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🇦🇷 Auszeit 2022 - Argentinien

1. Januar 2023 - Ein Wettrennen gegen den Wind beginnt

Es ist Neujahr und sechs Uhr morgens. Viel zu schnell ging die Ruhewoche in Ushuaia vorbei. Gerade habe ich mich an die beruhigende Aussicht auf die Bucht und auf die südlichste Inlandpassage, den Beagle-Kanal, gewöhnt, packe ich auch schon wieder meine jetzt sauberen Sachen und mache mich auf nach Norden. In den letzten Tagen hat mir die Wettervorhersage etwas Bauchschmerzen bereitet. Es sind sehr starke Winde für die erste Woche des Jahres angekündigt. Das Zentrum mit Windstärken von 8+ liegt morgen früh genau über meinem ersten Etappenziel, über Río Gallegos. Wenn ich dort nicht mehrere Tage festsitzen möchte, muss ich heute weiter als nach Río Gallegos kommen. Mit zwei Grenzen und einer Fähre auf dem Weg liegt der Erfolg nicht allein in meiner Hand.

Also fahre ich jetzt in aller Herrgottsfrühe los, volltanken und dann genieße ich die Windstille hier im Süden. Es ist kalt, ein paar Tropfen kommen vom Himmel, aber die Sonne setzt sich langsam durch. Heute sehe ich auch die schöne Landschaft, die bei der Anreise vor einer Woche völlig im Nebel lag. Die Straße windet sich durch die Täler der Bergketten, an Seen vorbei bis auf die Hochebene nach Río Grande. Jetzt wird es langsam windiger, aber noch nicht behindernd. Noch einmal nachtanken und über die Umfahrungsstraße Richtung Grenze bei San Sebastian. Die Zeremonie funktioniert dort recht zügig und ich kann flott weiter. Lange eintönige Straßen erlauben trotz Seitenwind eine schnelle Fahrt. Es sind kaum Lkw im Gegenverkehr unterwegs. Sie machen bei Seitenwind von links die größten Probleme. Der kurze Windschatten, in den sie mich eintauchen, zwingt mich jedes Mal zum Abbremsen, ansonsten geht der Schlenker erheblich in die Gegenspur. Allerdings darf ich auch nicht zu langsam sein, geschweige denn stehen bleiben, man riskiert dann schlichtweg im Windschatten umzufallen. Aber noch ist alles gut, ich komme zügig voran. Einmal noch rechts abbiegen, dann noch einmal eine Stunde geradeaus. In Bahía Azul steht bereits eine kleine Autoschlange vor dem Fähranleger, zwanzig Minuten später legen wir ab. Läuft!

Zum zweiten Mal überquere ich die Magellanstraße, nur geht es heute deutlich schneller mit der Strömung. Umso besser, ich kann jede halbe Stunde gebrauchen. Nun beginnt ein kleines Wettrennen, denn die meisten Fährgäste wollen zur Grenze Richtung Río Gallegos und wer hier als letzter ankommt hat alle anderen vor sich und muss elend lange warten. Zwar bin ich auf den ersten Kilometern beim Überholen klar im Vorteil und kann mich ganz nach vorne vorfahren. Allerdings geht nicht viel mehr als 120 km/h bei dem Wind, das wäre zu gefährlich wegen der Böen. Es reicht aber, ich bin in 20 Minuten mit beiden Seiten, der chilenischen und der argentinischen durch. Eigentlich dämlich, dass man für die lumpige Passage von 217 Kilometern zweimal die komplette Verzollung des Mopeds mitmachen muss. Nun ja.

Gegen 16:00 Uhr erreiche ich Río Gallegos. Geschafft. Gute Zeit! Ich tanke noch einmal nach und mache mich weiter auf nach Norden. Die Winde werden jetzt schon heftiger, ich muss mich sputen. Mehr als 80 km/h ist nicht mehr drin, ich fahre in permanenter Linkslage und mein Hals wird schon steif, da es sehr mühsam ist, den Kopf festzuhalten. Man glaubt gar nicht, was es für Windeffekte gibt. Kleine Leitplankenabschnitte von nicht mehr als 20 Metern verursachen dermaßene Turbulenzen, dass ich schonmal einen Meter rechts oder links zum Ausgleich brauche. Lkw sind nach wie vor kaum unterwegs, allerdings reichen mir die wenigen völlig. Ich komme dennoch gut voran. Alles was ich jetzt fahre ist mein Plus für morgen. Nach weiteren 230 Kilometern bin ich ziemlich fertig und brauche ein Nachtquartier. Ich halte an und werde beinahe umgeblasen. Unglaublich! Ich kann Bienchen kaum halten in den Böen und jetzt muss ich auch noch wenden, um in die Stadt zu fahren. Mit Mühe und Geschick klappt es. Fahren ist einfacher als Stehen. Comandante Luis Piedra Buena heißt das Kaff und ich finde tatsächlich ein nettes kleines Hotel. Glück gehabt. Ich bin froh, es heute soweit geschafft zu haben. Nach Wetterkarte hatte ich heute Spitzenwinde von 5 bis 6 Beaufort. In Río Gallegos ist ab heute Nacht bis 8 Beaufort angekündigt. An Fahren wäre dort morgen nicht zu denken gewesen. Es ist 19:00 Uhr und ich habe den nötigen Abstand zum Sturm herausgefahren (siehe Karte, das Kreuz ist mein Standort).

Die Abendsonne scheint, es ist herrlich warm. Eine Cervezería gibt es auch und ich freue mich auf’s verdiente Abendbrot, ein Bier und nach 829 Kilometern Windritt auf eine erholsame Nacht.

2. Januar 2023 - Windetappe die Zweite

Ich erwache und das erste, was ich höre, ist Wind. Die Sonne ist schon wieder aufgegangen, der Himmel ist strahlend blau und es ist trotz des Windes angenehm warm. Mein Motorrad ist flott gepackt, ich muss auch heute in den ersten zwei Stunden ordentlich Strecke machen, sonst holt mich der Wind von Süden ein. Kleines Kaffeefrühstück, kurz volltanken, dann geht es eigentlich genauso weiter wie es gestern aufgehört hat. Ich komme gut voran und nach 300 Kilometern lässt der Wind etwas nach und ich mache eine Tank- und Mittagspause. Zwei besorgte Brasilianer sind in Gegenrichtung unterwegs. Ich hab ihnen schonmal mein kleines Hotel empfohlen für die nächsten Nächte. Viel anderes wird ihnen vermutlich nicht übrig bleiben. Río Gallegos ist für Mopeds bereits nicht mehr ohne Gefahr erreichbar.

Der Rest der Fahrt ist bis Comodoro Rivadavia noch sehr windig, dann biege ich ab in westliche Richtung und es wird sehr angenehm im Gegenwind. Kein Geschlenker mehr, keine Windschatten mehr durch Lkw, einfach nur geradeaus bis nach Sarmiento. Auch das ist wieder 150 Kilometer weiter als das notwendige Minimum, um dem Wind zu entkommen.

Gleiches Procedere wie gestern, allerdings ist das Hotel nicht so nett und die Restaurants sind alle zu oder es gibt sie nicht. In einem versteckten Pub, den ich ohne Hilfe meiner Hotelrezeption nicht gefunden hätte, bestelle ich Spaghetti al Pesto. Nun, vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte den Pub doch nicht gefunden. Grausam ist keine Beschreibung, es ist schlimmer. Egal, nichts ist heute schlimmer als der Wind. Alles ist geschlossen hier, die Hunde erobern langsam wieder die abendliche Stadt und ich kaufe mir im Kiosk noch ein Bettbier, mehr passiert heute nicht mehr. Ich schlafe mich aus.

3. Januar 2023 - Endspurt mit Enttäuschung

Auf ein schlechtes Frühstück ist auch heute Verlass, auf geht’s zur letzten Windetappe. Nur die erste Stunde soll noch heftig werden, danach bin ich durch. Aber so einfach ist das nicht mit den Vorhersagen. Die ersten 30 Kilometer führen direkt am Lago Musters entlang, die westlichen Fallwinde aus den Bergen sind gnadenlos und fegen mich fast von der Straße. Der große See hat richtig Seegang und Wellen mit Gischt. Ich bin geradeaus noch nie so eine Schräglage gefahren. Mit 40 km/h eiere ich über die leere Ruta 26 und brauche meine ganze Spur. So komme ich da heute nicht durch. Wenn jetzt ein Lkw entgegenkommt, weiß ich nicht was passiert. Fahren? Stehenbleiben? Ich müsste mich in den Wind drehen, also quer auf der Fahrbahn stehenbleiben. Oder ganz schnell Seitenständer raus und Karre links abkippen. Oder, oder, oder... Es kommt kein Lkw, also fahren. Zwischen zwei Hügeln stehen schon die ersten Wohnwagen und warten auf ein Nachlassen des Windes. Ich versuche es noch ein wenig weiter und spekuliere auf den Knick der Route nach links. Noch zehn Kilometer durchhalten. Es klappt. Die Straße führt jetzt direkt nach Westen und ich habe Gegenwind. Gleichzeitig geht es in die Berge und die Täler geben etwas Schutz, sind allerdings noch ziemlich turbulent. Dann kommt mir der erste Lkw heute entgegen. Der Fahrer winkt mir zu, ich winke zurück. Geschafft. Ab hier kann ich es kurz machen, Der Wind wird tatsächlich weniger, ich erreiche die Ruta 40. Zwei Stunden Schlaglochslalom mit ein paar Schotterstückchen, aber was macht das? Ich bin unendlich froh, dass ich dem Wind entkommen bin.

Die letzten zwei Stunden werden noch richtig schön. Ich komme den Anden wieder näher und alles wird waldiger, die Straßen winden sich durch die Berge und die Sonne ist sommerlich warm. Um 15:00 Uhr erreiche ich mein Ziel, El Bolsón.

Dass El Bolsón ein begehrter Touriort ist, wusste ich ja und die Gegend hier ist wirklich wunderschön. Aber sagen wir es mal so: Das Kaff hat es hinter sich. Überfüllt, nur noch Touristenunterkünfte, Action-Veranstalter, Fressbuden, Tretboote auf dem Dorfteich, Autochaos, bunte Outdoor-Jünger und Preise, die an Wucher grenzen. Mit Mühe finde ich ein unscheinbares Hotel am Dorfrand und checke für drei Nächte ein. Bienchen darf unter dem Kirschbaum parken und ich brauche jetzt etwas Erholung. Wenigstens habe ich eine schöne Aussicht auf die Berge aus meinem Zimmerfenster. Allerdings weiß ich noch nicht so genau, wie ich mich hier in dem Rummel arrangieren soll. Eine ziemliche Enttäuschung.

Erst duschen, dann ein ausgedehntes Nickerchen und dann Sommersachen zum Dinner rausholen, es ist 29°C warm. Die erste Herausforderung beginnt. Ich möchte nach dem Tag in Ruhe ein leckeres Häppchen essen. Ein Mega-Hipp-Laden hat draußen einen DJ mit irgendwelchem Techno-Müll engagiert, der ungelogen zwei Straßen beschallt. Die lustigen, bunten und ideenreich völlig kaputttätowierten Hippsters brüllen sich mit Freude im Gespräch an oder fummeln selbstzufrieden auf ihren Handys rum. So, und genau hier sind nun vier Restaurants, die in dem Höllenlärm nicht nutzbar sind. Alle leer. Kurzum, ich lande in einem Touriladen am Tretbootteich, wenigstens ist dort etwas Ruhe zum Essen. Andere Alternativen gibt es nicht. Es soll reichen.

Ich muss noch einmal auf den Tattoo-Hype zurückkommen. Ja ja, das ist hier massiv angesagt. Leider habe ich aber kaum schöne Tattoos gesehen, nicht einmal viele sauber gestochene. Oft Texte und Namen bis hin zu Kitty-Kätzchen. Halbgesichtstattoos bei jungen Frauen im Abiturientinnenalter, wenigstens waren die blitzsauber gestochen. Nein, ich bin nicht unmodern oder verständnislos gegenüber einer jungen und sich ändernden Welt, ich sehe nur so erschreckend wenig Authentizität und fehlende Achtsamkeit mit sich selbst. Aber es ist nun mal die Freiheit der eigenen Entscheidung, sich was einzunadeln oder nochmal drüber nachzudenken, dass man vielleicht erst fünfundzwanzig oder jünger ist.

Während die Gipfel des Cerro Piltriquitron sich in rotes Abendlicht tauchen schlendere ich durch den Partylärm zu meinem Hotel und sitze noch etwas mit Bienchen im Garten am Kirschbaum. Gute Nacht.

4./5. Januar 2023 - El Bolsón, der Kirschbaum soll genügen

Nun über die Tage in El Bolsón gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe mich einfach nur abgelegt und ein paar organisatorische Dinge erledigt. Bienchen braucht ein fresh-up in Buenos Aires, das Gelbfieberthema in Brasilien gibt mir noch ein paar Aufgaben auf und ich muss mich langsam um einen groben Zeitplan für die Rückreise kümmern, die Flugpreise werden nicht billiger. Um Wandermöglichkeiten hier in El Bolsón habe ich mich auch gekümmert, die Entscheidung ist zu treffen zwischen ganz groß und ganz klein. Dazwischen ist nicht viel. Es gibt geschotterte Spazierwege zu ein paar nahegelegenen Aussichtspunkten, die aber auch mit Autos erreichbar sind, das dürfte wenig attraktiv sein. Die Bergtouren sind meist mehrtägig oder zumindest mit Anreise im Bus zu den Einstiegen in die Trails. Zu Fuß ist von hier aus eigentlich nichts zu erreichen. Ich belasse es bei dem ein oder anderen Besuch im Café Flores und beim Kirschbaum.

Irgendwie ist ein großer Teil der Erholung aus Ushuaia schon wieder aufgefressen von den drei Windritten und der fehlenden Beschaulichkeit hier in El Bolsón. Ich denke, ich muss einfach weiterfahren, schließlich ist die Landschaft hier ja wunderschön und das ist doch das Wichtigste auf Motorradreisen, deshalb fährt man doch.

Und dann gibt es noch eine kleine Überraschung, Christoph, ein Schweizer Biker, den ich Anfang Juli letzten Jahres in Ormana in der Türkei getroffen habe, ist seit gestern auch in Südamerika und wir kommen uns morgen entgegen.

6. Januar 2023 - Sieben Seen und ein Attentat in San Martín de los Andes

Nicht allzu spät beginnt der Tag und obwohl ich noch reichlich müde bin, mache ich mich auf Richtung Bariloche, es soll so schön sein dort. Christoph hat noch nicht geantwortet, wo in Bariloche sie untergebracht sind, schau’n wir mal. Schnell noch tanken und dann wird es schön. Landschaft mit blauem Himmel, Los Siete Lagos, alles wunderschön. Ich genieße die Fahrt, bleibe oft stehen und bewundere die Seen und die Berge am Horizont, Schön, wieder in den Anden zu sein. Sehr früh komme ich in Bariloche an und fahre ins Zentrum. Eine hässliche Begegnung. Straßendreck ohne Ende, hier ist lange nicht alles asphaltiert, es herrscht chaotischer Verkehr und irgendwie fehlt mir das Herz dieser Stadt. Nichts Einladendes, wo ich hätte mal Pause machen können auf einen Café. Nichts. Bleiben und auf Christoph warten ist zu wage, ich weiß nicht einmal, wann die beiden hier sind. Ich fahre ohne Pause weiter und kurz hinter der so hochgelobten Stadt, beginnt dann wieder wirklich schöne Gegend, auch wenn der Zustrom der Sommertouristen enorm ist. Es ist Hochsaison.

Es beginnt das Gebiet „Siete Lagos“, eine Seenlandschaft, die sich über einhundert Kilometer erstreckt und von der Ruta 40 bestens bewundert werden kann. In der Ferne sehe ich sogar den Volcán Puyehue in Chile, er ist nur dreißig Kilometer entfernt. Da war ich vor sieben Wochen. Wie die Zeit vergeht, wenn man sich so amüsiert. Am Lago Villarino treffe ich später noch einen ganz schrägen Biker, einen Koreaner, der sogar sein Surfbrett mitgenommen hat. Wir plaudern ein wenig, dann mache ich mich auf zum letzten Stück nach San Martín de los Andes, meinem Tagesziel. Lago Falkner, Lago Machónico und dann passiert es, zwei Motorradfahrer kommen mir entgegen, einer in heller Kombi und weißem Motorrad. Das muss Christoph sein. Wenden und hinterher. Nach ein paar Kilometern habe ich die beiden eingeholt und wir fahren rechts ran. Was für eine Freude. Da trifft man sich zufällig in der Türkei, irgendwo in Anatolien und jetzt hier in Patagonien. Herrlich. Der Plausch ist nicht sehr lang, die beiden haben noch einen ziemlichen Stiefel vor sich und für alle Geschichten brauchten wir mindestens einen Abend. Wir wünschen uns gute Fahrt und mal sehen, wo wir uns als nächstes treffen.

In San Martín angekommen finde ich recht schnell ein wirklich schönes, kleines Hotel und mache es mir gemütlich. Erst einmal den Staub wegduschen, dann suche ich mir ein nettes Café mit Terrasse und Ausblick auf die Flaniermeile des Dorfes. Ist zwar alles Touritheater, aber ich fühle mich wohl und genieße das bunte Leben. Von Wanderern bis Familien zu Fuß und von Hippiebussen bis Limousinen passiert hier alles vor meiner Terrasse. Kinder spielen bei 36°C auf dem Plaza im Wasser der Springbrunnen vor der etwas verwaisten Weihnachtsdeko, ein kurioses Bild für mich als Europäer.

Später im Hotel hat die Oma des Hauses Geburtstag und ich bin herzlich zu einem Stück Schokotorte eingeladen. Ich würde dieses selbstgemachte Konditorenwerk als Attentat bezeichnen, aber geschmeckt hat es schon. Es sollte klar sein, dass danach keine Aktivitäten mehr stattfinden und ich jetzt etwas Schlaf nachholen werde. Gute Nacht.

7. Januar 2023 - Pampa pur

Die nächsten drei Tage könnte ich eigentlich zusammenfassen: Tagestemperaturen von 37‑40°C, kaum Wind und 1450 Kilometer geradeaus durch die Pampa. Kurven werden zu Reiseerlebnissen, es gibt nicht viele. Die Heldin aller drei Tage heißt Bienchen, sie meistert ihren Job mit Bravour.

Alles beginnt heute am Samstag noch recht beschaulich, hier in der Provinz Río Negro. Flüsse winden sich durch Täler, hier und da sind kleine Seen zu entdecken, Kurven bringen Abwechslung in die Landschaftsansichten, es gefällt mir sehr und es macht Spaß zu fahren. Eine ganze Weile begleiten mich erst der Río Collón Curá auf der Ruta 234 und später der Río Limay auf der Ruta 237, dann verlieren sich die Wegeindrücke langsam in der Einöde der beginnenden Pampa. Und das bleibt dann auch bis zum Tagesziel so. Nach über vierhundert Kilometern erreiche ich die große Stadt Neuquén, die ich aber umfahre, denn ich übernachte in General Roca, was sich aber als äußerst schwierig herausstellt, da so ziemlich alles ausgebucht ist. Es ist Ferienzeit und die Reisenden aus Buenos Aires brauchen alle eine Übernachtung auf dem weiten Weg zu ihren Feriendomizilen in den Anden. Am Ende finde ich ein letztes Zimmer in dem Hotel, das ich schon bei Ankunft an der Durchgangsstraße entdeckt hatte. Hätte ich das mal gleich genommen, ich hätte mir über eine Stunde erfolglose Suche sparen können. Ich bin froh, dass ich nicht zurück in die größere Stadt muss und mache es mir den Rest des Tages gemütlich. Die Hitze tagsüber ist ziemlich kräftezehrend, weshalb der Abend auch nicht lang wird.

8. Januar 2023 - Ein Tanzfestival in einer ausgestorbenen Stadt

Der nächste Morgen beginnt früh, getankt habe ich ja gestern Abend schon. Also fuhr ich relativ früh los, denn noch ist es schön kühl. Ich bin allerdings schockiert, als ich auf mein Cockpit schaue, es zeigt 30°C. Und das um 9:30h und es ist nicht defekt. Es folgen über fünf Stunden blanke Pampa, durchsetzt mit ein paar Pausen, in denen man sich fragt, was machen die Menschen hier draußen in diesen Dreiseelendörfern? Es erinnert mich sehr an die einsamen Roadhouses in Australien, wo ich mir dieselbe Frage gestellt habe. In Carhué, meinem heutigen Ziel, habe ich Glück und finde auf Anhieb eine Unterkunft, nicht billig, aber keine Experimente, hier bleibe ich. Die Einrichtung ist für den Preis gelinde gesagt etwas dürftig. Ich würde sie positiv als gut erhaltenen und liebevoll gepflegten Sperrmüll beschreiben und die Krönung ist das Schlafzimmer, dessen Gestaltung unübersehbar die relative Nähe zum Amazonasregenwald, der grünen Hölle und der Heimat des Jaguars, repräsentiert. Ich glaube, darin werde ich später wilde Träume haben.

Das Städtchen selbst ist komplett ausgestorben, das Thermometer zeigt am Nachmittag immer noch 40°C, es ist nicht ein einziger Mensch auf der heißen Straße und die Läden sind allesamt geschlossen. Verständlich. Umso überraschter bin ich, als ich gegen Abend plötzlich Musik und viele Menschen höre. Ich gehe noch einmal raus, auch um die Kühle zu genießen, es ist schon dunkel. Und tatsächlich, auf dem Hauptplatz ist ein großes Tanzfest im Gange. Menschen schleppen Campingstühle durch die Gegend und sichern sich Plätze in der ersten Reihe. Eine Liveband spielt zum Tanze auf und schnell füllt sich das Parkett, oder besser gesagt der Betonboden, mit Tanzpaaren. Am Parrilla steht eine lange Schlange, um ein Stück des begehrten Asado abzubekommen und Kinder toben begeistert in der Miniausgabe einer Dracula-Hüpfburg. Es gefällt mir. Ein Salat in der benachbarten Cerveceria ist mein Dinner und dann ruft auch schon das Amazonas-Bett, morgen ist nochmal eine Pampa-Etappe angesagt, ich muss jetzt dringend schlafen. Und wild träumen!

9. Januar 2023 - La Pampa Teil III und Bockbier zum Wiedersehen

Schnell ist die Nacht vorbei und die ersten Sonnenstrahlen dieses Montags treiben mich aus meinem Amazonasbett. Tee statt Kaffee und jetzt auf die Straße nach Junín. Erste Hälfte wie immer: Pampa! Dann erreiche ich die Provinz Buenos Aires und es wir nach fast drei Tagen wieder etwas grüner. Rechts und links tauchen jetzt die gigantischen Fleischplantagen auf, auf denen die unsäglichen Mengen von Rindern gehalten werden, die die ungesunde Fleischgier all der Griller, Smoker, Fleischspießer und sonstigen Carnivoren der Welt stillen. Die schwarzen Rinder stehen bei 40°C in der prallen Sonne, das nennt man dann wohl Niedrigtemperaturgaren. Kein schönes Bild.

Eine letzte Pause, mein Wasservorrat ist aufgebraucht, es ist nicht mehr weit bis Junín, wo ich Nico, einen Freund meines Sohnes treffe, der 2016 zu Besuch in Berlin war und ein paar Tage bei uns zu Hause gastierte. Ein paar organisatorische Dinge muss ich auch erledigen, was in Junín einfacher ist als in der Riesenstadt Buenos Aires. Letzter Kreisverkehr, dann erreiche ich Junín. 

Der Weg durch die Schachbrettstadt ist einfach, die Verabredung klappt perfekt. Fede, Nicos Freund, der eigentlich Federico heißt, bringt mir den Wohnungsschlüssel, wir verquatschen uns etwas bevor mich die kalte Dusche erfrischt, von der ich 400 Kilometer lang geträumt habe. Dann kommt Nico nach Hause, was für eine Freude, sich nach so vielen Jahren wiederzusehen. Wir bringen noch schnell Bienchen in die wohlverdiente Garage, dort steht sie sicher im Schatten und jetzt folgt der schöne Teil des Abends. Zur Feier des Tages hat Nico besondere Biere besorgt, darunter auch Bockbier. Meine Wahl ist also klar, dann gibt es jede Menge zu erzählen und zu fragen, die wichtigen, schönen und besonderen Geschichten bitte zuerst! Ich liebe diese Wiedersehen, das ist wie mit einem großen Löffel die süßen Erdbeeren von der Torte des Lebens zu essen. Einfach wunderbar. Augustine und Fede kommen später dazu, es wird gekocht und wegen der Hitze erst spät aber großartig gegessen, dann mahnt die Uhrzeit den nötigen Schlaf an, schließlich ist kein Wochenende, Morgen ist Arbeitstag. Was für ein guter Tag, schlaft schön!

10. Januar 2023 - Einmal vergeblich, einmal zufällig und einmal mein Lieblingssommerrezept

Die drei Freunde müssen arbeiten, hier wird wegen der extremen Hitze morgens und abends gearbeitet, zwischendurch hält man sich möglichst bewegungsarm irgendwo im Schatten vor einem Ventilator oder einer Klimaanlage auf. Zunächst genieße ich die Ruhe, schlafe aus und mache mir erst einmal einen hervorragenden Kaffee. Nico ist Kaffeekenner und so kann man sich leicht vorstellen, was ein guter Arabica Espresso nach all den Entbehrungen der letzten Wochen und Monate für ein gelungener Start in den Tag ist. Draußen ist es schon morgens unerträglich heiß, so mache ich es mir gemütlich, schreibe und arbeite ein paar Filme auf und räume meinen ganzen Krempel um, denn warme Sachen werde ich voraussichtlich bis zum Ende der Reise kaum noch brauchen. Von Zeit zu Zeit kommt Dora die Katze herein schaut nach dem rechten, knabbert von der Hitze geplagt eher lustlos am Trockenfutter und verschwindet dann auch wieder in irgendeine kühlere Ecke.

Am frühen Nachmittag mache ich mich dann in der Affenhitze auf zum Centro de la Salud, ich brauche ja eine Gelbfieberimpfung, sonst komme ich nach einem Brasilienbesuch in bestimmte Länder nicht mehr rein. Vier Blocks Ost, dann zehn Blocks Nord. Ich schleiche an den Wänden im Schatten entlang, die Sonne scheint fast senkrecht von oben herunter. Doch leider ist der Weg vergeblich, denn trotz der Impfzusage, die Nico netterweise telefonisch für mich eingeholt hatte, ist die schlichte Antwort plötzlich: „No hay! Otra vez no hasta el 22 de enero.“ Das haben die doch auch schon vorgestern gewusst, oder? Nee, so lange kann ich nicht warten und wie schön wäre es, wenn Informationen vollständig gegeben würden. Kopfschüttelnd verlasse ich das Impfzentrum und mache mich auf den Rückweg.

Doch was wäre das Universum ohne Überraschungen. An einer Kreuzung finde ich zufällig eine Western Union Repräsentanz. Ich brauche ja noch argentinische Pesos. Probiere ich es doch einfach. Die Leute sind super nett und anscheinend haben sie sogar Bargeld verfügbar. Es scheitert aber am WLAN, denn ich muss die Anweisung aus Deutschland zunächst online machen, um hier Bargeld zu bekommen. Und WLAN gibt es im Büro leider kein öffentliches. Also raus und irgendwo in der komplett wegen Mittagshitze geschlossenen Stadt WLAN suchen. Die Bäckerei gegenüber hat die Jalousien halb herunter, aber die Tür ist geöffnet! Fragen! Die junge Frau wundert sich zwar über meinen Wunsch, begreift aber, was ich brauche. Sie macht mir einen Hotspot auf und ich kann Geld aus Deutschland senden. Es dauert keine Minute und die Bestätigung kommt per Mail. Ein herzliches Dankeschön und zurück nach gegenüber zu Western Union. Die ebenfalls sehr sympathische Dame am Counter fragt erst einmal überall herum, ob noch Geld da ist und dann scheint man alles mögliche zusammenzukratzen, um mich auszahlen zu können. Nein, ich möchte keine Unsummen abholen, nur äquivalent fünfhundert Euro für den Rest der Reise in Argentinien. In Buenos Aires beginnen die Hotelpreise schließlich erst bei dreißig Euro. Ich erhalte zwei Bündel Bargeld mit Gummibändern zusammengebunden, dann plaudern wir noch etwas und ich bin froh, nicht in irgendwelchen endlosen Schlangen stundenlang warten zu müssen, so wie in Ushuaia vor ein paar Wochen. Ich freu mich.

Einen Supermarkt finde ich ebenfalls noch. Sehr nützlich, denn heute Abend will ich etwas kochen und es fehlen noch ein paar Sachen. Tatsächlich finde ich fast alle notwendigen Zutaten, die ich brauche, statt Mozzarella nehme ich einen ähnlichen Käse, der sich später als eine kleine Delikatesse entpuppt. Jetzt auf dem kürzesten Wege nach Hause. Nach gut zehn Minuten habe ich es geschafft, es ist angenehm kühl in der Wohnung. Am frühen Abend nur noch zum benachbarten Weinladen einen frischen Weißen besorgen und zum Gemüsemann um die Ecke, Albahaca kaufen. Spricht man Letzteres nicht ganz präzise aus, bekommt man ein peruanisches Andenkamel, richtig ausgesprochen frisches Basilikum. Es gibt meine berühmten, warmen Sommernudeln, das ultimative Pastagericht für heiße Tage.

Hier mein Rezept: Frische Tomaten, reichlich Kapern, schwarze Oliven, Mozzarella, jede Menge frische Basilikumblätter und nicht zu knapp gutes Olivenöl in einer großen Schüssel zusammengeben. Etwas Pfeffer, kein Salz wegen der salzigen Kapern. Nudeln in Salzwasser al dente kochen, abgießen, etwas ausdampfen lassen und untermischen. Fertig! Einen leichten, richtig kalten Weißwein dazu. Buen tiempo de verano!

Heute sind wir zu dritt, Fede hat leider keine Zeit und der Abend wird sehr lang, es gibt soviel zu erzählen. Halb Spanisch, halb Englisch mit Weinbegleitung. Wie wunderbar ist es, Freunde in der Welt zu haben. Gute Nacht.

11. Januar 2023 - WHO Resolution 67.13 und die Lösung zur Rettung der Welt

Auch heute müssen die Freunde arbeiten und ich habe ja auch noch ein paar Aufgaben. Nach dem morgendlichen Cafécito mache ich mich an die Recherche zur notwendigen Gelbfieberimpfung. Die Menge der Informationen ist erschlagend, Quellen sortieren, sorgfältig lesen. Texte ins Deutsche übersetzen usw. Dann stoße ich auf einen Hinweis des argentinischen Gesundheitsministeriums, dass es keine Impfempfehlung mehr gibt für eine Zweit- oder Auffrischungsimpfung. Quelle ist die WHO. Also dort weiterforschen. Es wird immer spannender. Ich hab’s, die Resolution WHA67.13 besagt: "(...) a single dose of yellow fever vaccine is sufficient to confer sustained immunity and life-long protection against yellow fever disease, and (…) a booster dose of yellow fever vaccine is not needed."

Perfekt! Dann ist meine Immunisierung von 1984 also doch noch wirksam. Ich habe es damals schon behauptet, dass es Unsinn ist, alle zehn Jahre aufzufrischen. Aber ich konnte es natürlich genauso wenig beweisen wie die Immunologen seinerzeit das Gegenteil. Alles runterladen und vorzeigefähig machen, wer weiß, welchen Hinterweltlern ich an den Grenzen noch begegnen werde. Ich bin froh, denn auf eine erneute Dosis des Cocktails habe ich überhaupt keine Lust. Wieder ein Job weniger.

Jetzt noch die Motorradwerkstatt in Montevideo anschreiben und eine Bleibe in Buenos Aires klarmachen. Nico hilft mir bei beidem. Ich bekomme gute Tipps für Buenos Aires. Schöne Viertel und No-go-areas und meine spanische Mail an die Werkstatt hört sich jetzt auch seriöser an. Hotel buchen, Mail senden, auch fertig. Läuft!

Der Nachmittag vergeht entspannt, ich gehe noch Getränke kaufen und Nico setzt einen Teig für Pizza [span.: ˈpitsa] an. Dann kommen Augustine und Fede dazu und wir reden, wir backen, wir essen und wir trinken guten argentinischen Wein. Kein Fernseher, kein Radio und außer als Übersetzungshilfe kein Handygedaddel. Es macht mich sehr glücklich, dass es so etwas noch gibt. Es ist eine komplette Generation Abstand zwischen uns, von der ich nichts spüre. Weder Koketterie mit meiner relinquenten Jugend, noch Schmeichelei mit der Reife der Endzwanziger sind dabei mein Ansinnen. Etwas viel Wichtigeres ist der Grund: Die Bereitschaft zuzuhören und das Fehlen von Vorurteilen gegenüber der anderen Generation. Und wie das immer so ist bei derart leidenschaftlichen Gesprächen, kommen wir schnell zu den essentiellen Themen, die die Welt bewegen. Es ist schon fast eine Gesetzmäßigkeit, die sich in über vierzig Jahren reisen in unzähligen Konversationen bewiesen hat: Gute und intelligente Menschen suchen in schwierigen Zeiten stets nach Lösungen. Dumme suchen nach Schuldigen. So reden wir u.a. über das Dilemma der Korruption nicht nur in Argentinien und die Rechtstendenz nicht nur in Deutschland. Wir stellen Fragen nach dem Warum der aktuellen Gewalt in der Ukraine, in Brasilien und in der Welt, der Freigabe von Kindern gegen Geld als Probanden für die Pharmaindustrie in Paraguay und die Parallelen der mangelhaften Geschichtsaufarbeitung in Deutschland und in Argentinien. Nach Analyse, Verifizierung, Evaluierung und Priorisierung kommen wir zur Lösungsfindung. Eine vergleichsweise leichte Aufgabe, denn es wird auch sprachlich einfacher, da tatsächlich viele gleiche oder ähnliche Worte in allen verwendeten Sprachen existieren:

Atención, respeto, tolerancia, libertad de expresión, democracia, pluralismo, factos, orientación objetiva, libertad de prensa, educación, distribución de la riqueza, gratitud, pudor...

Mindfulness, respect, tolerance, freedom of expression, democracy, pluralism, facts, objective orientation, freedom of the press, education, distribution of wealth, gratitude, modesty...

Achtsamkeit, Respekt, Toleranz, Meinungsfreiheit, Demokratie, Pluralismus, Fakten, Sachorientierung, Pressefreiheit, Bildung, Verteilung des Reichtums, Dankbarkeit, Bescheidenheit...

Und die Lösung zur Rettung der Welt ist: Pizza essen, guten Wein trinken, miteinander reden und im Sinne der o.g. Grundwerte handeln. Jeder für sich und sofort und nicht zuerst die anderen. Dann dürfte es etwa ab nächster Woche spürbar bergauf gehen mit unserem Planeten... Ich meine das absolut ernst!

So wird es recht schnell tiefe Nacht und wir gehen alsbald ins Bett. Was für ein schöner, besonderer und wertvoller Tag auf meiner Reise.

12. Januar 2023 - Buenos Aires - Stadt der Porteños

Der letzte kurze Sprung nach Buenos Aires steht auf meinem heutigen Plan. Es sind knapp 250 Kilometer, also keine große Sache, zumal es nicht ganz so heiß werden soll. Letzter Cafécito mit Nico, die anderen sind alle schon arbeiten, kurzer Abschied mit Foto und der Absichtserklärung, sich irgendwann auf dieser Welt wiederzutreffen. Dann verlasse ich nach tollen drei Tagen Junín.

Der Weg gibt nicht viel her, es geht zwei Stunden geradeaus durch die Pampa, wie üblich rechts und links gesäumt von frustrierenden Fleischgärten, dessen Ernte einen großen Teil des deutschen Luxusfleischbedarfs deckt. Dann beginnt allmählich der Speckgürtel von Buenos Aires. Mehrspurige Straßen, die sich mehr und mehr füllen, führen mich erfreulicherweise stressfrei in die Metropole. An irgendeinem Autobahnknoten versagt meine Navigation und ich biege falsch ab. Nun ja, ungeplante Stadtrundfahrt nach Kompass bis ich wieder auf der Route nach San Telmo bin. San Telmo ist ein schönes Viertel mit sehr viel Kultur und Straßenleben, das Nico mir als Standort empfohlen hat. Alte kleine Straßen mit teils historischem Kopfsteinpflaster, alte Häuser, Kneipen, Restaurants und Musik und dann bin ich auch schon an meinem kleinen Hostal, wo man mich bereits erwartet. Nicht nur der Inhaber, sondern auch all die Maradonas und Messis, die als Figuren hier herumstehen und als Gemälde von den Fassaden prangen. Herzlich Willkommen in der Stadt der Porteños.

Porteño bedeutet soviel wie „Bewohner der Hafenstadt“, eine alte Bezeichnung der europäischen Einwanderer in Argentinien für sich selbst, mit der man sich unter anderem von den restlichen Bewohnern des Landes abgrenzen wollte, die größtenteils nicht europäischer Herkunft sind wie z.B. Indios, Mestizen oder Kreolen. Ein berühmtes Zitat von Mempo Giardinelli, einem argentinischen Schriftsteller und Verleger, besagt: „Ein Porteño ist ein entwurzelter Italiener, der spanisch spricht, sich französisch benimmt und wünscht, er wäre Engländer.“

Eine erfrischende Limonade wird mir als Begrüßung gereicht, dann flott einchecken und Bienchen parken wir etwas später wenn sie abgekühlt ist, denn sie soll sicher und gemütlich im Foyer und Gemeinschaftsraum des Hostals abgestellt werden. Der Hotelparkplatz ist zwar in der Nähe, aber der hat kein Dach und das wolle El Jefe Bienchen nicht antun. Unglaublich. Kurz geduscht, dann wie gesagt mein Motorrad ins Hotel schieben und planlos auf ins Getümmel bei 30°C.

13.-15. Januar 2023 - Mafalda, Mercado und Messi und eine Tango tanzende Brücke

Buenos Aires hat selbstverständlich sehr viel mehr zu bieten als den winzigen Ausschnitt, den ich in vier Tagen erleben darf. Ein erster Weg führt mich mehr zufällig in den Mercado de San Telmo und zufällig habe ich auch Hunger, das trifft sich prima. Ein richtig schöner Markt, der zwar mittlerweile sehr touristisch ausgerichtet ist, aber das bunte Treiben wird mindestens genauso gerne von den Anwohnern San Telmos angenommen. Wie immer bei einem derart üppigen Angebot an Delikatessen, Naschereien, Speisen und Getränken fällt die Entscheidung schwer, denn man hat nur einen Wunsch frei, anschließend ist man satt. Ich wähle die Variante, erst einmal mehrere Runden zu drehen, mir alles - auch Nichtessbares - anzusehen und mich dann erst an einem der Stände niederzulassen. Irgendwann sind es der olfaktorischen Reize zu viele und dem wachsenden gustatorischen Verlangen kann ich nicht mehr widerstehen. Die Wahl fällt auf eine Chorizobar, was aber auch an der guten Musik liegen kann. Es läuft Patti Smith in ihren besten Zeiten. Zum Bocadillo gibt es noch eine selbstgemachte scharfe Salsa erster Güte und eine Pinta de Rubia. Und erwartungsgemäß bin ich anschließend satt.

Einen Ausflug nach La Boca habe ich mir fest vorgenommen, ich mag bunte Stadtviertel und am liebsten mit netter, kulinarischer Infrastruktur. Ersteres habe ich in La Boca gefunden, richtig hübsch, was hier entstanden ist. Die poppigen Anstriche der Häuser passen im ganzen Viertel sogar in ihrem Farbschema zusammen. Allerdings ist es hier dermaßen überlaufen, dass all die hübschen Cafés und Restaurants zu touristischen Fressbuden verkommen sind und durch ihr massenhaftes und aufdringliches Auftreten den Stadtteil längst seiner einstigen Beschaulichkeit beraubt haben. Es ist nicht mal mehr möglich, die Harmonie von gewachsener Architektur und kreativer Farbgestaltung in ihrer Reinheit zu fotografieren. Abgesehen von der egozentrischen Selfiefraktion, die hier mittlerweile Geld bezahlt für die Nutzung des prominentesten Fotospots, stehen an jeder Ecke irgendwelche Ständer, Regale und Tische mit Tourischrott und unübersehbar verunstalten vielerorts lebensgroße Plastik-Messis oder Aufblas-Maradonas jedes Fotomotiv. Schön dagegen ist der Balkon, von dem Juan und Eva Perón herabwinken, leider auch hier wieder in überflüssiger fußballerischer Gesellschaft, obwohl Evita und Maradona zu keiner Zeit gleichzeitig gelebt haben. Nun ja.

Musikalisch entlehnt aus Italien, Polen, Lateinamerika und Afrika. Sein Name hat spanische Wurzeln, seine Stilrichtungen heißen Milonga, Vals oder Candombe. Voll von Corazón und Melancholie wird er auf Straßen, in Bars und auf der ganz großen Bühne getanzt. Der Tango. Er ist argentinischer (und uruguayischer) Exportschlager, der es bis in die zeitgenössische Musik geschafft hat und für immer und untrennbar mit der Region am Río de la Plata verbunden sein wird. Und tatsächlich treffe ich an so vielen Orten auf Menschen, die (nicht nur) Tango tanzen. Am Wochenende sind Ferias de la Ciudad, ein riesiges Straßenfest in San Telmo mit Flohmarkt und musikalischen Veranstaltungen in den Kneipen und Restaurants. Ein herrlicher, bunter Tag, auch wenn über 30°C für einen Europäer wenig motivierend für Tango oder Samba in der Sonne sind. Eine wahre Freude, dabei zu sein.

Doch das ist noch nicht alles, es gibt sogar eine Drehbrücke, die den Tango als Motiv hat. Und das ist keine geringere als die „Puente de la mujer“, ein Wahrzeichen Buenos Aires‘. Ihr Name nimmt Bezug auf das Stadtviertel Puerto Madeira, das mit seinen Straßennamen berühmte Frauen würdigt. Ihre Architektur symbolisiert mit der Trägernadel den Mann und mit dem Brückenbogen die Frau eines Tango tanzenden Paares.

Doch was wäre San Telmo ohne den Comic-Zeichner Quino und ohne sein Stammcafé la poesía? Ohne seine Schöpfungskraft und seine Kreativität. Seine berühmteste „Heldin“ Mafalda ist heute eine Identifikationsfigur für ganze Generationen. Quino legte seine Gesellschaftskritik einer kindlichen Figur in den Mund, mit all ihrer kindlichen und reinen Naivität, aber mit einer großen oft philosophischen Tiefe der Gedanken. Kein Wunder, dass er in den Zeiten der Diktatur aus dem Land fliehen musste und erst nach Rückkehr zur Demokratie in Argentinien weiterarbeiten konnte. Der Künstler Pablo Irrgang schuf später lebensgroße Figuren der Comic-Protagonisten, die überall in San Telmo, dem Wohn- und Schaffensort von Quino und zu seinen Ehren aufgestellt wurden und sich sehr großer Beliebtheit erfreuen. Es sind wunderbare, amüsante und oft überraschende Begegnungen, wenn man im Viertel unterwegs ist.

So vergehen die Tage in San Telmo schnell und mit vielen Eindrücken, viel Zeit verbringe ich in Straßencafés bei kühlen Getränken und lasse die Menschen einfach an mir vorbeiziehen. Die gesammelten Eindrücke allein aus diesen vier Tagen sind derart viele und so unterschiedlicher Natur, dass es nicht möglich ist, sie alle hier niederzuschreiben und es wird noch eine Weile brauchen, bis ich sie selbst sortiert und verinnerlicht habe. Buenos Aires ist eine Stadt, von der ich vorher nicht viel wusste und die mich mehr als überzeugt hat, dass sie zu den besonderen Städten dieser Welt gehört. ¡Gracias, ustedes Porteños!

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