also Bienchen, und ich bewältigen mussten. "Unmachbar" war der beherrschende Gedanke, trotzdem gab es aber keine Alternative und somit waren Lamento und Diskussion überflüssig. Wir sind einfach gefahren. Das Ende haben wir nicht erreicht. Ich bin vorher aufgewacht.

Beim Frühstückskaffee auf dem Balkon knüpfe ich gedanklich noch einmal an das nächtliche Traumgeschehen an. Vor genau einem Jahr war ich in Montevideo und habe Bienchen aus der Werkstatt abgeholt. Ich hatte wenige Tage zuvor die härteste Woche der Tour hinter mich gebracht. Gefährliche katabatische Winde der Stärke 6 und Spitzentemperaturen von 42°C in der argentinischen Pampa haben mir meine persönlichen Grenzen sehr deutlich aufgezeigt. Bienchen und ich sind dennoch gefahren. Keine Alternative. Kein Lamento. Keine Diskussion. Das könnte doch sehr gut ein Anknüpfungspunkt für meinen Lebensfaden sein, denn wie im Traum habe ich bis heute das Erlebnis "Südamerika" im Kopf noch nicht zu Ende erlebt. Ich begreife immer noch nicht, dass fast ein Jahr seit meiner Rückkehr vergangen ist. Es fühlt sich wirklich an wie gestern oder wie letzte Woche. Es ist ja nichts Neues, dass Zeit schneller zu vergehen scheint, je mehr man zu tun hat oder je höher die Erlebnisdichte ist, aber wie intensiv muss mein traumatisches Krebsabenteuer bisher gewesen sein, dass ich heute ohne meine Aufzeichnungen nicht mehr in der Lage bin, mich präzise an Einzelheiten zu erinnern oder meine turbulenten Seelenzustände den objektiven Sachlagen korrekt zuzuordnen. Es sind schlichtweg zu viele Puzzlesteine, die ich zusammensetzen müsste, um einen vollständigen Rückblick zu erhalten. Und wie oft und wie detailliert möchte ich denn überhaupt zurückblicken? Da halte ich es doch lieber mit dem Buddhismus: "Verweile nicht in der Vergangenheit, konzentriere Dich auf den Moment." Also, Schuhe an und los! Heute ist Markttag!

Es sind nur zwanzig Minuten Fußweg. Bergauf, bergab, entlang der alten Linha 22, São Bento, vorbei am Café A Brasileira und dann rauf nach Bolhão. Seit dem letzten Jahr ist der renovierte Markt wieder geöffnet und in Benutzung. Ganz schön großes Gebäude und es sieht deshalb immer ein Bisschen einsam aus, trotz der ganzen Händler. Ordentlich nach Warengruppen aufgeteilt findet man hier richtig gute und leckere Spezialitäten. Das touristische Angebot hält sich in Grenzen und beschränkt sich auf die typischen, bunten Dosen mit eingelegten Sardinen und exklusive Schokoladenwaren. Ich lasse mich von den frischen Häppchen, den Petiscos, in der Fischhändlerecke begeistern. Das Angebot an Frischfisch und Meeresfrüchten ist sichtbar begrenzt und am Ende des Markttages ist auch alles ausverkauft. Ich war schon nachmittags hier und einige Händler schlossen bereits, weil eben alles verkauft war. Ohne Verifizierung soweit ein erfreulich vernünftiger Handel.
Für kleines Geld probiere ich an verschiedenen Ständen den ein oder andere mundgerechten Gaumenschmeichler, der Favorit sind ganz klar die kleinen Jakobsmuscheln, auf portugiesisch Vieiras frescas cruas. Sie liegen appetitlich angerichtet auf Eis und man sucht sich einfach für zweifünfzig eine aus. Wahlweise mit Tabasco oder Zitrone beträufeln und genießen. Ich mag sie lieber natur, das Dillsträußchen reicht mir als aromatischer Akzent.

Der Rückweg durch den Markt fällt mir schwer, ich muss vorbei an all den herrlichen Leckereien und bisweilen kuriosen Spezialitäten. Zum ersten Mal sehe ich eine "Stilton Port Infusion". Hier steckt man eine geöffnete Flasche Vintage Port kopfüber in einen ganzen Stiltonkäse und lässt ihn mehrere Tage so stehen. Für mich irgendwie zu dekadent, um es nachzumachen, aber kulinarisch reizen würde mich das ja schon. Ohne bei den Käse- und Süßwarenhändlern dem Kaufrausch zu verfallen, gelingt mir der Weg in die Obst- und Gemüsezone. Ein großer Beutel frische Apfelsinen und beste Mandarinen sind ein Muss, zumal die Preise für derart gute Ware unerklärlich gering sind.

So beladen begebe ich mich zum Ausgang und entdecke einen kleinen Altar an der kargen Wand. Ein eher trostloser Ort, verglichen mit dem maßlosen, klerikalen Pomp, der hier üblicherweise zur Würdigung den Heiligen zuteilwird. Die gewohnt kitschige Marienfigur schaut unter der Last von Perlen- und Goldketten etwas teilnahmslos auf den Betrachter herab und erfüllt irgendwie stoisch ihre Aufgabe als Schutzpatronin des Mercado. Aber warum gerade hier? Beten, dass die gekauften Waren auch frisch und gut sind, muss hier niemand. Oder ist es einfach nur die Geste religiöser Dankbarkeit oder des Gebets, dass dem Markt und seinen Menschen kein Ungemach widerfahre? Religiosität hin oder her, für mich unerheblich, das Ansinnen fürsorglicher Achtsamkeit an einem banalen Ort beindruckt mich. Exemplar modus cogitandi.

Solche und ähnliche Gedanken sind es, die mich unregelmäßig und unsortiert beschäftigen, wenn ich dem Kopf keine Vorgaben mache. Es sind die Gedanken, die Veränderung und Innovation schaffen. Und genau deshalb bin ich hier ins geliebte Porto gekommen, wo mich niemand stört und niemand ablenkt. Einfach in den Tag leben, alles zulassen und aufmerksam beobachten. Ich stelle mir Fragen, ich versuche Gedanken, ich finde Antworten. Am Morgen geht die Sonne auf, des Abends geht sie wieder unter. Lichtwechsel schaffen mir Sichtwechsel, ich muss mich nicht erklären, weil niemand mich verstehen muss. Nicht das Wie und nicht das Was. Und schon gar nicht das Warum. Denn solange mein Denken nach (Selbst)erkenntnis strebt, ist die Kausalität meiner Gedanken für andere Menschen ohnehin nicht nachvollziehbar. Sie ist im streng philosophischen Sinne alles andere als intelligibel. Heißt, ohne einen erklärten Willen und ohne die Fähigkeit zu einem dezidiert sinnlichen Konnex ist jeder fundierte Erklärungsversuch einer Kausalität zum Scheitern verurteilt. Gehirnwindungen wieder sortieren und normal weiteratmen! Nein, ich habe nichts geraucht, ich liebe Denkausflüge.

Nach einem kleinen Pastel und einem Espresso zur Auflockerung des Heimwegs wird aus dem so gedankenvollen Tag ein besonders klarer Abend. Der frische Salat, den ich mir zu Hause zum Abendbrot bereite, schmeckt hervorragend. Schließlich hat ihn die Schutzpatronin aus dem Mercado gesegnet. Abendbrot mit Panorama. Die Stützbögen des Mosteiro da Serra do Pilar leuchten wie vergoldet zu mir herüber. Es ist Abend in Porto. Es geht mir gut!

19.-21. Januar 2024 – Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert!

Gegen sieben Uhr früh wache ich auf. Erstes Tageslicht erhellt meine Wohnung und der zart orange Osthimmel kündigt den baldigen Sonnenaufgang an. Was für ein schöner Tagesanbruch! Und so früh! Ich hatte irgendetwas spannendes geträumt und darüber bin ich wohl wach geworden. Irgendetwas von Zeit und Vergänglichkeit, ein Thema, das mich tatsächlich seit Jahren zunehmend beschäftigt.

"Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert!" ist das Erste, was mir zu diesem Thema spontan einfällt. Dieses wunderbare Zitat aus "Warten auf Godot" strapaziere ich immer wieder gerne. Nicht nur weil es damals mein Theatertext als Wladimir alias Didi war, sondern weil es pläsierlich und unstrittig zugleich ist. Die Causa des raschen Zeitverfalls im Vergnügungsmodus habe ich freilich schon etwas weiter oben diskutiert, aber es ist nun mal auf vielfältige Weise täglich präsent. Von erquicklich bis angsteinflößend ist jede Spielart dabei, manchmal lache ich herzlich darüber, manchmal bin ich vom Schrecken gepackt und fühle mich zur Eile in meinem Handeln genötigt. In den vergangenen Tagen erlebe ich gleich beides. Wie paradox, dass es die vergängliche Zeit selbst ist, die mir dieser Tage uneingeschränkt zur Verfügung steht und mich gleichzeitig zur Effizienz im Verbrauch ermahnt.

Es ist Frühstückszeit. Immer dann, wenn Jonathan landet. Die letzten zwei Tage hat er sich etwas rar gemacht oder hatte wichtigeres zu tun, aber heute am Montag sitzt er wieder pünktlich auf dem Balkongeländer. Orangensaft und Müsli warten bereits auf meinem Tisch, der Kaffee dampft schon in der Tasse und das Ei ist jeden Moment fertig. Jonathan schaut mit leicht zurückgelegtem Kopf zu, als wolle er sagen, ich solle mir nicht die liebe Mühe machen, etwas Essbares rauszureichen oder etwa auf einem Teller Fischabfälle bereitzustellen. Er habe vor Stunden schon hervorragend gefrühstückt, jede weitere Mahlzeit vor Mittag sei unnötig und er bedanke sich recht schön. Aber schon im nächsten Moment richtet er seinen scharfen Blick präzise auf mein Ei, das ich mir soeben frisch abgeschreckt in einer zweckentfremdeten Espressotasse als Eierbecher hinstelle. Dann eröffne ich das Frühstück mit dem ersten Schluck heißem Kaffee. Die Sonne geht auf, so fangen schöne Tage an.

Mir fallen meine Gedanken von letzter Woche zum Thema "bergauf, bergab und glücklich sein" ein. Das wollte ich Jonathan doch noch erzählen und so frage ich ihn, wie er das sehe und ob der Wahrnehmungsunterschied bei Vögeln ähnlich sei zwischen dem anstrengenden Steigflug und einem entspannt, gleitenden Sinkflug. Er antwortet nicht, stürzt sich aber umgehend und wie gewohnt ohne Flügelschlag in die Tiefe, als wolle er mir damit demonstrieren, dass genau dieser perfektionierte, gleitende Sinkflug ihn glücklicher macht. Dann ist er verschwunden.

Und die Zeit vergeht und ich amüsiere mich täglich. Vormittagsspaziergänge bei Sonnenschein machen Sorgen kleiner und neutralisieren dunkle Gedanken. Die frische Luft vom Atlantik ist wohltuend, tief ein- und ausgeatmet reinigt sie das Innere vom ungesunden Staub des Lebens und klärt den Geist. Wie von unsichtbarer Hand geführt laufe ich viele der Miradouros ab. Ich liebe Panoramen und kenne sie fast alle hier in der Gegend. Was für ein tiefer, friedlicher Genuss, nur ins Weite zu schauen, ohne die Blicke zu lenken und was für ein Reichtum, seine Lebenszeit diesem Glück spendieren zu können. Solche Aussichten sind meine Einsichten. Sie beflügeln mich als den Betrachter von oben und sie erden mich als bedeutungslose Kreatur auf diesem Planeten. Zugleich veranschaulichen sie aber auch die Größe unserer Welt und ihre gleichzeitige Winzigkeit im Universum. Man schaue dazu nur leicht nach oben in den Himmel oder zu fortgeschrittener Stunde gar in den Sternenhimmel. Es ist das verwirrendste und spannendste Gefühl meines Lebens, insbesondere wenn es mir gelingt, in solchen Momenten wie diesem, ihm so nahe zu kommen. Ein Widerspruch? Nein, ich nenne es den "Universalen Dualismus", die "Kohärenz im scheinbaren Widerspruch". Oder wie meine Schwester als Kind in Ermangelung des Wortschatzes immer sagte, das Zitronengefühl.

Irgendwie beginnt dieser Tage auch der Schlussakt meines kleinen Winterintermezzos hier in Porto. Für mich bedeutet das, mich treiben zu lassen wie auf einem Jahrmarkt - oder "auf'e Kirmes", wie man im Dialekt meiner Geburtsstadt sagt. Schlendern von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft und von Zuckerbude zu Zuckerbude. Ein paar Glückslose hier und da - meist Nieten, einmal Autoscooter für 'ne Markfünfzig und zum guten Schluss ein altbackenes Lebkuchenherz mit aussagekräftigem Topping: Ich schenk' Dir mein Herz oder ähnlich geistreich.

Ganz so schlimm wie auf dem Rummel wird es hier glücklicherweise nicht, aber die Wegeindrücke sind zugegeben schon etwas ungeordnet. Die Konstante ist immer mein ausgiebiges Frühstück - mit oder ohne Jonathan, aber wie oft ich in diesen Tagen welche Straßen und Gassen durchschreite, zähle ich nicht, ich werde die Wege aber auch nie leid, sie sind schön, sie sind mein Porto. Vom Torre dos Clérigos erklingt zur vollen Stunde Beethovens Ode an die Freude, das Glockenspiel ist dermaßen verstimmt, dass es mich graust. Im Nachbarhaus hat es offensichtlich schon die Wäsche auf dem Trockengestell verdreht. Grauenhaft. 

Ich interessiere mich sogar für die Megabaustellen der "Nova Linha Rosa", insbesondere am São Bento. Dort nämlich gab es bei meinen letzten Besuchen noch den historischen U-Bahneingang. Mit Erschrecken muss ich erkennen, dass er zugeschüttet und verschwunden ist. Riesige Bohrbagger rammen hier Gründungspfähle in die Tiefe. Ich befürchte, dieses schöne Detail urbaner Architektur ist für immer verschwunden. Meine Kreise werden größer, bis es nördlich vom Jardim da Cordoaria etwas eintönig wird. Dann lieber noch einmal zur Brücke und mit dem Wassertaxi zurückschippern an die Cais. Was für herrliche Schlenderstunden im Sonnenschein! Es gibt Petiscos zum frühen Abendbrot. Unter anderem Kartoffelschalen. Ja, richtig, Kartoffelschalen! Frittierte Kartoffelschalen mit Knoblauchmayonnaise. Aber sowas von lecker, das hätte ich nicht erwartet. Merken! Abschließend der letzte Café und auf Wiedersehen, Cais da Ribeira!

Ich brauche noch Milch für morgen, für meinen Frühstückskaffee, die besorge ich bevor es dunkel wird am kleinen Heimatsupermarkt, oberhalb des Parque das Virtudes, gleich neben den Graffitis. Ich nutze die Gunst der Dämmerstunde, um mit den vielen jungen Leuten das allabendliche Sonnenuntergangstreffen zu begehen. Die Aussicht von hier oben nach Westen ist einfach toll und die vielen Kneipen im Hintergrund liefern Getränke zum mitgebrachten Picknick. Ach ja, Milch nicht vergessen, dann bummel ich zurück in meine eigene Panoramawohnung, um den letzten Abend mit Aussicht zu genießen.

Schnell noch den Koffer packen und ein wenig Geschichten schreiben für den Blog. Dabei nasche ich das letzte Gebäck aus der Keksdose und immer wieder schaue ich etwas verträumt in die klare Nacht mit den vielen Lichtern. Runter zum dunklen Douro, rüber zum strahlenden Mosteiro da Serra, zur Brücke und auf die Cais de Gaia. Diese Stadt hat mich schon längst verzaubert, ich denke an das Lebkuchenherz. Dou-vos o meu coração! Das klingt nicht so kitschig. Adeus, Porto! Bis ich wiederkomme.

 

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