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Auszeit 2022 - Die Kaukasusreise

Etappe 1: Vorbereitungen und der Westbalkan

Im April 2022 - Die Vorbereitung...

Eigentlich ist die Kapitelüberschrift nicht richtig, denn eine ernst zu nehmende Vorbereitung gibt es gar nicht. Ich war nie weniger vorbereitet auf das Reisen als dieses Mal. Und dann auch noch auf eine so lange Reise. Ein ganzes Jahr soll sie erst einmal dauern. Präziser formuliert müsste ich sagen, ich gebe mir ein Jahr Zeit, um mich neu zu positionieren und zu orientieren. Wenn ich gefragt werde - und das passiert oft - was ich vorhabe, wohin ich denn als erstes aufbrechen werde und was meine Pläne seien, dann antworte ich wahrheitsgemäß: „Ich weiß es nicht! Entscheidend ist, aus welcher Richtung am Tage des Aufbruchs der Wind weht."

Es ist Ende April und die Sonne sendet genug Energie für den Frühling, für den Aufbruch in den nächsten Lebenszyklus der Natur. Sie erhellt nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Gemüter. Sie spendet Kraft und Zuversicht. Sie vermittelt das Gefühl der Stetigkeit der Jahreszeiten und schürt den trügerischen Glauben, es werde schon gutgehen mit der Welt und so... Ich gestatte mir diesen Selbstbetrug und so stehe ich in diesen Tagen öfter auf meinem Balkon als sonst und lasse bei Sonnenschein meine Blicke vom Teutoburger Wald hinunter in das wohlbekannte Panorama und die liebgewonnene Landschaft schweifen. Das alles soll in Kürze nicht mehr mein zu Hause sein. Der Gedanke ist schmerzhaft, aber der Reiz der Veränderung ist stärker. Die Neugier ist unbändig.

Soviel zu den allgemeinen Umständen, faktisch bewirken in den letzten Wochen kleine Fortschritte große Gefühle. Meine Wohnung leert sich zusehends, so viele Dinge habe ich verkauft oder einfach verschenkt oder entsorgt, die ich noch vor wenigen Monaten als untrennbar von mir wahrgenommen hätte. So waren es ungefähr dreitausend Lichtbilder, die infinitesimal kleine Momente meiner halben Lebensgeschichte aneinanderreihten und sie so chronologisch dokumentierten. Hunderte von handschriftlichen Korrespondenzen mehr oder weniger geliebter Menschen aus aller Welt, die wohlsortiert in Schubladen gelagert waren und Rückblicke in unendlich viele vergangene Lebensmomente gaben, erfreuten sich nunmehr einer finalen und manchmal hochemotionalen Lektüre und nahmen dann ihren letzten Weg in den Reißwolf. Kistenweise Kunstbände und Bücher aller literarischen Genres verschenkte ich an eine alte Schulkameradin und überaus würdige Empfängerin. Bemerkenswert war auch der Verkauf meiner kondensierten Musiksammlung. Ein werter Freund empörte sich darüber im ernsten Imperativ, so etwas verkaufe man nicht! Danach erwog ich tatsächlich, den Verkauf auszusetzen, da ich die Ermahnung des Freundes sehr ernst nahm und nachdenklich wurde. Am Ende veräußerte ich aber doch alles und es geschah etwas Unerwartetes: Der Käufer entpuppte sich als eine Art seelenverwandter Zeitgenosse. Er hatte das gleiche Alter wie ich, wurde dort geboren, wo ich auch geboren bin, ist ebenda aufgewachsen, hatte die gleichen musikalischen Epochen mit derselben Leidenschaft wie ich miterlebt und wir waren tatsächlich an denselben Tagen auf denselben Konzerten. Unsere Lebenswege glichen sich zumindest musikalisch auf bemerkenswerte Weise und irgendwie hatte das Universum mit dieser Begegnung geantwortet. Ich habe meine Musiksammlung dann auch gefühlt nicht verkauft, sondern sie ihrer neuen Bestimmung übergeben.

Freitag, 29. April 2022 - Der letzte Arbeitstag

Heute war mein letzter offizieller Arbeitstag. Die Erben meiner Projekte sind arbeitsfähig, es ist abgeschlossen, was abzuschließen ging, alles sortiert, gespeichert und aufgeräumt. System shut down. Verabschiedet, dankbar gute Wünsche und gutes Gelingen von Kunden und Kollegen entgegengenommen und am Vormittag meinen nagelneuen Dienstwagen im Headquarter abgegeben. Der anschließende Rückweg mit der Bahn klappte zwar nicht so gut, aber ich nutzte die Zeit, um aus dem Fenster in den warmen Frühling zu schauen und mir zu vergegenwärtigen, dass in diesem Moment etwas neues beginnt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Zelte für längere Zeit abbreche. Ich kenne dieses besondere Mischgefühl aus ungeduldiger Neugier und Verunsicherung durch das Unbekannte, dennoch ist es immer wieder aufs Neue spannend und dieses Gefühl nutzt sich erstaunlicherweise nicht ab. Jedenfalls nicht, wenn man es bewusst und achtsam auf sich wirken lässt.

Der Überlandbus bringt mich vorbei an leuchtenden Rapsfeldern vom entfernten Bahnhof zurück in mein Dorf. Auf diesem Wege bin ich noch nie hier angekommen. Kurzer Fußweg durch die mittelalterliche Altstadt, alles wie immer, alles anders. Nicht mehr besonders einladend, aber wohlwollend empfängt mich meine sonnendurchflutete, fast leere Wohnung. Noch ein paar Tage, dann ist auch sie aus meinem Alltag verschwunden und andere Menschen werden hier leben. Eins nach dem anderen. Eine große Runde über den Südhangweg durch meinen Hauswald sortiert meine Gedankenflut und die Gefühlskirmes fürs Erste. Dabei beließ ich es dann auch für heute und wünsche mir ein geruhsames Wochenende.

Freitag, 13. Mai - Glückstag? Ja, Glückstag!

Da denkt man, der letzte Arbeitstag ist doch erledigt, alle Projektübergaben sind doch gemacht und man hat doch das Laptop zugeklappt und Schluss. Aber weit gefehlt. So nahtlos geht die Abschaltung der Gewohnheit dann doch nicht. Sämtliche vorbereitende Arbeiten für die längere Reise, und seien es nur die notwendigsten, sind irgendwie völlig hinten heruntergefallen. Nicht einmal ein erstes klares Ziel konnte sich etablieren. Die Wohnung steht noch voll mit Inventarresten, die alle in Kisten müssen und diese Kisten müssen noch eingelagert werden. Aus geschätzten acht Kisten wurden am Ende einundzwanzig, Gott sei Dank sind keine großen Möbel mehr dabei. Wohnungsabnahme, ummelden, Adressänderungen, Garage leer machen, putzen, Motorrad ummelden, Zahnarzt. Woche voll! 

Mittlerweile habe ich Quartier bei meiner Schwester im Landhaus bezogen und plane am Wochenende tatsächlich loszufahren. Aber wohin? Die Idee ist es, zunächst einen Ort zu erreichen, an dem ich wirklich runterkomme. Der mir Ruhe und Gefallen bietet, die Tage wieder genießen zu können. Es war schwer genug, in den letzten Monaten von der Überholspur auf die Ausfahrt zu wechseln. Die erste habe ich ja schon verpasst, die nächste muss sitzen! Und da heißt es jetzt bremsen! Auch die Renovierung dieser meiner Internetseite war ein großer Brocken, den ich vor der Abreise noch habe fertigstellen wollen.

Und heute ist Freitag der 13. und meine neue Homepage ist soweit fertig, dass ich live gehen kann. Ein Glückstag! Und morgen werde ich packen und Sonntag werde ich losfahren. Wohin? Das weiß ich noch nicht. Ich bin gespannt, woher Sonntag der Wind weht.

Sonntag, 15. Mai 2022 - Der Wind weht Richtung Balkan

Heute ist der Tag, an dem die Segel gesetzt werden. Es ist sieben Uhr in der Früh und die ersten warmen Sonnenstrahlen gesellen sich zu meinem starken Kaffee. Die Luft ist noch frisch und die milden Düfte des frühen Sommers mischen sich mit dem Aroma, das meiner Kaffeetasse entsteigt. Das Motorrad ist gepackt, mein Nachtlager der letzten Woche ist aufgeräumt und ich hoffe, dass ich nichts Essentielles vergessen habe. Tatsächlich hat es sich gestern Nachmittag entschieden, dass ich bei der ursprünglichen Idee bleibe, Richtung Balkan zu fahren. Irgendwie möchte ich meiner hartnäckigen Unschlüssigkeit der letzten Monate langsam ein Ende machen und denke, dass ein Festhalten an meinem ersten Plan die richtige Strategie dafür ist. Ein kurzer herzlicher Abschied von Schwester, Schwager, Eseln, Hund und Katzen (ja, das ist so etwas Ähnliches wie Zoo!) und dann liegt die erste große Etappe vor mir. Tagesziel ist Bayern, mal sehen wie weit ich komme. Je weiter, desto besser.

Das Navi ist wegen der Ankunftszeit proforma auf Chiemsee eingestellt, nach 22 Jahren Geschäftsreisen auf deutschen Autobahnen brauche ich keine Karte mehr. Ich kenne jeden Kilometer. Stau gab es fast keinen, es ist Sonntag und die Sonne stimmt das Gemüt fröhlich. Das ist auch nötig, die genaue Autobahnfolge ist A30-A33-A44-A7-A3-A6-A9-A99-A8, das macht zusammen siebenhundertundzwölf Kilometer und das Ziel ist Bad Aibling geworden. Ein richtiges Highlight gab's nicht unterwegs und so kehrte ich in meinen netten Gasthof ein, den ich mir bei der letzten Rast ausgesucht hatte. Schon am Eingang empfing mich ein Schild: Motorradfreundliches Hotel. Und tatsächlich, der Wirt bot mir sogleich die Garage für mein Motorrad an, die nette Dame an der Rezeption machte es kurz, sie ahnte, dass ich mir nichts mehr wünschte als zu duschen, zu essen und zu schlafen. Genau in der Reihenfolge sollte der Abend auch verlaufen. Duschen ging schnell und dann kam es doch noch. Das Highlight des Tages: Obazda mit Brez'n und oa Weißbier. Oh, mein schönes Bayernland, die Gastronomie ist unschlagbar und ich freu mich, mal wieder hier zu sein! Satt und zufrieden gehe ich jetzt schlafen und freue mich auf morgen.

Montag, 16. Mai 2022 - Immer noch Anreise und Bikerharmonie

Der nächste Morgen kommt schnell, ein gutes bayerisches Frühstück und auf nach Slowenien. Im Wesentlichen führt meine Route über die Autobahn, die ersten 48 Stunden werden ohne Biker-Schnörkel unter Anreise verbucht. Das macht zwar die Reifen eckig, aber die bekomme ich später auch wieder rund. Die Alpen bleiben schnell hinter mir, kostenpflichtig durch den Tauerntunnel und etwas später dann durch den Karawankentunnel, der die Österreichpassage abschließt. Die Berge werden wieder flacher, dafür aber grüner und die Sonne ist schon richtig kräftig, wodurch ich mich veranlasst sehe, meine Jacke während der Fahrt zu öffnen. Ich verlasse die Autobahn bei Kranj und schlage mich über winzige Straßen durch bis nach Postojna, meinem Tagesziel. Das Eco-Hotel in der Stadt ist prima und das erste Bier nehme ich in der Sonne mit einer deutsch-österreichischen Bikergemeinschaft im Vorruhestand ein. Das Angebot, zusammen essen zu gehen, lehne ich natürlich nicht ab, ich mag spontane Bekanntschaften und die vier sind sehr lustige Weggefährten. Es mischen sich im weiteren Verlauf des Abends dann viele Biere mit trockenem Rheinischen Humor und detaillastigen Wiener Alltagsgeschichten und für den nächsten Tag steht schnell die gemeinsame Erkundung der Höhle von Postojna auf dem Programm. Eine geruhsame Nacht vollendet den schönen Tag, ich freue mich auf morgen.

Dienstag, 17. Mai 2022 - Endlich Postojna Höhle

Die Chronologie der trivialen Ereignisse wie Aufstehen, Frühstück und Organisatorisches lasse ich heute mal weg, das hat alles geklappt. Es geht heute um ein Buch. Irgendwann Anfang der 1970er bekam ich einen Bildband geschenkt mit dem Titel "Alle Wunder dieser Erde". Darin beschrieben waren "Weltwunder" aller Kontinente von der Antike bis zur Gegenwart. Nein, dieses Buch war kein alter Wein in neuen Schläuchen, es war neu, innovativ und erkenntnisreich. So blätterte ich voller Ehrfurcht und Bewunderung abends oft durch die großformatigen Hochglanzseiten und dachte mir, so fern sind mir all diese Orte und so unerreichbar die Kontinente, wohin ich hätte reisen müssen, um diese Wunder selbst zu sehen. Und eines dieser Wunder im europäischen Teil dieses Buches waren die Höhlen von Postojna. Nach heutigem Maßstab illustrierten schlechte Fotos den dürftigen Text und dennoch wirkten diese Höhlen von Postojna wie ein Magnet auf mich. Geheimnisvoll, imposant und surreal. Zu der Zeit waren es noch die größten begehbaren Höhlen der Welt. Und ich versprach mir, wenn ich eines Tages eine Reise tue, dann in die Höhlen von Postojna! Heute bin ich hier.

Die gigantischen Parkplätze vor dem Eingang der Postojnska jama sind tatsächlich leer. Die Souvenirindustrie im Annäherungsbereich des Höhleneingangs befindet sich gleichsam im Dornröschenschlaf und die für den Massentourismus ausgelegten Kassen wirken hoffnungslos überdimensioniert. Es ist Nebensaison. In großen Lettern prangen über dem Eingang zur Höhle die lateinischen Worte "Immensum ad antrum aditus", auf Deutsch: Der riesige Eingang zur Höhle. Die wenigen Besucher werden extrem freundlich nach Landessprache sortiert und entspannt in kleine, lange Züge verladen, die nur halbvoll ohne große Wartezeiten aus den modernen Grottenbahnhöfen in die Tiefe der Höhlen abreisen. Fast vier Kilometer weit führen die Gleise in den Berg und mit jeder Biegung wird man ein kleines bisschen mehrt verzaubert. Um es mit den Worten des Entdeckers zu sagen: "Hier ist eine neue Welt, hier ist das Paradies!" (Luka Čeč)

Die mit klarer Stimme von der sympathischen Höhlenführerin vermittelten Informationen finden keinen Zugang mehr in meine kognitiven Gehirnbereiche, ich lasse nur noch Größe, Formen und Farben der Jahrtausende alten Tropfsteingebilde auf mich wirken. Man nennt sie Stalaktiten, Stalakmiten, Kaskaden, Säulen oder Vorhänge. Ja, all dies begeistert mich. Die geschickt beleuchteten geologischen Meisterwerke sind mehr als eindrucksvoll in Szene gesetzt und zeigen in ihren Dimensionen, was Zeit ist: In meinem persönlichen, bescheidenen Menschenleben von knapp sechzig Jahren sind diese Stalaktiten hier etwa sechs Millimeter gewachsen. Sechs Millimeter! Ich komme mir unbedeutend vor, sehr unbedeutend in Anbetracht derartiger Zeiträume.

Als Fazit lässt sich sagen, dass es zwar nicht meine Art ist, in Touristenkollektiven und in touristischen Bimmelbähnchen Sehenswürdigkeiten zu besuchen, aber ich muss gestehen, dass es eine eindrucksvolle Fahrt durch die Höhlen war und auch der einstündige, bequeme Fußweg zwischendurch hat mich sehr begeistert. Mag es am Low-Season-Effect liegen. Es war schön heute, einfach schön.

Mittwoch, 18. Mai 2022 - Reif für die Insel

Die Nacht war länger als gestern, gut ausgeschlafen starte ich in den vierten Tag meiner Reise. Ich sehne mich immer noch nach ein paar Tagen Ruhe. Das Besichtigungs- und Kommunikationsprogramm von gestern und vorgestern war schön, hat mir aber noch nicht die notwendige Entspannung gebracht. Manchmal glaube ich, mein Kopf hat irgendwie Schaden genommen durch den Corona-Marathon der letzten zwei Jahre, die desatrösen, politischen Personalkatastrophen weltweit und durch den Mangel an sinnstiftenden Aufgaben in meinem Job. Die vier Weggefährten von gestern sind schon startklar und fahren los als ich noch beim zweiten Brötchen sitze. Wie ich wollen sie nach Cres, aber auf anderen Wegen. Cres ist eine langezogene Insel im Norden Kroatiens und sie ist die größte der Adria. Nichtsdestotrotz ist sie relativ dünn besiedelt und landschaftlich sehr vielfältig. Insel ist genau das, was ich jetzt brauche. Klamotten gepackt, Navi in den Motorradmodus gestellt und über kleine, einsame Straßen quer durch Istrien. Kurz vor der Fähre in den Bergen liegt ein kleines Klosterdorf auf dem Weg, das mich einlädt anzuhalten. Mošćenice heißt es. Ich gehe durch winzige, verwinkelte Gassen. Ganz allein, niemand anderes ist hier.

Dann ist das Dorf plötzlich zu Ende und die Gasse endet an einer Art Balkon mit atemberaubender Aussicht auf die Küste Istriens. Ich setze mich auf die kleine, verwitterte Holzbank, lege meine Stiefel auf die Mauer, atme tief ein und langsam wieder aus. Und endlich, zum ersten Mal seit meiner Abreise, habe ich dieses ersehnte Gefühl, dass irgendein Ballast mir von der Seele fällt. Im gleichen Moment sehe ich, dass direkt vor meinen Stiefeln etwas auf der Mauer geschrieben steht: "You're not broken." Ich muss an meine Gedanken von heute Morgen denken und unweigerlich lachen. Ein motivierender Wink des Universums. Auf eine Mauer gekrakelt. Einfach so.

Der Weg von hier oben ganz runter zur Fähre ist schnell zurückgelegt und unten darf man mit dem Motorrad immer an der ganzen Autoschlange vorbeifahren und direkt vor dem Schiff parken. Das mag ich. Und da sind auch wieder die vier Gefährten, man trifft sich halt immer zweimal. Ticket, Kaffee, Schatten, Fähre. Meine erste Überfahrt auf dieser Reise, der Wind ist kräftig und tut gut, das Meer ist blau, es herrscht gute Fernsicht und es ist nicht mehr weit bis zur Insel. Nach einer guten halben Stunde legt das Schiff auf der anderen Seite knirschend die Laderampe auf und wir rollen wieder an Land. Die Autokolonne ist schnell überholt und leere Inselstraßen liegen vor mir. Hoch oben mit Meeresblick zu allen Seiten lege ich die letzten fünfzig Kilometer zurück. Die Straßen werden kleiner und immer kleiner und am frühen Nachmittag erreiche ich das Dorf Martinšćica, hier endet die Straße. Ich bin auf der Insel, direkt am Meer. Endlich.

In der Hafenbar bestelle ich eine Tasse Kaffee. Ein leichter, warmer Wind bläst vom Meer, das kristallklare, türkise Wasser plätschert rhythmisch gegen die Kaimauer und aus der Jukebox im Café tönt wunderbarer Südstaatenblues von John Lee Hooker. Die sehr sympathische Bedienung serviert meine Bestellung und ich kann stolz mein einziges kroatisches Wort anwenden: "Hvala!"

Sodann ziehe ich, vermutlich mit einem Lächeln der Dankbarkeit im Gesicht, dass ich einen schönen Ort gefunden habe, die Häuser der Promenade entlang und klingel einfach beim ersten, das mir gefällt, an der Tür. Die Dame spricht offensichtlich nur Kroatisch, ich nicht. Geht auch so. Lächeln! Siehe oben! Es ist schnell erklärt, dass ich übernachten möchte. Sie nickt, kann mir aber keinen Preis nennen und zuckt nur hilflos mit den Schultern. Ich biete ihr fünfzig Euro an und sie macht den Eindruck, dass heute ein guter Tag für sie ist. Ich buche zwei Nächte. Nachdem ich mich in die Aussicht aus meinem kleinen Fenster verliebt hatte, verlängere ich auf vier.

Diese vier Tage füllen sich sehr schnell mit ausgiebigen Spaziergängen über den Hügel oder entlang der Promenade mit ihrem klaren Kieselstrand. Einen ganzen Nachmittag liege ich hinter einem Pinienwald an einem einsamen Strand und lausche dem seichten Wasser. Der dritte Tag ist Waschtag. Das Packvolumen eines wenn auch großen Motorrades hat seine Grenzen, da ist öfter mal die kleine Handwäsche angesagt. Im einzigen Mini-Supermarkt des Dorfes, der zwischen Hafenbar und Geldautomat Platz fand, bekomme ich das nötigste für mein leibliches Wohl. Nichts opulentes, meist etwas kroatischen Käse, Maisbrot, Tomaten, Saft, Wasser und Oliven. Dazu einen lokalen Rotwein - ich hab keine Ahnung, was hier gut schmeckt - das Etikett mit dem Esel finde ich am schönsten. Essen zu gehen habe ich keine Lust, ich bin glücklich in meiner kleinen Strandwohnung und genieße die Aussicht aus meinem Fenster aufs Meer, während ich ein paar Fotos sortiere und an meiner Website weiterarbeite. Mich inspiriert das tiefe Blau des Meeres, wie sich die Wasseroberfläche bei Windstille fast bis zur perfekten Ebene ausgleicht, dann wieder durchbrochen wird wenn Segelboote mit motorloser Restfahrt lautlos in den Hafen einlaufen. Mit Verzögerung kann ich hören, wenn die sich fortpflanzenden Bugwellen der bereits passierten Boote den kleinen Kiesstrand erreichen. Ja, mit sowas verbringe ich Stunden - das macht den Kopf leer und schafft Platz für neue Gedanken.
Viele Spazierwege zum Tagesabschluss führen dann noch an der Hafenbar vorbei, ich bin gefühlt seit meiner Ankunft ein geschätzter Stammgast, was ich genieße und was mich überaus amüsiert. Und so vergehen die vier Tage wie im Fluge und ich bin ein kleines bisschen mehr in Reisestimmung gekommen. Hier am Ende der Insel ist ein guter Ort auf dieser Welt, an dem ich mich wirklich sehr wohl fühle.

Sonntag, 22. Mai 2022 - Durch das Dalmatinische Hochland

Richtig Lust, aus meinem Zimmer mit Aussicht auszuziehen, hatte ich heute Morgen nicht. Zu gemütlich war es mir in den letzten Tagen geworden und ein bisschen zu Hause gefühlt habe ich mich auch. Dennoch, das Neue rief und es war tolles Reisewetter. Bienchen, wie ich mein gelb-schwarzes Motorrad manchmal nenne, hat schon zu lange in der Sonne gestanden und wollte fahren. Ich freute mich auf die Fähre nach Krk und auf mein nächstes, ganz besonderes Ziel, den Plitvicer Nationalpark. Schon am Vorabend habe ich die Strecke ins Navi eingelesen, die kleinst möglichen Straßen sind gerade gut genug. Zeit ist überhaupt kein Planungskriterium mehr für mich. Lumpige 240 Kilometer mit über fünf Stunden zu kalkulieren, macht einfach nur Spaß! Das bedeutet: Zeit „raushauen“, sich Zeit nehmen, Zeit haben, Zeit ins Land gehen lassen usw. Wie toll ist das denn?

Nachdem ich mal wieder an der Fähre die riesige Autoschlange komplett passieren durfte und die Überfahrt nach Krk bei schönstem Wetter genossen habe, musste ich noch ein paar nervige Kilometer Landstraße über mich ergehen lassen, bis ich irgendwo bei Selce endlich links abbog und die Welt ab da wieder nur mir gehörte. Einsame Straßen wanden sich durch üppige Strauchwälder und am linken Horizont war eine steile Wand zu sehen, die es irgendwo zu erklimmen galt, um ins Hochland zu gelangen. Bribir, Breze, Krivi Put und Dabar heißen die Orte, die nicht in jeder Landkarte zu finden sind. Der Wald verschwindet und es wird karstiger. In den saftigen, blumenreichen Gebirgswiesen liegen wie Hagelzucker auf einem Hefegebäck weiße Kalksteine verteilt. Sie reflektieren das Licht und lassen die Landschaft auf eine ganz besondere Weise erstrahlen. Immer wieder stehen Pferde herum, viele mit Fohlen, dann heißt es langsam und leise an ihnen vorbeifahren und möglichst nicht stören.

Nach zwei Dritteln bin ich etwas platt, ich muss mich sehr konzentrieren auf diesen engen und schlechten Straßen. Hinter jeder Kurve kann Schotter liegen, ein Pferd stehen oder tatsächlich einmal Gegenverkehr sein. Dazu heißt es dauernd Schlaglöchern auszuweichen, die hier so groß wie Kochtöpfe sind. Wie gerufen steht dann da dieses halb abgefallene Schild „Caffe Bar“. Stopp, anhalten, Karre abstellen, Helm runter, Jacke aus, rein in die Bar und einen Kaffee mit Wasser bestellen! Die Gespräche verstummen schlagartig und die drei anwesenden Kroaten schauen mich an wie einen Außerirdischen. Dann wird es freundlich, man spricht (mal wieder) Deutsch und der Chef serviert umgehend mit einem herzlichen Lächeln den heißen Kaffee. Von mir kommt wieder das mittlerweile perfektionierte „Hvala!“, kein anderes Wort könnte jetzt besser ausdrücken, was ich empfinde. Danke für den Kaffee und danke für die Gastfreundschaft!

Nach dem Kaffee geht es mir besser und die letzten Kilometer bis zum Ziel sind schnell zurückgelegt. Eine Unterkunft in Plitvička Jezerce finde ich problemlos, äußerst freundlich zeigt man mir das Zimmer und bietet Bienchen einen Erste Klasse Parkplatz an. Das Begrüßungsbier war schon vorgekühlt und die heiße Dusche wusch mir den Staub der Fahrt vom Pelz. Was für ein toller Tag, was für eine geile Bergtour. Licht aus!

Montag, 23. Mai 2022 – Seeterrassen der Dinarischen Karstlandschaft

Alles, was auf diesem Planeten mit "Welt" beginnt und auf "erbe" endet, ist abgesehen davon, dass es mit Sicherheit sehenswert ist, in erster Linie mit hochorganisiertem Tourismus verbunden. Das ist einerseits unausweichlich, wenn man erreichen möchte, dass besondere Orte auch der Nachwelt erhalten bleiben. Andererseits braucht man eine wirksame Strategie, die unangenehmen Begleiterscheinungen von Touristenmassen einfach wegzuzappen. Meine nicht neue Strategie ist, in der absoluten Nebensaison zu reisen und Besichtigungen während der Woche vorzunehmen. Heute ist ein Montag im Mai. Passt!

Voller Erwartung und Neugier betrete ich den Naturpark Plitvicer Seen. Die Plitvička Jezera, wie der Park auf Kroatisch heißt, sind Seeterrassen der Dinarischen Karstlandschaft. Das Spektakuläre daran ist tatsächlich die Karstlandschaft, in die diese Seen eingebettet sind. Die besondere Topographie und Geologie sowie die komplexe Karbonatchemie haben vor mehr als 10.000 Jahren diese einzigartige Landschaft begonnen zu formen. Für den geneigten Leser findet sich eine hervorragende mehrsprachige wissenschaftliche Beschreibung auf der offiziellen Seite des Nationalparks!

Der Parkbus, der mich an den weit entfernten Ausgangspunkt für meine erste vierstündige Wanderung bringt, ist sehr praktisch und vermeidet lange Fußwege. Tatsächlich sind nur wenige Menschen an der oberen Station und ich beginne meinen Weg auf der Route „H“. Über lange Holzstege wandle ich direkt durch diese wunderbare und vielfarbige Seenlandschaft. Ich fühle mich mitten drin, das Wasser strömt und rauscht von und an allen Seiten. Wüsste ich nicht, dass auch Wasser den natürlichen Gesetzen der Schwerkraft gehorcht, würde ich behaupten, es fließe kreuz und quer. Hier einen Überblick zu behalten und den Weg nicht zu verlieren, wäre eine Herausforderung. "Wäre" weil es ja die Route „H“ gibt, sie wird mich sicher hindurchleiten. Stichwort: „hochorganisierter Tourismus“.

Die Farben der Seen reichen von grünlich über türkis bis tiefblau, je nachdem wie tief sie sind, in welchem Winkel die Sonne einstrahlt und wie ihre chemische Zusammensetzung ist. Weiter geht’s über Holztreppen, Kurven, schmale Uferwege und als Höhepunkt über die Stege, die unmittelbar vor den breiten Wasserkaskaden entlangführen. Für mich sind es die schönsten Abschnitte, wenn Wasser aus den Seen über die Sinterkanten in den nächst tiefer liegenden See stürzt. Gesäumt von Farnen, bemoostem Astwerk und bartartig herunterhängenden, mir unbekannten Grünpflanzen sucht das Wasser sich seinen Weg. Es tröpfelt, plätschert, fließt, rinnt, rauscht und stürzt. Und immer anders und immer neu verändert es mit jedem Tag unmerklich das Gesicht der Landschaft.

Am Ende des Tages bin ich selbst im wahrsten Sinne des Wortes berauscht und ein weiteres Mal tief beeindruckt von dem, was Mutter Natur hier geschaffen hat. Und einher geht damit immer das Gefühl von Kleinheit, wenn ich einem solchen Naturwunder gegenüberstehe.

Dienstag, 24. Mai 2022 – Ein mystischer Wald

Der Ausgangspunkt für den heutigen Hike ist der gleiche wie gestern. Nur, dass ich mich heute nicht auf den Hauptpfaden des Plitvicer Naturwunders bewege, sondern eine mehrstündige Bergtour machen werde. Nach wenigen Metern entlang des Steges über den Malo Jezero, also den „kleinen See“, finde ich linker Hand den Abzweig zum Trail. Schlagartig bleiben menschliche Geräusche hinter mir und ein langer Aufstieg beginnt. Zunächst noch mit schönen Aussichten auf die schon tiefer gelegenen blauen Seen und dann tauche ich in den großen, sehr alten Wald ein.

Es ist ein Mischwald und die Bäume sind sehr hoch. Die Kronen bilden ein geschlossenes Gewirk aus Ästen, Zweigen und Blättern, das zwar das Licht einlässt, aber die Wärme draußen hält. Der gesamte Waldboden ist übersät mit großen weißen Kalksteinen, derer viele von kräftigen Baumwurzeln umgriffen sind, so dass man den Eindruck gewinnt, die Bäume versuchen die Steine festzuhalten und nicht mehr herzugeben. Auf den Steinen sind in vielen Jahren zentimeterdick dunkle Moose gewachsen, die ihnen eine Art Frisur verpassen. Sie wirken dadurch geradezu lebendig, was die Stimmung ziemlich gespenstisch werden lässt. Der Weg windet sich weiter schmal durch das Zwielicht, die Wegmarkierungen erscheinen in immer kürzeren Abständen, was nicht zufällig ist. Verlaufen ist nicht mehr ausgeschlossen. Ich bin jetzt mit dem Wald ganz alleine hier, er scheint mich wahrgenommen zu haben und er duldet mich offensichtlich. Er fühlt sich an wie ein gigantischer Organismus, der mit mir als winzigem Eindringling im Grunde genommen nichts zu tun hat. Dann und wann ranken filigrane Zweige von jungen Nadelbäumen in den Pfad und streichen mir beim Vorübergehen sanft über den Kopf, als wollten sie mich anfassen und ertasten und prüfen, ob hier Freund oder Feind passiert.

Es geht immer noch steil aufwärts und ich erlaube mir nur eine kurze Trinkpause, denn ich möchte gerne aus dem Wald hinaus. Ich habe seine Gastfreundschaft genossen, wir haben miteinander gesprochen und gerne überlasse ich ihn wieder den Bewohnern, denen er ein zu Hause ist. Vögel, Bären und Wölfe gibt es nämlich hier – auch wenn es fast unmöglich ist, letztere beiden zu sichten, so sind sie doch da.

Alsdann erreiche ich nicht viel später eine wunderbare Lichtung mit kniehoher wilder Bergwiese. Bunte Blumen, Gräser und tausende von lautstarken Insekten umgeben mich plötzlich, der Wald liegt hinter mir. Die Bilder der schlecht frisierten Kalkköpfe gruseln mich ein letztes Mal, dann schaue ich nach vorne und finde einen schönen Pausenplatz mit Aussicht. Trinken, etwas essen und ein ausgiebiges Sonnenbad. Herrlich!

Der Abstieg ist komfortabel, das Gefälle genau richtig, um die Füße einfach laufen zu lassen. Es geht dann noch ein Stück an den unteren Seen von Plitvice vorbei, mit dem Boot zurück zum Ausgangspunkt und nach über vier Stunden bin ich glücklich zurück bei Bienchen. Ich freue mich auf ein kühles Bier im Garten meiner Pension.

Živjeli! Auf den alten Wald...

Sonntag, 29. Mai 2022 – Stari Most, die Alte Brücke

Es sind fünf Tage seit dem letzten Bericht vergangen, die im Wesentlichen von zwei Motorradetappen geprägt waren. Die erste von Plitvička nach Goriš am Krka Nationalpark und die zweite von ebenda bis nach Mostar in Bosnien Herzegowina. Hinzu kamen ein Waschtag, ein Besuch der Skradinski Buk Wasserfälle, ein Tourenplanungstag und ein Faulenztag. Doch der Reihe nach.

Die Motorradetappen waren beide sehr schön, sie führten immer tiefer in das Dinarische Gebirge des West-Balkans, das mich mit seinen einzigartigen Karststrukturen jeden Tag neu begeistert. Wie über riesige Treppen kommt man auf immer neue grüne Hochplateaus, umfährt große Seen, um dann wieder in weite, langgezogene Täler einzutauchen. Überall findet man Hinweise auf Outdoor-Aktivitäten, wie z.B. im Dorf Vrlika. Hier gibt es spektakuläre Klettertouren und Mountainbike-Angebote in traumhafter Landschaft. Jedenfalls entnahm ich das beim Frühstückskaffee den Plakaten und Orientierungstafeln im Ort.

Wie immer bestanden auch diese beiden Routen aus einem großen Teil möglichst kleiner Straßen, was mir jedes Mal die nötige Ruhe schenkt, diese wunderbaren Landschaften einfach in mich einzusaugen. Die Straßen in den Hochebenen sind lang und gerade, Verkehr gibt es kaum und wenn, dann sind es oft andere Motorradfahrer, die aus keinem anderen Grund hier oben sind wie ich. Und in den wenigen Millisekunden, in denen man sich passiert, grüßt man sich. Immer!

Viel mehr als zweihundert Kilometer pro Etappe fahre ich nicht. Das sind dann so um die vier Stunden reine Fahrzeit, das reicht. Alles andere erscheint mir schon wie Kilometerfresserei. Siehe da, die Entschleunigung trägt ihre ersten Früchte. Wie erfreulich!

Unterbrochen waren die beiden Reiseabschnitte durch den Besuch des Krka Nationalparks, der topografisch mit Plitvička vergleichbar ist, meiner Meinung nach aber nicht an ihn heranreicht. Das mag sicherlich damit zusammenhängen, dass Krka – insbesondere an den Skradinski Buk Wasserfällen - extrem touristisch ist. Die Infrastruktur mit den ganzen Shops, Cafés, Restaurants und den Zubringerbussen hat schon die bedrohlichen Züge eines Jahrmarktes angenommen. Krka ist für die Ballungszentren Zadar und Split schnell und bequem zu erreichen und liegt zudem noch genau auf der Touristenroute E65. Alles in allem hätte es dennoch einigermaßen beschaulich werden können, wenn es gelungen wäre die Menschenmassen auszublenden und wenigstens für ein paar Minuten dem Wasser zu lauschen. Ich hab’s versucht, dann kam die 4b der Grundschule aus Split...

Also schloss ich eine kleine Wanderung an, die allerdings auch ein Flop war. Mein bevorzugtes Wanderportal im Internet bot mir einen elf Kilometer langen Trail an, der aber nach drei Kilometern Feinschotter am Scradin Gate des Parks endete, wo mir die freundliche Rangerin versicherte, es gebe keinen Wanderweg, die restlichen acht Kilometer des Weges seien Asphalt auf der Landstraße 56. Na toll, Schotter zurück, mit dem überfüllten Shuttlebus rauf zum Parkplatz und nix wie nach Hause in die Pension. Im Supermarkt kaufte ich als kulturellen Ausgleich noch etwas regionalen Trapistenkäse und eine Flasche guten Roten – die mit dem Esel (s.o.).

Und heute bin ich dann in Mostar angekommen. Die Tour dorthin habe ich oben schon kurz beschrieben, es war richtig schön und an der Grenze nach Bosnien hat es keine fünf Minuten gedauert, die Offiziellen waren sogar richtig nett.

Mostar ist erwartungsgemäß eine Tourikirmes erster Güte, was ich aber hier einfach mal ignoriere. Die "Alte Brücke" (kroatisch: „Stari Most“) ist weltberühmt und auch die Namensgeberin der Stadt Mostar. Seit ihrer Erbauung im 16. Jahrhundert ist sie ein Symbol für die Verbindung von Ost und West. Erbaut wurde sie von einem osmanischen Moscheen-Architekten namens Mimar Hayreddin zu einer Zeit als das Osmanische Reich sich bis an die Grenzen des heutigen Österreich und Ungarn ausgedehnt hatte. Vor fast dreißig Jahren, im Bosnienkrieg, wurde sie von kroatischen Truppen mutwillig zerstört, was keinen strategischen Zwecken diente, sondern ein blankes Kriegsverbrechen war. Allerdings sollte man aus diesem Einzelereignis keine generelle Täter-Opfer-Einordnung der Kriegsparteien ableiten, dazu ist der gesamte Balkankonflikt zu komplex und zu undurchsichtig. Man lese die belegten Geschichtsaufzeichnungen und die zahlreichen Zeitdokumente in der einschlägigen Literatur dazu, es ist von trauriger Dramatik, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Weltereignisse.

Warum mich persönlich gerade diese fast fünfhundert Jahre alte Brücke so in ihren Bann zieht, weiß ich gar nicht so genau. Erstmals aufmerksam auf sie wurde ich durch die Berichterstattung über den Bosnienkrieg und die prominente Meldung, dass gerade diese Brücke zerstört wurde. Das war im November 1993. Ich fand sie in ihrer Schlichtheit wunderschön und es hat mich beeindruckt, dass sie gebaut wurde, um Ost und West zu verbinden. Und nun war sie zerstört und die Trümmer lagen tief in der Neretva. Man muss dazu wissen, dass die Stadt Mostar durch den Fluss Neretva geteilt wird und sich historisch auf der westlichen Seite der christliche Teil der Stadt befindet und auf der östlichen der muslimische. Das zeigt sich auch in der ganz besonderen Silhouette Mostars, in der Kirchtürme und Minarette in friedlicher Koexistenz über den Dächern herausragen.

Und heute ist die Brücke wieder aufgebaut, mit viel Geld, mit viel Arbeit und mit den vielen alten Steinen, die man noch gefunden hat oder aus dem Fluss heben konnte. So wichtig ist sie den Menschen, so wichtig in ihrer Bedeutung und Symbolik. Eine Brücke, die nicht ihrem Zweck gemäß nur zwei Flussufer verbindet, sondern auch zwei religiöse Ufer. Möge sie ihre Bedeutung nie verlieren und ein wichtiges Symbol der Völkerverständigung bleiben.

Donnerstag, 2. Juni 2022 – Jetzt wird’s geil

Das kurze Intermezzo in Cavtat bei Dubrovnik war ein Flashback in die Wüste Thar. Einst ritten Sam, Jimmy und ich mit ein paar weiteren Reisefreunden in die Wüste von Thar und man sagte, wir seien die Glücklichen, denn die Götter sendeten uns Regen. Eine wunderbare Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden soll. Und vorgestern trafen sich unsere Wege in Dubrovnik-Neretva wieder. Einfach so und wir hatten eine schöne Zeit. Die Tage waren entspannt, gefüllt mit Spaziergängen, leckeren aber exzellenten Kleinigkeiten und mit langen Strandabenden inklusive alkoholhaltigen Erfrischungsgetränken. Mögen sich unsere Wege auf diesem schönen Planeten noch öfter treffen. Irgendwo. Irgendwann.

Und heute geht meine Reise weiter gen Süden, in das Land des schwarzen Berges. Montenegro. Die ersten Kilometer sind mühsam, da ich mal wieder der Zivilisation entkommen muss. Die Bucht von Kotor hat mich schon 2015 fasziniert, ein schönes Wiedersehen, doch heute biege ich links ab Richtung Norden ins Hochland des kleinen Adriastaates. Die neue Landstraße P11 verkürzt meine Fahrt enorm, meinem Navi war sie gar nicht bekannt. Dennoch gelingt es mir, die kleinen Nebenstraßen wiederzufinden, auf denen ich alleine unterwegs bin und die mir die Landschaftsbilder schenken, für die ich aufgebrochen bin. Blaue Seen und Blumenmeere rechts und links, es ist Frühling im südlichen Dinarischen Gebirge und ich bin glücklich, hier zu sein. Das Panorama wird schroffer und die schneebedeckten Gipfel mehren sich. Dennoch ist die Wärme der beginnenden Junisonne enorm, alle Lüftungsschlitze meiner Motorradkombi sind geöffnet, ich bin dankbar für jeden Seitenwind.

Ich habe die Stunden nicht gezählt, die ich gebraucht habe bis Žabljak. Leider war die Ankunft etwas ernüchternd. Erwartungsgemäß Tourikirmes, denn in der Nähe ist die Taraschlucht, eine der längsten und tiefsten Europas. Das bedeutet Rafting, Safari, Action-Hiking, Mountain biking, Saufen, Party, Skilifte, Happy Hour, Outdoorshops usw. Das ganze Programm…

Ein kurzer Gedanke, den Ort zu skippen, durchflog meinen Kopf. Nein, ich bin hierhergekommen, um in die Berge zu gehen. Und das tue ich auch! In meiner Verzweiflung, eine schöne Unterkunft finden zu wollen, geriet ich auf die Panoramastraße des Durmitor. Dann eben da lang. Es wurde ein ungeplanter, aber toller Ausflug in die Bergwelt mit Blicken in die Taraschlucht und auf endlose Hochgebirgswiesen. Bis Crna Gora, hier drehe ich um. Das Erlebnis bestätigte mich, ich bleibe auf jeden Fall hier!

Also, zurück nach Žabljak, Zimmer suchen weit weg vom Rummel. Hat geklappt, die Gastgeberin heißt Anna und hat ein bescheidenes Zimmer mit Balkon und Bergblick. Geruch von Kuhmist und Bergwiesen, der Preis ist beschämend gering und Frühstück gibt’s morgen früh auch. Ich habe gefunden, was ich mir gewünscht habe. Was für ein Tag.

3. Juni 2022 – Wandern, was sonst?

Im Frühtau zu Berge, bums fallera... Ja, geht aber auch um 10:00 Uhr! Das herzhafte Frühstück von Anna der Gastgeberin lasse ich mir natürlich nicht entgehen, ein stärkender Einstieg in den Tag.

Mein Sackl ist gepackt, die Tour habe ich gestern skizziert, die Karte befindet sich griffbereit in der Tasche. Auf geht’s. Der erste Kilometer ist etwas fusselig, bis ich endlich einen Einstieg in die gut markierten Wanderwege finde. Die alte Mühle (Stari Mlin) liegt romantisch am kleinen Bach Mlinski Potok. Eine einfache Holzbrücke erspart nasse Füße, dann geht es stetig bergauf. Gnadenlos und auf sehr anspruchsvollem Boden. Das viele Laub versteckt die bis zu kopfgroßen. abgewetzten Kalksteine. Dreihundert Höhenmeter sind zu überwinden, was zunächst erst einmal recht gemäßigt klingt, aber orthogonal zur Höhenlinie auf zwei Kilometern bei 25°C wird das eine kleine Herausforderung für den Gelegenheitswanderer. Der Weg führt zum Glück durch lichten Bergwald und der hält die pralle Sonne fern. Rechts und links raschelt es dauernd. Kleine Eidechsen, eine Schlange und jede Menge Vögel begleiten mich bei meinem Aufstieg. Zwischen den Bäumen ist immer wieder das Bergpanorama zu sehen, ich warte auf die erste klare Aussicht auf den Mali Međed.

Die Mittagsrast an einem keinen Felsplateau lässt mich wieder Kräfte sammeln und die freundlichen Mosoreidechsen heißen mich herzlich willkommen. Unbekümmert springen sie von Stein zu Stein und blicken dabei immer wieder zu mir auf. Da sie von mir nichts Schlimmes zu befürchten haben, bewegen sie sich völlig unbekümmert in ihrem felsigen zu Hause.

Mein Weg geht weiter. Unverändert steil bergauf. Kurz hinter der Veljkova ploča kommt die große Wegscheide, das Gelände wird flacher und der Gipfel des Mali Međed baut sich imposant vor mir auf. Ich denke, die Latte lag für heute zu hoch. Meine gute Wanderkarte kündigt ab hier weitere dreihundert Höhenmeter mit Schneefeldern auf einem Kilometer an. Dann würde ich den Gipfel erreichen. Mein Quadriceps links meldet sich und ehrlich gesagt, bin ich jetzt schon ziemlich platt. Eine ausgiebige Pause gemeinsam mit tausenden von Fliegen folgt, dann drehe ich um Richtung Tal. Nach lumpigen fünfundzwanzig Minuten erreiche ich die Alte Mühle, nach weiteren zehn Minuten den Crna Jezero. Hier verweile ich bei herrlicher Bergruhe, nicht viele Menschen sind heute hier, da es erst Freitag ist und noch nicht Wochenende. Von meiner Unterkunft trennt mich jetzt noch ein zünftiger Anstieg. Die Wege im Durmitor sind eher geradlinig, das heißt kurz aber steil!

Unterwegs lasse ich mich noch dankbar ablenken von bunten Baumpilzen, wie ich sie noch nie gesehen habe und einem erstaunlich großen Backenzahn (vermutlich) von einer Kuh. Mitten auf dem Trampelpfad nach Pitomine, wo ich wohne. Aber daraus könnte man jetzt eine ganz eigene Geschichte machen...

Als ich am frühen Nachmittag in meiner schönen Pension ankomme, habe ich gut vier Stunden auf der Uhr und einen tollen Wandertag hinter mir. Es folgt eine Dusche und den kleinen Balkon mit Aussicht würde ich jetzt so ziemlich gegen nichts im Leben tauschen. Ich verlängere meinen Aufenthalt bei Anna um zwei weitere Tage. Es gefällt mir hier!

4. Juni 2022 – Nature Day

Die Höhenmeter von gestern steckten mir beim Aufstehen noch ganz schön in den Knochen, also heute kein großes Programm, sondern nur rehabilitierendes Lockerungstraining ohne Ball... Anna, die Vermieterin, brachte wie immer um neun Uhr das herrliche Frühstück aufs Zimmer. Sie hat es auf meinen Wunsch schon reduziert, aber es ist immer noch so reichlich, dass ich mir die süßen Sachen zum Kaffee aufbewahren kann. Heute gab es ein dickes Omelett mit Speck, grünen Salat mit Frühlingszwiebeln, Brot, Käse, hausgemachten Joghurt (extrem lecker!) und Palačinke, wie man hier sagt. Letzterer, wie erwähnt, wurde für den Nachmittagskaffee reserviert. Ich ließ mir Zeit, ganz im Sinne der weisen Worte von Milan: „Polako, polako!“ (s.o.). Dann packte ich mir eine kleine Stulle für den Weg ein, etwas zu trinken und minimales technisches Gerät und los ging’s.

Ohne großen Plan folge ich wie gestern zunächst der kleinen Dorfstraße von Pitomine, in der ich wohne, biege aber alsbald rechts ab in den Wald Richtung Barno jezero und weiter zum Zminje jezero. Das ist das Ziel für heute. Die vielen unterschiedlichen Wegmarkierungen, meine mittlerweile zerrupfte Wanderkarte und mein verlässlicher Orientierungssinn leiten mich sicher durch den Wald. Wald bedeutet hier noch Wald. Umgestürzte Bäume bleiben selbstverständlich liegen bis sie verrotten, hier wird kein Weg freigeschnitten oder instandgehalten. Und wenn hier mal ein Mountainbike-Trail war, dann bleibt der auch hier. Mögen die Nutzer doch ihre ultraleichten Hightech-Spielzeuge um die Hindernisse herumtragen, sind doch Sportler!

Für Wochenendverhältnisse ist es extrem ruhig und ich erreiche nach einer guten Stunde den wunderschön gelegenen Zminje See. Mitten im Wald in einer Senke, umsäumt von dichten Tannenwäldern und gefüllt mit grün-blauem Wasser empfängt mich die Postkartenidylle eines Bergsees. Und richtet man seinen Blick weiter nach oben thronen dort im dunstigen Hintergrund die karstigen Gipfel der Zweitausender.

Lockerungstraining war das Motto. Auf einer kleinen Bank erstmal die Stulle verzehrt. Dann lasse ich die Natur einfach auf mich wirken. Im glasklaren Wasser des Sees schwimmen Fische, Tausende von winzigen Kaulquappen finden sich in Schwärmen zusammen und wimmeln an verschiedenen ufernahen Stellen umher. Für eine kleine Schlange ist das ein gedeckter Tisch, sie muss sich nicht einmal anstrengen, schwimmt mitten in die Schwärme hinein und schlägt sich den Bauch voll. Sehr beliebt sind auch meine Wanderschuhe. Schwebfliegen und Eidechsen wissen die edle Struktur des Gore-Tex zu schätzen und die dazu passende klassische Schnürung mit Tiefzughaken und lassen sich gerne nieder.

Je länger ich sitze, um so mehr entdecke ich. Das ändert sich auch nicht als ich weiterziehe und nach kurzem Weg den Barno See erreiche. Hier gibt es wilde und artenreiche Feuchtwiesen, die mit ihren Gräsern, Blumen, Binsen und krautigen Pflanzen ein Paradies für Insekten sind. An letztere zahle ich im Laufe des Tages auch reichlich Blutzoll. Ob ich will oder nicht, beim Fotografieren muss ich nun mal stillhalten und genau das ist der Moment des Aderlasses. Seis drum, ich hoffe, es war nicht mehr zu viel Restalkohol drin.

Ich komme kaum voran, da mich jetzt die ganzen bunten Blumen in ihren Bann gezogen haben, sie sind teilweise so winzig und doch sitzen auf ihnen massenhaft Insekten, um sich an ihrem Nektar zu laben. Gleichgewicht funktioniert, wenn man es einfach nur lässt.

Was für ein entspannter Tag in der Natur! Und gleich gibt's Palačinke :-)

6. Juni 2022 – Zum ersten Mal im Kosovo

Kurzer Abschied von Anna, meiner herzlichen Gastgeberin im Durmitor, tanken, dann Richtung Kosovo. Auf meinem Weg in Đurđevića liegt die große Brücke über die Taraschlucht. Man bekommt einen atemberaubenden Ausblick auf die türkisfarbene Tara geboten, die sich ihren Weg seit Jahrtausenden in den Fels gegraben hat. Umso unerträglicher ist die Vermarktung und die ganze Action-Kirmes an einer so großartigen Flussüberquerung. Kaum ein Foto ohne Zipline, ohne Rafting-Base oder irgendwelche bunte Adventurewerbung. Nicht nur deshalb ist mein Aufenthalt kurz, sondern auch des Wetters wegen. Bis ca. 14:00 Uhr bleibt es noch einigermaßen regenfrei, bis dahin möchte ich in Peć oder Peja angekommen sein.

Die schöne Bergstrecke macht Spaß, die Kaffees schmecken und an der kleinen montenegrinischen Grenze in den Bergen werde ich unkompliziert von sehr freundlichen Beamten abgefertigt. Ich durchquere mehrere Kilometer Niemandsland, ein etwas beklemmendes Gefühl. Mir geht die jüngste Geschichte durch den Kopf, heute ist alles still und friedlich hier. Dann folgt mit etwas Wartezeit das kosovarische Einreiseprozedere, genauso freundlich, die Dame im Grenzhäuschen beeilt sich extra und wünscht mir Gute Reise.

Dann ist es nicht mehr weit bis Peć. In engen Serpentinen geht es steil hinab in die Tiefebene von Metochien. Es beginnt leicht zu regnen und die Straßen werden unangenehm schmierig. In einem Café mit WiFi am Straßenrand suche ich mir noch schnell ein Hotel, bei den niedrigen Preisen im Kosovo eine einfache Aufgabe. Einchecken, Klamotten auf’s Zimmer, duschen, rasieren und dann ein erster Stadtrundgang.

Peć ist eine eigenartige Stadt. Am Ende des südöstlichen Dinarischen Gebirges liegt, wie bereits erwähnt, die Tiefebene Metochien, die den gesamten westlichen Teil des Kosovo einnimmt. Mitten durch die Stadt fließt der kleine Fluss Bistrica e Pejës, was soviel bedeutet wie das „Weiße Wasser an der Stadt Peć“.

Etwas ziellos lasse ich mich durch die Straßen treiben und es bietet sich mir ein unordentliches Stadtbild. Der chaotische Verkehr, der sich klebrig durch die Straßen quält, ist laut und es stinkt nach Abgasen. Ampeln sucht man vergeblich, dafür gibt es alle fünfzig Meter gut frequentierte Zebrastreifen, die jeglichen Verkehrsfluss verhindern.

Ich überquere riesige Plätze und passiere viele Statuen auf massiven Betonsockeln. An vielen Stellen wehen albanische Fahnen, hier leben über 90% Albaner, die Kosovo-Albaner. Das Lebensgefühl ist eine Mischung aus gebremster Aufbruchstimmung in eine ungeklärte Unabhängigkeit und den persistenten Spuren des Befreiungskrieges durch die UÇK. Dazwischen gelegentliche Präsenz der UN.

Architektonisch beherrscht immer noch unübersehbar der Stil sozialistischer Bausünden an vielen Stellen das Stadtbild. Obwohl die Menschen, denen ich bisher begegnet bin, äußerst positiv und freundlich sind, erscheinen sie mir müde und ich meine, viel Verzweiflung zu erkennen, vielleicht weil es alles nicht so voran geht, wie man es sich wünscht.

Eine Runde über den beliebten Bazar soll mir Ablenkung verschaffen. An allen Ecken werden Luxusmarken angepriesen, Lifestyleartikel und glitzernder Schmuck. Allerdings beschränkt sich das Angebot nicht überraschend nur auf die perfekt imitierten und auf Billigwaren aufgebrachten Schriftzüge und Logos der Originale. Besonders bemerkenswert sind die Läden für Brautmoden. Bunter geht’s nicht, pompöser auch nicht. Alles wird im Sonderangebot verramscht, wie es scheint. Auf dem Grabbeltisch zum Mitnahmepreis – für die kurzentschlossene Kundin, sofern sie einen heiratswilligen Verehrer bei sich hat!

Nach und nach schließen die Geschäfte und es beginnt wieder etwas zu regnen. Ich bin wenig begeistert von dieser seelenlosen Stadt und kehre ins Hotel zurück. Auffällig viele Hunde lungern in allen Straßen herum und nicht selten rotten sie sich spontan zusammen und rücken den Menschen mit bis zu zehn Exemplaren bedrohlich nah auf den Leib. Das habe ich so nur nachts in Neu‑Delhi oder Thimphu erlebt. Mir reicht’s für heute.

7. Juni 2022 – Ich mach‘ das anders...

Dafür, dass Peć gestern nicht so schön war, gibt es heute Morgen eine dicke Entschädigung: Die Besichtigung des alten Patriarchenklosters. Etwas irritiert bin ich schon, denn ich bin der einzige Besucher. Die KFOR Soldaten kontrollieren meinen Ausweis genau, dann darf ich durch die Schranke bis an das große Tor in der riesigen Mauer vorfahren. Vor mir erwachen die kosovarischen Berge gerade im Sonnenschein und linker Hand rauscht die Bistrica e Pejës. Ehrfürchtig trete ich durch den einzigen Eingang ins Innere. Alles ist still und friedlich, ich fühle mich sehr willkommen, obwohl kein anderer Mensch anwesend ist, der es mich hieße. Als erstes empfangen mich Rudimente von Mauern und viele alte von den Klosterwiesen überwachsene Grabsteine. Bunte Blumen blühen an den Wegrändern, alles ist nass, als habe sich gerade jemand fürsorglich um die Bewässerung des Gartens gekümmert. Ich lasse mir Zeit und nähere mich in einem großen Bogen der Kirche, der heiligsten Stätte des serbisch-orthodoxen Glaubens. Die vollständige Geschichte des Baus seit dem 13. Jahrhundert bis heute ist wechselhaft, hängt aber in ihren Wurzeln eng mit der byzantinischen Architektur der Klöster Athos‘ in Griechenland zusammen. Die Kirchenportale sind verschlossen, nur ein kleiner Beicht- oder Gebetsraum an der Seite ist geöffnet. Die Tür öffnet sich knarrend und ich bin überwältigt vom Inneren. Derartig schöne und vollständige Wand- und Deckenmalereien, die alle Flächen bedecken, habe ich noch nie gesehen und in der Mitte steht bedeutungsvoll präsentiert eine goldene Ikone.

Es erschallt ein klares Glockenläuten, das von Hand ausgeführt zu sein scheint, so ungleichmäßig wie es klingt. Ein Gebetsaufruf? Der Beginn der Arbeit oder einer Pause? Oder vielleicht der Ruf ins Refektorium? Eine kleine, ganz in schwarz gekleidete Nonne erscheint im Garten und kommt auf mich zu. Galten die Glocken mir? Sie winkt mir zu, deutet auf die rote Kirche und gibt mir zu verstehen, dass ich die Kirche gerne besichtigen könne. Klimpernd schließt sie das Haupttor auf und lässt mich in den kühlen Innenraum ein. Was ich nun sehe, übertrifft meine Bewunderung aus dem kleinen Gebetsraum um ein Vielfaches. Obwohl es sehr dunkel in der Kirche ist, erscheinen die Farben der Fresken klar und deutlich. Milder Duft von Weihrauch erfüllt die hohen Räume, es ist wunderbar still. Die kleine Nonne weiß genau, dass man etwas Zeit benötigt, alles auf sich wirken zu lassen und setzt sich deshalb auf eine Gebetsbank und lässt mir alle Zeit, dieses Kunstwerk Raum für Raum zu entdecken. Im Gegensatz zu den Domen und Kirchen des römisch-katholischen Christentums, ist diese Kirche bescheidener. Sie verzichtet auf jeden übertriebenen Prunk und Protz und man findet keine dieser demütigenden, machtdemonstrierenden Objekte oder Heiligendarstellungen. Die Gemälde erscheinen vielmehr wie ehrfürchtige, aber sachliche Dokumentationen der Geschichten aus den heiligen serbisch-orthodoxen Schriften. Leider kann ich nicht einen einzigen Buchstaben lesen, denn die Schrift ist selbstverständlich serbisch. Fotos sind nicht erlaubt. Im ersten Moment bin ich enttäuscht, aber dann gefällt mir das Gefühl, einfach mal an einem wunderbaren Ort zu sein und es dabei zu belassen!

Ursprünglich war von hier aus jetzt die große Tour nach Theth geplant, sechs Stunden Bergroute mit anschließender Wanderwoche in den albanischen Bergen. Aber leider versprach der aktuelle Wetterbericht alles andere als gutes Wanderwetter. Dann mach‘ ich das eben anders! Ab durchs schöne Albanien bis nach Nordmazedonien. Da ich bis gestern schon eine schöne Zeit im Durmitor mit tollen Wanderungen hatte, fiel es mir nicht ganz so schwer, den Besuch Theths nach 2015 noch ein weiteres Mal zu verschieben. So liebe ich Reisen, wenn ich alle Freiheitsgrade habe, zu entscheiden.

Ich mache mich also auf vom Kloster in Richtung Süden. Die Fahrt durch die Ebene von Metochien ist nicht sehr abwechslungsreich, was sich aber hinter der albanischen Grenze allmählich ändert. Vom Grenzübergang Vërmica bis nach Kukës gibt es nur noch die Autobahn Nr. 1 und genau bis hier reicht auch meine elektronische Navigation. Der Rest geht nur mit der guten alten Landkarte, was bei den wenigen Straßen im Osten des Landes sehr einfach ist. Die Berge steigen jetzt wieder heftig an, die Straßen sind sehr schlecht und verlangen viel Konzentration. Es geht in teils abenteuerlichen Kehren stetig bergauf, dafür wird die Landschaft hinter jeder Kurve eindrucksvoller und imposanter. Bienchen schnurrt und bringt uns sicher hinauf ins Korab Gebirge. Eine karge, aber wunderschöne Topografie mit grauen und meist scharfkantigen Bergkonturen und trockenen Wiesenlandschaften. Touristisch ist das Hochland hier kaum erschlossen, wenngleich die ein oder andere Unterkunft am Straßenrand durchaus einladend ist und für Bergwanderer ein idealer Ausgangspunkt wäre. Ich genieße die Ruhe und die Einsamkeit hier oben, bleibe öfter stehen für ein paar Fotos oder einfach nur um die Aussicht zu genießen.

So vergehen die Stunden und am frühen Nachmittag erreiche ich Debar, den Grenzübergang nach Nordmazedonien. Ich muss dringend tanken, denn der Weg bis zum Tagesziel führt über kleine siedlungsarme Straßen. Die Zeit vergeht wie im Fluge und führt mich an einem Stausee entlang und durch lange bewaldete Flusstäler. Im Ort Struga am Ohridsee finde ich nichts Schönes zum Übernachten, alles ist irgendwie recht lieblos oder buntes Schickimicki in einem insgesamt strukturlosen Stadtbild. Also fahre ich weiter am östlichen Seeufer entlang bis weit hinunter nach Peštani und wie so oft bleibe ich dann irgendwo stehen und frage einfach, ob es Zimmer gibt. Ja, gibt es! Ist dann zwar wieder Mal nicht das Highlight, mit Erfüllung aller Urlaubswünsche, aber ich werde freundlich empfangen und man tut alles, damit ich mich wohl fühle. Und das ist das, was zählt, was man Gastfreundschaft nennt und das ist genau das, was tausendmal wichtiger ist als vermeintlicher Luxus - obwohl der natürlich auch sehr schön sein kann :-)

Peštani selbst liegt wunderschön am Ohridsee, hier ist nicht mehr ganz soviel Durchgangsverkehr und jetzt in der Nebensaison ist alles überschaubar und ruhig. Mein Gastgeber Marko zeigt mir mein Zimmer mit Balkon und (etwas) Seeblick und natürlich hat er auch das beste Restaurant im Ort, da könne ich alle Fragen. Klar, glaube ich ihm, dann gehe ich gleich mal rüber zum Essen. Das Essen war tatsächlich das beste im Ort, alle haben nämlich die gleiche Speisekarte und alle haben denselben Lebensmittellieferanten. Im Ernst, es war wirklich lecker, auch wenn es seit Kroatien irgendwie immer das gleiche ist, aber ich hatte ziemlich Kohldampf und das mazedonische Bier dazu war das Beste!

Ein Uferspaziergang und eine wunderbar ruhige Nacht schlossen sich an, was will ich mehr?

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