Krebs

Als Schrödingers Katze starb wurde meine Welt eine andere

Bei Schrödingers Katze handelt es sich um ein Gedankenexperiment aus der Physik, das 1935 von Erwin Schrödinger beschrieben wurde (...). Schrödinger kritisiert dabei, dass die Quantenmechanik als ein „verwaschenes“ Modell fehlgedeutet und ihre Konsequenz verharmlost wird. Vielmehr, so argumentiert er, besäßen die Bewegungsgleichungen der Quantenmechanik dieselbe Klarheit und Bestimmtheit wie klassische Modelle. Der Begriff der Verwaschenheit wäre für atomare Dimensionen noch hinnehmbar, sei jedoch einfach falsch, wenn auch grob tastbare und sichtbare Dinge von der Unbestimmtheit betroffen sind. (Quelle: Wikipedia
Das Gedankenexperiment: In einer undurchsichtigen Kiste sitzt eine Katze mit einer Giftflasche. Im Falle eines zufälligen radioaktiven Zerfallsprozesses eines Elements wird über einen Mechanismus die Zerstörung der Giftflasche bewirkt und die Katze stürbe in Folge. Niemand außerhalb der Kiste weiß, ob die Katze zu einem diskreten Zeitpunkt noch lebt oder schon tot ist, solange man die Kiste nicht öffnet und nachsieht. Für die Katze gibt es nur zwei einnehmbare diskrete Zustände, für den Außenstehenden liegen beide Zustände gleichzeitig vor. Die Wellenfunktion (
Ψ-Funktion) beschreibt diese sogenannte Superposition mathematisch.

Doch was hat das mit meiner Geschichte zu tun?


Diarium iter

Tagebuch einer Reise oder die Chronik einer unbegreiflichen Pathologie

Januar 2023

Wie alles begann im schönen Uruguay

Nun ja, tatsächlich begann es nicht in Uruguay, sondern schon vor längerer Zeit bei mir zu Hause auf dem Teutoburger Wald. Aber dass es sich damals um die Vorboten eines ausbrechenden Krebses handeln sollte, war nicht einen Moment ein realistischer Gedanke für mich. Und ob es denn letztlich auch wirklich so war, wird niemand jemals herausfinden können.
Anfang 2022 erwischte mich wie so viele das Coronavirus. Keine große Sache, ich war geimpft. Der Verlauf war kurz und knackig, unspektakulär und mit vorbildlicher Rekonvaleszenz, denn es war mir das Wichtigste, mein Immunsystem zu regenerieren und der Heilung den Weg bestmöglich zu ebnen. Mir ging es schnell wieder sehr gut, zwei kleine unaufgeregte Lymphknoten am Hals haben bei mir keine größeren Bedenken verursacht, da dieser monatelange Effekt nach Corona nicht untypisch ist.
Ab Mai 2022 hatte ich ein einjähriges Sabbatical geplant, und so brach ich drei Monate später mit dem Motorrad zu meiner langen Kaukasusreise auf und kehrte erst im August nach Deutschland zurück. Nach mühsamer und zäher Entscheidungsfindung verschiffte ich ein paar Wochen später mein Motorrad nach Chile und machte mich selbst Mitte September erneut auf den Weg. Zunächst nach Singapur, dann nach Neuseeland und letztendlich nach Südamerika, wo ich mein Motorrad Anfang November wiedertreffen sollte. Singapur als Zwischenstation war wie jedesmal beeindruckend, die Erlebnisse und Abenteuer später in Neuseeland waren überwältigend. Ich habe mich selten im Leben großartiger und gesunder gefühlt als in dieser Zeit. Kein Trail war mir zu lang oder zu steil, ich war fit und die Geschenke der Natur taten meinem Körper und meinem Geiste mehr als gut. "Seele volltanken" schrieb ich oft in mein Reisetagebuch, es war die Beschreibung, die dem vorherrschenden Gefühl am nächsten kam.

Wochen später dann mit meinem Motorrad in Südamerika wurde es ein ganz anderer Schnack. Die Pisten und das Wetter forderten mich körperlich heraus. Psychisch waren es die großen Entfernungen, die Einsamkeit und die Sorge, ob ich mit meiner Suche nach den persönlichen Grenzen nicht zu weit gehen würde. Schließlich war ich die meiste Zeit auf mich alleine gestellt und den meisten Herausforderungen musste ich mich alleine stellen. Nicht falsch verstehen, es waren fantastische Eindrücke und ein Abenteuer "once in a lifetime", das ich zweifelsohne zu den wertvollsten Kapiteln meines Lebens zähle. 
Ja, und dann kam Uruguay. Ich war fix und alle nach fast 4.000 Kilometern von Feuerland bis zum Rio de la Plata. Erst waren es die kräftezehrenden patagonischen Winde und anschließend die extreme Hitze der Pampa, die mich viel Energie gekostet haben. So war es nicht unschlüssig, dass ich völlig platt und erschöpft war und eine spürbare Müdigkeit mich umfing. Bienchen, mein Motorrad, war in Montevideo ohnehin in der Werkstatt angemeldet, so hatte ich keine Eile und folgte dem Verlagen meines Körpers. Ich schlief zu Tages- und zu Nachtzeiten, immer wenn mir danach war, und es tat so unglaublich gut. Und genau in diesen Tagen erinnerte ich mich an meine beiden Lymphsouvenirs aus Coronazeiten im Hals. Irgendwie konnte ich die Gedanken nicht von ihnen lassen und der autopalpative Befund lautete "erdnussförmig". Sie waren also zusammengewachsen. Es tat sich was und das war ein ganz kleines Bisschen beunruhigend. Meine Müdigkeit war nach ein paar Tagen auskuriert und die verbleibende Strecke sollte mich in vier Wochen nach Valparaíso bringen, von wo aus es für Bienchen und mich nach Hause geht. Ich über Rio, Porto und Berlin, Bienchen in vier Wochen auf dem Seeweg nach Hamburg. Einen Termin bei meinem Haus- und Hofmediziner in Deutschland hatte ich schon für den 10. März verabredet.
Die wunderschöne finale Etappe der Reise könnt ihr im Südamerika-Blog nachlesen. Ich erreiche am Valentinstag Valparaìso, die Erdnuss ist zur Dattel geworden.

März 2023

Der lange Weg zur Diagnose

Die Formulierung "Der lange Weg zur Diagnose" enthält schon den Kern der Aussage: Es hat viel zu lange gedauert. Allerdings hat das auch zu einer vielleicht wichtigen und richtigen Entscheidung geführt. Da ich im Grunde kerngesund bin, habe ich alle Untersuchungen und Checks einfach abgearbeitet. Alles - wirklich alles - war negativ, ja noch besser, es bestätigte mir beste Gesundheit. Wenn da nur nicht dieses fette Alien in meinem Hals steckte. Das war nämlich alles andere als normal. Ich mache es kurz: Anamnese, Sono, Querchecks, Tasten, Hören, Blutwerte, CT und niemand lehnte sich weiter aus dem Fenster als "Verdacht auf" oder "tumorsuspekt". Viel Geschreibsel und Papierkram, aber auf das entscheidende bildgebende Diagnoseverfahren, die MRT, muss ich als Kassenpatient leider sechs Wochen warten. Selbst das Kreuzchen "Notfall" half bei der Terminvergabe in den Radiologischen Praxen nichts.

Der unnormale Alltag

Und während das alles passiert geht das normale Leben lautlos nebenher. Seit ich zurück bin haben sich viele Dinge ereignet, die sich trotz ihrer Wichtigkeit oder Annehmlichkeit alle hinten anstellen mussten und weiterhin müssen. Zu sehr vereinnahmen mich die Gedanken an meine neue Aufgabe. Absurderweise nehme ich diese Aufgabe sehr positiv und dankbar an. Sie ermöglicht mir Entscheidungen zu treffen, die ich ohne den potentiellen Krebs gar nicht angegangen wäre. Sie motiviert mich, überfällige und sinnvolle Veränderungen in meinem Leben endlich anzustoßen, die mir vorher zu schwer erschienen.
Ganz nebenbei habe ich meine neue Neubauwohnung bezogen. Draußen liegt der letzte Schnee des noch jungen Jahres und meine Heizung funktioniert noch nicht. Ich lebe auf Umzugskartons, da meine Möbel - in erster Linie die Küche - sehr lange Lieferzeiten haben. Jeden Tag suche ich irgendwelchen Kram in den Kisten und versuche mit Taschenmesser und einem Campingkocher meinen kulinarischen Ansprüchen gerecht zu werden. Der verschneite Balkon ist praktisch, er ist der willkommene Kühlschrank. Ich bestelle mir Terrassenmöbel mit hübschen Ökofilzauflagen, später schaffe ich jede Menge Blumenkästen und -töpfe in großen Mengen an. Immerhin will ich fast zwanzig Meter Brüstung und dreißig Quadratmeter Terrasse floristisch gestalten. Das meiste soll essbar sein. Für mich und für die Insekten. Und wirksam sein gegen meinen potentiellen Krebs. Gemüse für die gute Ernährung und jede Menge Kräuter für die sekundären Pflanzenstoffe. Es muss jetzt wärmer werden, dann kann ich auspflanzen und aussäen.

23. März 2023

Ich lasse mir nicht einfach den Hals aufschneiden

Nach meinem CT Anfang April bleibt es wie gesagt bei "tumorsuspekt" und der Empfehlung einer Probeentnahme. Ich verabrede mich also mit der HNO-Chirurgie in Osnabrück für eine kleine Probeentnahme. Diese entpuppt sich nach einer umfangreichen Voruntersuchung aber als handfeste OP, ggf. mit Entnahme des ganzen Monsters aus dem Hals. Und das alles nur bei Verdacht? In ein potentielles Karzinom reinschneiden? Nein, das gefällt mir irgendwie gar nicht!
Es müssen erst einmal Fakten her und mindestens eine zweite Meinung! Rufe ich doch mal meinen Bekannten in der Schweiz an. Ein Onkologe, der einen ganz anderen Ansatz als die Maschinerie der deutschen Schulmedizin verfolgt. Ganzheitlich eben. Natürlich ist auch dieser Kontakt nur über "Vitamin B" möglich, denn seine Warteliste ist schon lange geschlossen. Nur bin ich dieses Mal der Glückliche mit dem "Vitamin B", dem die Tür geöffnet wird. Nach dem Gespräch sage ich Osnabrück kurzfristig ab und eine Riesen Erleichterung macht sich in mir breit. Richtige Entscheidung! Mittlerweile war der Termin fürs MRT auch schon so nah, dass ich diesen zunächst einmal abwarten will.

14. April 2023

Bienchen ist da

Heute war ich in Hamburg und habe mein Motorrad abgeholt. Alles lief wie am Schnürchen, tolles Wetter, perfekte Bahnverbindung (...) Nach etwas Papierkram laufe ich runter in die weitläufige Lagerhalle. (...) dann steht sie da, ganz vorne mit all den anderen reisenden Bikes. Mein Bienchen! Die ganze Geschichte findet ihr hier. 

24. April 2023

Endlich MRT...
Befund morgen!

25. April 2023

Ein fast sicherer Befund

Noch vom Bett aus rufe ich meinen Leibarzt an und zwei Minuten später habe ich den MRT-Befund von gestern in meiner E-Mailbox: Primärer Verdacht Zungengrundkarzinom! Na toll, drehe ich mich jetzt einfach um, mutiere zu Dornröschen und lasse erst einmal einhundert Jahre vergehen? Igitt, dann kommt ein nichtsnutziger Prinz, küsst mich wach und ich finde mich im Himmel wieder. Das ist mit Sicherheit die schlechteste Lösung. Ich muss die Sache selbst in die Hand nehmen und steuern. Was für eine Kacke, ich habe alles andere gebraucht, aber nicht so eine fette Baustelle.

Dass der Tag heute ein ganz anderer ist als die, die ich bisher gelebt habe, dürfte leicht zu verstehen sein. Aber nüchtern betrachtet, ich habe alles richtig gemacht! Wen wundert es denn, dass gute Diagnoseverfahren richtige und vollständige Ergebnisse liefern? Das habe ich abgewartet. Und siehe da, der Radiologe findet im MRT tatsächlich einen weiteren Verdächtigen: ein potentielles Pharynxkarzinom. Na also, warum nicht gleich so? Ach ja, Kassenpatient, ich vergaß. Nun gut, bevor nicht eine hieb- und stichfeste Histopathologie vorliegt, heißt es bei den Medizinern zwar immer "Verdacht", aber auch mit dem im Raum stehenden Verdacht wird da für mich langsam ein Schuh draus. Zudem kann ich mich als informierter Patient schonmal langsam mit dem worst case anfreunden.

Meine Gedanken entwickeln eine Eigendynamik, die ich nicht mehr so richtig im Griff habe. Ich muss raus. Ich fahre an einen Lieblingsort, ins Emsdettener Venn, ein Hochmoor eine gute halbe Stunde entfernt. Hier bereiten sich schon alle auf den Frühling vor, die ersten Vögel sind bereits angekommen und ein paar junge Kühe springen übermütig auf den Weiden herum. Ich rede sehr ernsthaft mit mir, meine positive Haltung nicht zu verlieren. Und ich rede mit den jungen Kühen, sie antworten auf ihre Weise und machen mir Mut, obwohl es umgekehrt sein müsste. Sie werden mutmaßlich vor mir tot sein. 

Ich mache noch am selben Nachmittag den Termin für den zweiten Anlauf zur Biopsie klar. Diesmal jedoch im Klinikum Münster, das diesbezüglich einen sehr guten Ruf genießt, wobei ich das natürlich nur zur Kenntnis nehmen und nicht objektiv bewerten kann.

27. April 2023

Grüezi

Heute ist mehrstündige Anamnese mit meiner "zweiten Meinung" in der Schweiz. Ganzheitlich. Da tut mir schon allein das Gespräch gut. Jemand, der sich brennend für mein Gesamtbefinden interessiert, womit ich bei den bisherigen Ärztinnen und Ärzten auf völlig taube Ohren gestoßen bin. Nein, die Komplementärmedizin ist nicht der Lapis philosophorum, genauso wenig wie Schulmediziner pauschal arrogante Symptombeseitiger sind. Es ist meine feste Überzeugung, dass die Synergie beider Ansätze zum Ziel führt. Tja, und da es leider immer noch "Interessen" bestimmter Lobbyisten und Dickköpfe (auf beiden Seiten) gibt, muss ich das Steuer wohl selbst in die Hand nehmen und die bestmöglichen Entscheidungen selbst treffen. Ich wünsche mir viel Erfolg und Durchhaltevermögen!

Es ist an der Zeit, meine nächsten Liebsten so langsam in die Sache einzuweihen, sofern sie nicht schon Bescheid wissen. Bei Krebs werden Freunde oder Verwandte in ihrer Hilflosigkeit manchmal selbst zum Problem. Das ist nur allzu gut zu verstehen, aber bleibt mir bitte weg damit. Ich will keine Mitleidsduselei und brauche auch keine Sterbehilfe. Soweit bin ich noch nicht. Das zieht mich nur runter, es schadet mir. Ich brauche die Filetstücke der schönen Momente im Leben. Nichts stärkt mich mehr als das gute Gefühl, als Glücksmomente. Nichts kann mich wirksamer heilen als Lachen, als Zuspruch und als der Diskurs zu dem, was ich tue. Wir können über alles quatschen. Stundenlang. Eine größere Unterstützung gibt es nicht für mich. Aber wer anfängt zu jammern, den setze ich liebevoll vor die Tür. Wenn ich am Ende dann doch an dem Ding verrecke - was ich definitiv nicht vorhabe - ist das eben so, aber dann war es bis dahin wenigstens das beste Leben, das ich haben konnte. Spekulationsmodus aus.

2. Mai 2023

Traurige Nachricht aus Berlin

Auch wenn es absehbar war, hilft es wenig, die Trauer zu mildern. Heute Nacht stirbt meine ehemalige Schwiegermutter und Oma meines Sohnes an Krebs. Ein bizarres Gefühl, einen Menschen in diesem Leben zu verlieren und gleichzeitig selbst vom Tod bedroht zu werden.

3. Mai 2023

8:22h Universitätsklinikum Münster

Heute ist Ersttermin, wir wollen das weitere Vorgehen besprechen. Alles macht einen freundlichen Eindruck. Frische Morgenluft strömt durch das weit geöffnete Fenster im Wartebereich. Draußen scheint die Sonne. Ja, draußen, da, wo ich jetzt lieber wäre. Im richtigen Leben, mit Weitsicht und Horizonten, mit Herausforderungen und spannenden Aufgaben. Nicht mit den Aufgaben vor der Brust, für die ich hier in die Klinik gekommen bin. Meine Blicke scannen die weißen Wände und suchen nach Ablenkung. Immer wieder schaue ich zum Wegweiser an der Wand. Ein Pfeil nach rechts, darüber das belanglose Wort „Hauptausgang“, das in mir den Wunsch erweckt, es sei schon das Schild, dem ich jetzt folgen kann, um das alles hier hinter mir zu lassen. Nein, heute noch nicht. Bald, in Kürze, demnächst, später. Nie? Nein, diesen aufdringlichen Gedanken verwerfe ich. Besser gesagt mein Kopf verwirft ihn. Auf dem Tisch stehen Flaschen mit Mineralwasser, eine ältere Patientin, die auch hier wartet, scheitert am festen Verschluss. Ich helfe ihr. Der Verschluss ist wirklich sehr fest.

4. Mai 2023

Morgenröte ohne Motivation

Um 5:38 Uhr mache ich vom eiskalten Balkon ein Foto von der wunderschönen Morgenröte. Ich habe Aufbruchsstimmung, aber ich weiß nicht wohin. Also lege ich mich wieder ins warme Bett. Der ganze Tag ist elend zäh.

10. Mai 2023

6:30h UKM OP Nr. 1

Freundlich und mit einem Lächeln, das für halb sieben Uhr morgens erstaunlich frisch ist, begrüßt mich der stämmige junge Mann an der Rezeption. Es ist noch ruhig draußen, der Regen fällt auf die Blätter der großen Eiche, das sanft prasselnde Geräusch dringt durch das weit geöffnete Fenster und erfüllt den kleinen Dienstraum mit Leben. „Guten Morgen. Mandorf ist mein Name, ich habe ein Zimmer gebucht für eine Nacht.“ Der stämmige, junge Mann lacht, seine beiden Kolleginnen schauen auf und lachen ebenfalls. „Nehmen Sie gerne noch Platz, ich schaue mal nach, ob ihr Zimmer schon fertig ist.“ Mit einer Handbewegung weist mich der Mann in die Sitzecke. Kaffee steht bereit, ich mag aber jetzt kein Getränk. Die Zeit dafür hätte ohnehin nicht gereicht, denn schon kommt der junge Mann von der Rezeption zurück und teilt mir freudig mit, dass mein Zimmer bezugsfertig sei, ich müsse genau eine Etage tiefer. Ich bedanke mich und nehme das Treppenhaus nach unten.

Eine kleine Dame, ganz weiß gekleidet und mit einem ausländischen Akzent, den ich dem Balkan zuordnen würde, erwartet mich schon und begleitet mich zu meinem Zimmer Nummer fünf. Es ist ein schönes Zimmer mit einem großen Bett, zwei gemütlichen Stühlen und mit Blick in den Park, wo es immer noch regnet. Vom Bett kann man aus dem Fenster blicken, doch bin ich noch nicht müde. Wir besprechen noch das Menü für heute und morgen, dann bekomme ich ein kleines Armband um das Handgelenk, wie es für Touristen üblich ist, die „all inclusive“ gebucht haben. Die kleine Dame in Weiß wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt und lässt mich alleine. Es ist 6:55h, ich bin im Universitätsklinikum Münster. Wann genau meine OP ist, weiß ich nicht. Ich mache es mir gemütlich. Ich warte.

10:55h

Die Zeit vergeht erstaunlich schnell, ich döse im Sessel vor mich hin, schlafe sekundenweise ein und Träume irgendwelchen Unsinn. Forschen Schrittes und pünktlich eine halbe Stunde vor dem OP-Termin kommt Frau Gheaţă, die Stationspflegerin in mein Zimmer. „So, es geht los! Das sind Ihre Sachen.“ Sie legt mir eine Haarhaube und eine winzige Menge Textilien auf den Tisch. „Kennen Sie sich aus? Das ist OP-Hemd, das müssen Sie hinten zu machen, und das ist OP-Schlüpfer. Ist sexy.“ Den Scherz hat sie vermutlich schon oft gemacht, aber sie lacht immer noch darüber. Ihre Lache ist fett und warmherzig. Gheaţă ist zwar das rumänische Wort für Eis, aber das passt ganz und gar nicht zu ihr. Dann zieht sie das weiße elastische Stück Stoff auseinander und ich erkenne mit etwas Phantasie eine Art Unterhose. Nun ja, sexy. Ich ziehe mich um. Etwas luftig bekleidet lege ich mich in mein Bett und decke mich zu, denn es wird mir schnell kalt. Das Fenster ist immer noch geöffnet, der Regen hat aufgehört.

11:20h

Es wird laut als Frau Gheaţă mit dem Fuß die Bremse meines Bettes löst „Entspannen Sie und die Hände schön im Bett, sonst Sie bleiben irgendwo hängen.“ ist Ihre kurze aber bestimmte Anweisung. Ich werde geschickt durch lange Gänge manövriert, die hellen Neonlampen wechseln sich mit der grauen Decke ab. Ich komme mir vor wie bei einer Achterbahnfahrt auf dem Sommerfest in unserer Stadt in den 70ern, wenn die Bremsen gelöst wurden und ich wusste, dass es ab da kein Zurück mehr gab.

Wir sind bereits mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage in den OP-Trakt gefahren. Ich sehe viel Technik, viel Edelstahl und viele vermummte Menschen in modischem OP-Grün. Ich treffe eine alte Bekannte wieder, die nette Anästhesieärztin aus der Vorbesprechung. Ich habe sie an der Brille erkannt, der Rest war verhüllt. Kurze Wiedersehensfreude. Das tut gut.

Alles was jetzt folgt hat eine extrem hohe Ereignisdichte. Informationen werden in Kurztext ausgetauscht, letzte Kontrolle zu meiner Person wird durchgeführt, dass ich auch der Richtige bin, und dass bei mir auch die richtige OP durchgeführt wird. Ich muss laut meinen Namen und mein Geburtsdatum sagen, dann schiebt man mich in den vorgesehenen Operationsraum. Die Anästhesieärztin mit der Brille kommentiert alle relevanten Tätigkeiten, damit ich Bescheid weiß und mich nicht erschrecke. Fast überhört hätte ich dadurch die leise und zaghafte Stimme einer sehr jungen Assistentin: „Ich bin Ines, ich lege Ihnen jetzt einen Zugang, über den wir die Medikamente zuführen.“ Es piekst auf der linken Hand, dann fummelt sie die Verweilkanüle in meinen dorsalen Venenbogen. Ich bekomme nun von Ines über eine Maske geruchlosen Sauerstoff, um mein Blut zu sättigen. Frau Brille, deren Namen ich leider nicht kenne, informiert mich, dass jetzt die ersten Medikamente zugeführt werden und dass ich langsam einschlafen werde. Ich höre meinen regelmäßigen Puls vom Vitaldatenmonitor und schaue aus dem Fenster. Es klart auf und ich schlafe ein.

12:30h

Wach! Tageslicht, frische Luft, Stadtgeräusche. Ich liege gemütlich und warm im Bett. Alles fühlt sich normal an, es herrscht emsiges Treiben im Aufwachzimmer. Sofort sucht meine Zunge aufmerksam nach Veränderungen im Mund. Nichts zu finden, alles beweglich. Die durch den Tubus gereizten Ligamenta vocalia schmerzen ein wenig und beim Schlucken fühle ich leichten Wundschmerz Larynx links. Da irgendwo an den Schmerzen ist also der Zungengrund. Endlich habe ich eine sensorische Zuordnung zur Anatomie.

„Mandorf wach!“ höre ich eine neue, mir unbekannte Stimme aus dem Off, denn ich sehe noch niemanden. Das bin ich, ich bin in Sicherheit, jemand ist da. Meine Sinne sind sofort wieder arbeitsfähig, es ist so wie das Erwachen aus einem sehr tiefen Schlaf. Wider Erwarten geht es mir blendend, nicht so wie vor 30 Jahren, als mir einmal unglaublich schlecht war beim Aufwachen aus einer Narkose. Ich bin sehr froh und genieße den Zustand.

In diesem Moment taucht auch die Person zur Stimme aus dem Off auf. Es ist eine kleine, muntere Frau meines Alters mit gesunder Bräune im Gesicht. Jedenfalls in dem Teil des Gesichts, den ich hinter dem grünen Kostüm erkennen kann. Freundlich verwickelt mich, nennen wir sie Frau Grünklein, in ein Gespräch und befreit mich behände von all den Schläuchen, Kabeln und Strippen, die mich noch fesseln. „Geht’s Ihnen gut? Haben Sie Schmerzen? Ist Ihnen schwindlig?“ „Dreimal Nein, mir geht es blendend.“ ist meine Antwort. Nun, laut ausgesprochen klingt dieses „blendend“ etwas prahlerisch und übertrieben. Aber so fühle ich mich gerade, und zum ersten Mal höre ich meine Stimme. Sie klingt ganz normal, so wie nach vier Taliskern und einer nächtlichen Thekendebatte in einer Raucherbar. Frau Grünklein lächelt und reißt mir die Elektroden von der Brust. Aua. „Ach, bei den jungen Leuten geht das Aufwachen immer so einfach. Meine Tochter ist 26, die sagt immer, Mama, mach schnell. Aber das geht nicht mehr so. Ich bin schon 60 und dafür geht es noch ganz schön gut.“ Ich fühle mich geschmeichelt und gestehe ihr, dass ich genauso alt bin wie sie.

„Nein, ich habe sie für Anfang 40 gehalten.“ antwortet sie und schaut mich lange an, als wolle sie ihre leichtfertige Schätzung verifizieren.

Ich bedanke mich indessen für das Kompliment bevor sie es zurücknimmt und denke mir, dass es vielleicht an der sexy OP-Wäsche von Frau Gheaţă liegt. Ich werde abreisefertig gemacht und werfe noch kurz einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne scheint vereinzelt durch Wolkenlücken.

12:55h

Frau Grünklein löst, wie immer unvermeidlich lautstark, meine Bettbremse und schiebt mich los. Sie ordnet sich gekonnt in den fließenden Verkehr des Flures ein und wir passieren die vielen OP-Säle rechts und links. Überall arbeiten grüne Menschen an Hightech-Geräten, tragen komische Instrumente hin und her, rufen sich Zahlen und Fachtermini zu und leiten jedes Kommando mit dem Vornamen des Empfängers ein. Mich erinnert das an die Grünen Weberameisen, die ich aus Südostasien und Australien kenne (Ach, wie viel lieber wäre ich jetzt dort!), wenn sie ihre vielen einzigartigen Freinester bewirtschaften und kunstfertig verspinnen. Frau Grünklein könnte mich doch jetzt einfach hier abstellen und ich wäre mit Sicherheit für die nächsten Stunden absorbiert von dem eifrigen Treiben. Ganz im Ernst, ich habe über zwanzig Jahre meines Arbeitslebens weltweit als IT-Prozessberater verbracht und war oft davon fasziniert, wie irre manche Prozesse ablaufen. Aber was hier an Logistik und Teamwork abgeht, erscheint mir unglaublich. Und hier werden keine Automotive Kabelbäume oder profane Spritzgussstecknippel hergestellt, hier werden Menschen zerlegt und wieder zusammengenäht.

Mit einem leisen Ping öffnet sich der exklusive Bettenaufzug für meinen Abwärtstransport. Frau Gheaţă grinst mir schon entgegen und nimmt mich in Empfang. „Hallo, Herr Mandorf! Wie geht es?“ Während ich erneut mit dem übertriebenen „blendend“ als Antwort prahle, winke ich Frau Grünklein noch zum Abschied zu. Die Aufzugtüren schließen sich geräuschlos, wir fahren abwärts.

„Willkommen im Club“, ist die freundlich gemeinte Begrüßung meines Zimmernachbarn als ich in den Raum geschoben werde. Er ist ein kräftiger, muskulöser Mittfünfziger, der in furchtbar unmodischen Pantoffeln betont ruhig am Fenster auf und ab schlurft. Frau Gheaţă stellt mich ab, klemmt mein Entertainmentmodul an und legt den Notknopf bereit. „Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie, dann kommt meine Kollegin!“ Sie verschwindet.

Jetzt begrüße ich auch beide Zimmernachbarn, es gibt nämlich noch einen zweiten, der aber nur mit einem fröhlichen „Jetzt können wir wenigstens Skat spielen!“ antwortet. „Ja!“, lache ich, denke aber innerlich über die Begrüßungen nach. Sie waren freundlich und warm, und ich habe mich als Dritter im Bunde sehr willkommen gefühlt. Aber da stimmt was nicht. Ich bin nicht der Dritte in diesem Bunde. Die gut gemeinten Worte waren deutlich von Angst und schwindender Hoffnung konnotiert. Es klang für mich, der ich durchaus die gleiche abgesicherte Diagnose befürchten darf wie diese beiden Männer, erschreckend. Und unnötig. Natürlich kenne auch ich diese Gedanken, die einen in ihren Bann ziehen wollen. Diese dunklen, giftigen Stimmen, die in den schwächsten Momenten feige aus dem Hinterhalt herankriechen, die auf perfide Weise Fatalismus als Realismus verkaufen und jeden positiven Augenblick einfrieren und vernichten. Doch wie soll ich dieser sirenengleichen Rhetorik widerstehen? Ich habe keine tapferen Seemänner, die mich in meinen schwächsten Momenten fester fesseln und vor dem Sog ins Verderben bewahren. Die Diskussionen, ob diese dunklen Gedanken richtig oder falsch sind oder ob meine in Folge selbstgebastelte Überlebensprognose das Gauß‘sche Mittel träfe, sind sinnlos! Mir hilft nur die einzig entscheidende Frage: „Helfen mir diese dunklen Gedanken?“ Jetzt und heute. Auch wenn es eine geschlossene Frage ist, gibt es hierauf nämlich keine zwei Antworten. Nein, sie helfen nicht! Weil - dächte man sie zu Ende - sie niemals zu einem positiven oder nützlichen Ergebnis führen. Nennt mich Träumer. Ja, gerne! Und wisst Ihr warum? Weil aus Träumen Entscheidungen geboren werden und durch Entscheidungen werden Wege gewählt. Vielleicht sind es ja gute Wege oder sogar Auswege. Oder sind gute Wege nicht schon Auswege?

Dagegen bleibt der Resignation in ihrer paralytischen Entscheidungsunfähigkeit nur das Wunder von außen. Meistens geschieht dieses Wunder aber nicht und alles endet genau im Gauß‘schen Mittel. Und da ist sie wieder, die sich selbst erfüllende Prophezeiung oder kurz: „Ich hab’s doch gesagt.“ Ich aber will zum Rand der Gaußkurve, zu dem Rand, wo bunt und lebenswert und glücklich steht. Glück ist kein Zufall, Glück ist eine Entscheidung!

Herr Mittfünfziger wird zur OP abgeholt und Herr Skatspieler bekommt Besuch von seiner netten Familie. Achtsamer Weise verziehen sie sich in den Besucherbereich, um mich nicht zu stören. Ich bin sehr dankbar für die Ruhe nach all den bewegenden Eindrücken und bedanke mich. Ich schreibe, nur von gelegentlichen Blicken nach draußen unterbrochen, bis tief in die Nacht. Abendhimmel, grün wird zu schwarz, ich schreibe alles auf.

12. Mai 2023

11:50h Uniklinikum Münster

Gestern in der Früh durfte ich nach Hause und heute bin ich schon wieder hier, wo die letzten Tage so viel passiert ist. Die gleiche Anmeldung, der gleiche Wartebereich. Befundbesprechung steht als einziger Punkt auf der Agenda. Ich warte. An der Wand informiert immer noch das verheißungsvolle Schild „Hauptausgang“ über den Weg nach draußen.

Die letzte Nacht im eigenen Bett war erholsam, ich habe mich ja wie erwähnt schon gestern aus dem KH entlassen lassen, um mich ausschlafen zu können. Um zu Hause zu sein und um aus dem Karussell auszusteigen. Da ist mir jede Nacht wichtig. Ich fühle mich jetzt ausgeruht und habe Kraft. Kraft für das, was gleich kommt? Nein, das wird mich nicht umhauen, längst rechne ich auch mit einem positiven Befund, obwohl offiziell immer noch der „Verdacht“ als einzige valide Formulierung auf dem Papier steht. Im Gegensatz zur letzten Woche fokussiere ich mehr und mehr auf positive Ereignisse, auf eine Wende, die das ganze finstere Spiel kippt. Oft muss ich mich bremsen, weil ich Angst habe, eine Hoffnung zu schüren, die zur Erwartung wird. Und Erwartungen sind jetzt das, was ich am wenigsten gebrauchen kann. Hoffnung ist erlaubt. Aber egal was in wenigen Minuten passieren wird, kein Weg, der dann vor mir liegt, wird mich überraschen oder mich vor völlig Neues stellen. 
Ich denke gerade an Schrödinger, den mit der Katze. Ich sitze hier im Wartebereich und nebenan im verschlossenen Sprechzimmer liegt mein Befund. Er ist die Katze. Sie lebt oder sie ist tot. Der Befund ist positiv oder negativ. Für die Katze ist alles schon entschieden, für mich ist alles noch offen. Positiver oder negativer Befund. Wellenfunktion. Superposition.

Ich werde aufgerufen, Schrödingers Katze ist tot.

27. Mai 2023

Pfingstwochenende

Jetzt sind schon vierzehn Tage vergangen, der Termin für meine OP steht nach einigen Wirren fest. Es ist der 31. Mai. Die nette Ärztin hat mir seinerzeit genau erklärt, was gemacht wird. Aus chirurgischer Sicht eine faszinierende Aktion, was so alles geht am menschlichen Körper. Aus meiner ganz persönlichen Sicht eher weniger faszinierend. Nun, das hängt ganz sicher damit zusammen, dass es an meinem Körper gemacht wird. Mein gutes, passives Medizinverständnis hilft mir zwar bei der Einsicht der Notwendigkeit, kaum aber bei der Begeisterung für diese Aktion. Auch wenn sie der vielleicht beste und vielversprechendste Weg zur Beseitigung des zentralen Übels ist. Auf chirurgische Einzelheiten möchte ich an dieser Stelle verzichten, mit Rücksicht auf diejenigen, die diesen Text möglicherweise vor meiner OP lesen und dadurch zur übermäßigen Sorge verleitet würden.

Die Zeit vergeht. Meine Aufmerksamkeit gilt meinem Dachgarten und der Zubereitung von gutem und gesundem Essen. Vielleicht verrate ich ja demnächst mal meine Lieblingsrezepte. Zur Erhaltung der Abwechslung in meinem Speiseplan habe ich nämlich vieles ausprobiert und das mit einer erstaunlichen Erfolgsquote. Die spannendste Kreation ist eine improvisierte Sauerkraut-Brokkoli-Suppe. Shooting Star meiner ewigen Suppenliste!

Der größte Teil der Warterei ist mittlerweile geschafft. Am Dienstag muss ich wieder ins Uniklinikum Münster, dann steht eine größere Nummer an als beim letzten Aufenthalt. Ich genieße zusammen mit meiner Freundin die herrlichen Sonnentage, wir hängen auf der Dachterrasse in der Sonne oder machen lange Spaziergänge im Emsdettener Venn, einem wunderschönen Hochmoor, wo zurzeit sehr viele Vögel rasten oder brüten. Störche, Kanadagänse und Uferschnepfen lassen sich manchmal samt Nachwuchs mit einem guten Fernglas leicht beobachten. Hier herrschen Ruhe und Langsamkeit und trotz Pfingstwochenende ist hier nichts los. Mir tun die Sonne und die frische Luft sehr gut, es macht mir große Freude, den Frühling explodieren zu sehen. Böse Gedanken haben hier draußen kaum Chancen, Gehör bei mir zu finden und wenn, dann scheitern sie gnadenlos am guten Lebensgefühl und der Zuversicht.

Ganz anders sieht das aus, wenn der Abend kommt und es empfindlich kalt wird auf der Terrasse. Da gehe ich lieber rein und mache es mir in Fleece und Jogginghose gemütlich. Zumindest so gemütlich wie es meine provisorische Hütte zulässt. Ein heißer Tee, ein bis zwei Kerzen und eine kleine Funzel in der Zimmerecke erzeugen ein Minimum an Wohnlichkeit und Behaglichkeit hinter meinem kleinen Schreibtisch. Es ist das provisorische Maß an Wohlbefinden, dass es mir ermöglicht den dunklen Gedanken etwas Einhalt zu gebieten und meine gute Stimmung beizubehalten. Sie ist mein höchstes Gut, das es gilt zu schützen und zu pflegen. Nun ja, ich kann froh sein, es hat die längste Zeit gedauert. Wenn ich in zwei Tagen ins Krankenhaus gehe, habe ich ja erst einmal zwei Wochen Vollpension vor mir. So zumindest haben es die Ärzte grob abgeschätzt. Und genau in der Zeit wird meine neue Küche geliefert. Meine Schwester wird die Montage überwachen und wenn ich wieder nach Hause komme ist das Herzstück meiner Wohnung startklar. Was für eine Vorfreude und Motivation!

30. Mai 2023

7:30 h Aufnahmetag

Der Tag beginnt heute für mich um halb acht. Es ist hektischer als am Aufnahmetag vor ein paar Wochen. Meine Freundin ist auch noch zu Besuch und hat mich die vergangene Woche mit viel gemeinsamer Zeit unglaublich unterstützt. Wir haben uns entschieden, mit den Öffentlichen zu fahren anstatt mit dem Auto. Das bedeutet, wir schauen sehr häufig auf die Uhr. Um 10:03 h fährt unser Bus und den dürfen wir nicht verpassen. 
Frühstücken, Altglas und Müll runterbringen, Blumen gießen, restliches Zeug in die Tasche packen, alles ausschalten. Fertig. Eigentlich ist es wie bei einer Urlaubsreise, ein schöner Gedanke. Ich versuche, mich an der Vorstellung festzuhalten, dass ich jetzt in den Urlaub fahre. Es funktioniert aber nur mäßig. Wir ziehen die Tür hinter uns ins Schloss. Draußen ist es frühlingshaft frisch, ich mache die Jacke zu.
Der Bus ist beruhigend pünktlich, dann ziehen weite Getreidefelder am Fenster vorbei. Wir biegen nach kurzer Fahrt am Bahnhof ein. Umsteigen auf die Bahn, Gleis 1, erneutes Warten in der Sonne. Das ganze Drumherum lenkt mich wirksam von der Aufregung ab. Absurderweise bestand die vergangene Woche trotz der schönen Zeit aus zermürbendem Warten und ich hätte es lieber früher als später beendet. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Krankenhaus, endlich! Und doch nicht. Wie gerne wäre ich heute Morgen liegengeblieben und hätte noch ein paar Tage gewartet. Nein, nicht wirklich, denn es wird höchste Zeit, dass es weitergeht. 

Der Zug fährt ein und ich setzte mich auf die Sonnenseite ans Fenster. Wieder sehe ich viele Felder vorbeifliegen, der Zug ist zu schnell, um die Getreidearten zu unterscheiden. Die lauten Ansagen der Haltestellen stören meine Träumerei von einer Urlaubsreise. Es ist angenehm warm auf dem Fensterplatz in der Sonne. Einfahrt Münster, Gleis 8, pünktlich. Meine Freundin steigt um in den Schnellzug nach Hause, ich muss zum Bus. Ein kurzer Abschied auf dem Bahnsteig, wir chatten später noch. Mehr Abschied halte ich jetzt nicht aus.
Mein Bus Nr. 12 ist nicht leicht zu finden, ich habe aber genug Zeit und finde einen ganz anderen Bus, der sogar einen Umweg fährt und mir eine beschauliche Stadtrundfahrt beschert. Domagkstraße, ich bin da und immer noch zu früh. Ein kleines Eiscafé an der Ecke mit dem vielversprechenden Namen „San Remo“ lädt mich geradezu ein, die überschüssige Zeit wie Urlaub zu verbringen. Eine heiße Schokolade, natürlich mit Sahne, ist eine gute Alternative zum Kaffee, der mich nur noch mehr aufgeregt hätte als ich eh schon bin. Herrlich, also doch Urlaub. In San Remo.

12:05

Ich sitze wieder in dem Wartezimmer, dass ich ja mittlerweile kenne. Jenes Wartezimmer mit dem kleinen Schild „Hauptausgang“. wieder die gleichen Gedanken dazu und auch wieder die gleiche Zeremonie der Aufnahme. Ich bin mittlerweile schon routiniert. Die Anästhesieärztin ist dieses Mal eine andere, aber genauso nett wie die Kollegin vor zwei Wochen. Von ihr erfahre ich, dass die Anästhesie im Grunde genau die gleiche ist, die ich für die kurze Biopsie vor ein paar Wochen bekommen habe. Sie dauert nur etwas länger, weil ja etwas mehr gemacht werden muss. Dann gehen wir in die Einzelheiten, es wird spannend. Die Spannung entsteht einzig durch den winzigen Umstand, dass das alles an mir vollzogen wird. Ich betrachte das wissenschaftlich mit allem medizinischen Verständnis, das ich aufbringen kann. Das ist nicht einfach, funktioniert aber. Wir reden über diverse Zugänge zu Venen und Arterien, Luftröhrenpassagen, Katheter und ad hoc Messungen von Vitalparametern. Für mich ein Bildungsprogramm mit anschließendem Praktikum im Selbstversuch. Schließlich dauere es ja etwas länger, deshalb müsse das alles so gemacht werden, informiert mich die nette Ärztin. Damit schaffe man Sicherheit und weniger Probleme in der Heilung. 
„Wie lange wird die Operation in etwa dauern?“, frage ich. Denn dazu habe ich bisher keine Recherchen angestellt. 
„Ich schaue mal nach“, antwortet Frau Doktor, „es sind zehn Stunden angesetzt.“ Mir fällt die Kinnlade herunter, damit habe ich nicht gerechnet. Dass da ein ordentlicher Zeitpuffer mit drin ist, relativiert die Aussage zwar, aber mit fünf oder sechs Stunden solle ich schon rechnen. Wissenschaftlich sehr plausibel! Gut, dass man sich soviel Zeit für ordentliche Arbeit nimmt. Ich bin sehr beruhigt - wissenschaftlich betrachtet.
„Tschüss, Herr Mandorf, wir sehen uns morgen.“ 
„Bis morgen, Frau Doktor.“

14:09

In Ruhe kann ich nun mein Zimmer zwei Etagen höher beziehen und habe den Nachmittag bis 16:00h Zeit, das schöne Wetter zu genießen. Dann ist Besprechung mit den Ärzten. Ich wünsche mir auch dafür neue nette Bekanntschaften und wohltuende wissenschaftliche Informationen. 

16:10 Gespräch mit zwei verantwortlichen Ärzten.

Die operativen Details sind mir ja schon weitestgehend bekannt, die zehn Stunden Operationsdauer werden bestätigt. Außer, dass in der Gewebeprobe DNA-Fragmente von Papilloma-Viren von den Pathologen gefunden wurden, war nichts neu. Die Viren sind eine gute Nachricht, denn angeblich sind die Verläufe von viral assoziierten Tumoren eher besser. Weiter positiv ist die beiläufige Bemerkung, dass man diese Operation ein bis zweimal pro Woche macht. Das nimmt ein richtig dickes Stück aus der ziemlich üblen Suppe raus. Den Rest der Brühe muss ich wohl oder übel schlucken, wenn ich das böse Etwas loswerden möchte. Nun, und diese Brühe besteht aus möglichen Komplikationen und Risiken. Die wichtigsten besprechen wir, auf den Rest verzichten selbst die Ärzte, es ist der „chirurgische Beipackzettel“. Die tiefe Kuhle auf der Achterbahn kommt unmittelbar nach dem Gespräch, der Kreislauf signalisiert die zerebrale Verarbeitungsgrenze und gebietet eine Zwangspause. Es ist etwa so als wolle man eine volle Regentonne in ein Waschbecken entleeren. Overflow! 
Eine kleine Menge Kochsalzlösung und der entspannte Liegesitz beheben die missliche Lage augenblicklich, wir sind ja jetzt auch fertig mit den schlimmen Sachen. 

18:35 Ich brauche frische Luft und normales Leben.
Der Aasee ist nicht weit von hier, die Abendsonne hat noch Kraft, also raus aus der Anstalt und zum See. Es tut gut und ich sehe, dass die normale Welt noch da ist. Ich führe mehrere Telefongespräche mit meinen Lieben und Schritt für Schritt wird das vorhin Gehörte fassbarer. Erklärbarer. Relativer. Es ist nicht mehr das unvermeidliche Ende meines bisherigen Lebens, ganz im Gegenteil, das Waschbecken lässt das Regenwasser gut abfließen, die Tonne leert sich zusehends. Am Ufer weiden ganz ruhig die Kanadagänse mit ihren Gösseln und ich einige mich mit meiner Seele auf „irgendwie machbar“. Es wird kühl. 
 

20:15
Inzwischen habe ich diverse organisatorische Dinge erledigt, Abendbrot gegessen und musste mein Einzelzimmer einem Kind überlassen, das geht vor. Aber es sollte nicht zum Nachteil sein. Ein junger, sehr netter Zimmernachbar begrüßt mich, ich kann unschwer erkennen, dass er das, was ich morgen vor mir habe, schon hinter sich hat. Während ich meine Sachen einräume kommen wir schnell ins Gespräch, natürlich per Du und ohne Umschweife auch auf die wesentlichen Inhalte.
„Krebs?“ ist seine erste Frage.
„Ja, Zungengrund. Große Nummer, aber irgendwie machbar, und Du?“, möchte ich im Gegenzug wissen.
„Ja, auch Krebs. Mischung aus Haut und Gewebe. Selten. Ganze rechte Seite.“ Er zeigt auf seine ballongroße, betroffene Gesichtshälfte. „Acht-Stunden-OP. Vorgestern“, ergänzt er. 
Nun steigt die Unterhaltung tief in fachliche Details ein. Der Informationsgehalt ist hoch verdichtet, denn Männer lassen ja bekanntlich bei wichtigen Sachverhalten die semantische Dekoration weg. Das verkürzt den Dialog und reduziert den kognitiven Aufwand. Es tut gut. Besonders seine positiven Erfahrungen hier im Krankenhaus sind sehr wertvoll und beruhigen mich nachhaltig.

23:35
Nachdem alles mit meinem Zimmergenossen geklärt ist, schreibe ich noch das Erlebte nieder. 
Jetzt ist es schon fast Mitternacht und ich werde nun versuchen, etwas zu schlafen.

Für meine eingeweihten Freunde habe ich noch eine Kommunikationsgruppe eingerichtet. Wenn alles vorbei ist, werde ich vielleicht in den Seilen hängen und mich nicht zurückmelden können, weshalb meine Schwester nach der OP angerufen und über den Stand der Dinge informiert wird. Sie wird es weitergeben. Ich muss mich um nichts kümmern.
Und so vergeht der Rest der ruhigen Nacht. Schlafen ist schwierig, der Kopf geht nicht ganz aus, obwohl ich sehr ruhig bin und dem Ganzen durchaus positiv gegenüberstehe. Frische Luft kommt durch das weit geöffnete Fenster. Einatmen, ausatmen.

31. Mai 2023

OP Nr. 2, der Tag, der nicht existiert.

7:00h, Station B

Es ist schon lange hell, gerade geht leise die Sonne auf und leuchtet orange in mein Zimmer Nummer fünf. Ich bin schon mehrmals den langen Stationsflur entlanggelaufen. Ich möchte meinen Kreislauf in Schwung bringen und nicht müde in eine so lange OP gehen. Dann ist es auch schon soweit, die Stationsschwester bringt mir mein OP-Kostüm. Natürlich ist auch wieder diese komische Unterhose dabei. Ich ziehe mich flott um, schließe meinen ganzen Kram in den Schrank und lege mich ins Bett.

"So, es geht los, Herr Mandorf!", informiert mich die Schwester und schon schiebt sie mich gen Bettenaufzug ins OP. Bevor sie mich aber mit den vielen Menschen in der Einleitung alleine lässt, übergebe ich ihr noch meinen Schrankschlüssel und verabschiede mich. "Bis heute Abend."

Alle Menschen sind wieder ausgesprochen nett und verkabeln mich an ungezählten Stellen. "So, Herr Mandorf, alles fertig. Ihr Blutdruck ist prima, Puls auch, Sauerstoffsättigung 97 Prozent. Den Rest machen wir, wenn Sie schlafen, das ist bequemer für Sie." "Ja, natürlich," denke ich mir. Nun liege ich da und habe 11 Stunden Operation vor mir. Einerseits fühle ich mich total ausgeliefert, andererseits habe ich eine solide Form von Vertrauen entwickelt. Ich werde nichts merken, ich werde, wenn ich gleich einschlafe in der nächsten gefühlten Sekunde auch wieder wach werden.

Sauerstoffmaske, der rechte Handrücken wird kühl. Das erste Medikament läuft ein, die Lichter an der Decke tanzen harmonisch im Kreis. Weg!

Ca. 18:00 h

Wach! Liege irgendwo im Aufwachraum, das Licht der Sonne hat schon Abendtöne. Es tut nichts weh, es fühlt sich alles dick und durcheinander an. Rachen, Hals, Schulter, Schlüsselbein, linker Arm, alles taub. In Hals, Nase und an noch ganz anderen Stellen spüre ich viele Schläuche. Allein drei enden dort, wo jetzt ein Loch im Hals direkt in meine Luftröhre führt. Andere kommen direkt aus den Wunden, das sind Redon Drainagen. Meine linken Finger kann ich alle bewegen und natürlich probiere ich den linken Arm zu heben. Es geht, sollte ich doch Glück gehabt haben mit dem Armhebernerv?
Der Tag ist um, Menschen, die heute Morgen zur Arbeit gingen, kehren jetzt zurück nach Hause. Die Pflegerinnen haben auch gewechselt, es läuft die Spätschicht. Im Radio waren zehnmal die Nachrichten zur vollen Stunde. Ein ganz normaler Tag, der in meinem Leben nicht vorkommt. Irgendwann taucht der Oberarzt auf und beglückwünscht mich zur guten OP. Alles sei komplikationslos gelaufen. Der Tumor aus der Zunge sei komplett raus, die beiden dicken Lymphknoten waren hartnäckiger, aber sind auch raus. Den Armhebernerv konnte er leider nicht retten, der war tief eingewachsen. Ich zeige ihm stolz die Armhebefunktion links, er freut sich. Das sähe doch vielversprechend aus. Mit meiner Schwester habe er auch schon telefoniert, sie habe sich sehr gefreut und sendet Grüße. Ich bedanke mich mit einer Geste, denken ist mühsam und die Kommunikation ist anstrengend. Ich kann ja nicht sprechen.

20:00 h

Ich bin nun auf Station, genauer auf der Überwachungsstation. Das bedeutet, alle Vitalfunktionen werden permanent überwacht. Alle kümmern sich herzlich um mich, die Absaugerei der Lunge ist sehr gewöhnungsbedürftig. Es erzeugt jedes Mal einen imposanten Hustenanfall, als würde ich ersticken. Frapanter Weise kann ich aber immer weiteratmen. Einfach durch das Loch im Hals. Durch den Mund geht's ja nicht. Geschwollen. Eine Situation völliger Abhängigkeit. Selbst wenn ich wollte, ich könnte jetzt nicht einfach von hier weggehen und überleben. Ein einzigartiges Gefühl. Aber man kümmert sich ja wie gesagt herzlich um mich. Ich fühle mich sicher. 

Mir gehen hunderte Gedanken ungeordnet durch den Kopf. Manchmal weiß ich nicht, ob ich wache oder träume. Dann schrecke ich hoch, weil ich wieder das Atmen vergessen habe. Auch wenn die Schwester sagt, dass man nicht ersticken kann, weil das Atmen ein Reflex sei, der von der Sauertsoffsättigung gesteuert wird, hilft das meiner subjektiven Wahrnehmung wenig. Ich bin gespannt auf meine erste Nacht.

1. und 2. Juni 2023

Denkfragmente und Ereignissplitter

Es beginnt eine endlose Zeit, die nichts mit normalem Leben zu tun hat. Ich schalte meine Zeitwahrnehmung aus, soweit es möglich ist. Hell und Dunkel wechseln sich ab, draußen ist Sommer, liebe Pflegerinnen und nette Pfleger wechseln. Es passiert in den 48 Stunden nach der OP soviel mit mir. Nicht nur äußerlich, sondern auch im Kopf. Von neuen Reiseplänen bis zu Sorgen, wie die Zukunft wohl für mich werden mag, ist alles dabei. Leider ist es nicht möglich, alles zu behalten. Ich muss das irgendwann aus dem Gedächtnis rekapitulieren, eine andere Möglichkeit habe ich nicht.

Auch wenn ich gestern schon aufstehen konnte und heute ebenfalls, liege ich die meiste Zeit völlig verstrickt ruhig im Bett. Mittlerweile habe ich meinen elektronischen Alleskönner bekommen, mein Smartphone. Aber alles kann es dann eben doch nicht, es kann mich nicht wieder sprechen lassen. So gestaltet es sich schwierig, Gedanken aufzuschreiben. Ich kann nicht diktieren und die Hände lange zum Tippen hoch in der Luft halten schaffe ich noch nicht. Zudem passiert trotz der Zwangsbettlägrigkeit eine ganze Menge.

Alle Venenzugänge kommen bis auf einen weg, der Blasenkatheter wird gezogen und schon wieder bin ich einige Meter gelaufen. Später soll ich auf die Station. Das ist auch gut so, denn seit zwei Tagen liegt eine Wachkomapatientin mit mir im Zimmer und das ist schon eine beängstigende Geräuschkulisse. Tagsüber kommt stundenweise ein Presslufthammer dazu, na ja, auch ein Krankenhaus muss mal renoviert werden. 

Visite: Ich habe mir mühevoll Fragen und Notizen für den Arzt im Handy notiert, die ich ihm später zeige:

"Ich schlafe immer ein und vergesse zu atmen. Ich träume dann und schrecke hoch. Das macht mich sehr unruhig."
"Ich habe kalten Nachtschweiß, fühle mich aber angenehm warm."
"Mir ist leicht übel. Vom Schleim schlucken? Das sind Unmengen. Kann ich mich damit ernsthaft verschlucken?"

Alle Fragen werden umfangreich beantwortet und erläutert. Es besteht nirgendwo Grund zur Sorge. "Gewohnheitssache, Herr Mandorf!", lächelt der junge Assistenzarzt vertrauenserweckend. Ich glaube ihm.

Dann schiebt er mir noch gekonnt das flexible Endoskop durch die Nase bis in den Rachen. Er tut es wirklich nicht gerne, weil er weiß, dass es ein Scheißgefühl ist und das macht ihn sehr menschlich. Es gibt keine bessere Wundkontrolle, also nicht lange jammern, machen!
"Top! Das sieht ja richtig gut aus. Und das schon nach zwei Nächten. Transplantat liegt sauber drauf, Vernähungen sind perfekt." Gemeint ist das Transplantat meines linken Handgelenks, das jetzt den Defekt im Zungengrund deckt. Die Ärzte nennen das nur "Lappen". 

Am Nachmittag des 2. Juni kehrt Ruhe ein und ich werde gegen 17:00 Uhr durch lange unbekannte Gänge zurück auf Station B gefahren. Jetzt wohne ich in Zimmer Nummer zehn. "Am Ende des Ganges links" (Warten auf Godot, 1. Akt, Estragon. Was für eine Erinnerung an meine Essener Zeit als Schauspieler). Fenster und Tür sind weit geöffnet, ich bin alleine, die frische Luft tut gut. Vögel stimmen ihren Abendgesang im Klinikgarten an und die Amsel ist Countertenor des Ensembles. Ich habe einen Fensterplatz und nachher, wenn ich nicht schlafen kann, wird der stumme Vollmond wieder gelblich scheinen. Er ist genauso stumm wie ich es gerade bin, wir freunden uns an.

5. Juni 2023

Next Neck Dissection - rechts

Kaum dass die zweite OP nach über zehn Stunden glücklich und komplikationsfrei überstanden ist, soll es heute auf der rechten Seite weitergehen. Nach Abwägung aller Optionen und dem Vieleaugenprinzip ist es das Klügste, dem Standardprozedere zu folgen und die Level II-V auf der rechten Seite prophylaktisch ebenfalls ausräumen zu lassen. Nach den Erläuterungen der netten Ärzte hier eine kleine Sache von einer guten Stunde oder zwei, dann sei ich auf der sicheren Seite. "Zweizeitig" nennen die Mediziner das. Sie haben die große OP links von der kleinen rechts zeitlich getrennt. Dann können sie bei der Gelegenheit unter Narkose gleich gucken, ob alles aus der großen OP noch an Ort und Stelle sitzt und richtig verheilt. 
Es ist halb elf vormittags und es geht los. Das Umkleiden für die OP ist schon Routine und Angst habe ich auch keine mehr, seit ich weiß, dass das Aufwachen aus der Narkose nicht mit Übelkeit oder Schmerzen beginnt. Dennoch fühle ich mich auf eine deutlich wahrnehmbare Art und Weise in einer Maschinerie, auf einem Fließband. Jeder Prozessschritt ist einprogrammiert und so ganz genau erklärt einem keiner die einzelnen Steps. Dann jetzt noch dieser Schritt. Ich werde wie immer abgeholt und in die bekannte fünfte Etage gefahren. Manche Gesichter kenne ich schon und es begrüßt mich tatsächlich ein Anästhesist mit Namen und der Frage, wie es mir nach der großen OP ginge. Das tut richtig gut und mildert mein vorausgegangenes Gefühl, als Anonymus durch den schulmedizinischen Fleischwolf gedreht zu werden.
Dann die Einleitung, wieder dreht sich die Decke, ich schlafe ein und erwache im nächsten Augenblick. Eine Drainage mehr im Körper, um sechzehn Lymphknoten ärmer und nun auch auf der rechten Halsseite hübsch in weiß verpflastert. Mir geht es gut, ich freue mich geradezu wach zu sein und wie es aussieht bin ich auch sehr stabil und munter, so dass ich recht schnell wieder auf mein Zimmer gefahren werden kann. Das war's und ich hoffe auf eine entspannte Nacht mit meinem Freund dem Vollmond.

7. Juni 2023

Alle Jobs erledigt, Tests bestanden…

Wo die letzten Tage geblieben sind, weiß ich nicht so genau. Ich hatte schon am letzten Samstag Besuch von der Familie und wir waren draußen etwas spazieren, eine Wohltat. Gestern ist in meiner Abwesenheit meine neue Küche geliefert und montiert worden. Schwesterchen hat's organisiert. Was für eine Vorfreude darauf, wenn ich nächste Woche hier rauskomme und zu Hause alles fertig ist. Und an diesem Donnerstag war ich Eis essen mit einer Schulfreundin meines Sohnes, die in Münster studiert. Auch das war eine Riesen Freude. Tagsüber döse ich viel, mache für jeden Löffel einen extra Gang, ich muss mich dringend bewegen. Nachts durchmesse ich den langen Krankenhausflur und hüpfe zum Amusement des ganzen Pflege-Teams nur über die dunklen Bodenfliesen, die hellen darf ich nicht betreten. Ein altes Kinderhüpfespiel, das ich auf den bunten Nachkriegsbürgersteigen seit den 1960ern oft gespielt habe. Dabei trage ich immer noch mein OP-Hemd (nein, die sexy OP-Unterhose habe ich gewechselt), es gibt nichts Bequemeres, warum also nicht?

    Dann kommt Mittwoch, der große Tag:

    Redons raus. Alle Verbände ab. Magensonde ziehen… das fühlt sich an, als hole man den längsten Rotzefaden seines Lebens hoch 🙈.

    Ein Schluckvideo wird gedreht. Das war echt spannend: Blaues Wasser, grüner Wackelpeter, sandiger Keks im ersten oralen, digestiven Prozessschritt auf Video aufgenommen. Alle Tests laufen perfekt. Der Oberarzt hat dann im Replay für mich eine Rachenführung gemacht bis zum abgedeckten Zungengrund. Dort habe ich mein Handgelenk wiedergetroffen. Es wird sich sicher schnell an seine neuen Aufgaben gewöhnen. „Herr Mandorf bekommt Vollkost, keine Körner!“, ist sein Fazit.  

    Oben auf Station werden beim Assistenzarzt die Fäden aus dem Tracheaschnitt gezogen und abgeklebt. Das soll sich in wenigen Wochen von selbst schließen. Falls nicht, hilft man mit ein, zwei Stichlein nach. 

    Dann darf ich essen! In langen zwei Stunden verspeise ich drei Maultaschen mit Gemüsesauce, einen Salat und einen Joghurt. Zum Birnen-Schoko-Kuchen brühe ich mir einen Instantkaffee auf. Es ist der erste Rückgewinn eines kleinen Stücks von Lebensqualität!

    Der Verwirrte im Garten

    Am frühen Abend habe ich einen alten Mann vom Fenster aus im Klinikgarten gesehen. Er suchte offensichtlich nach dem Ausgang. Ein anderer, hilfsbereiter Patient zeigte ihm den Weg zum Pförtner. Hier in der Klinik laufen einige Gespensterpatienten herum, die ständig abhauen wollen und in voller Montur und gepackten Koffern plötzlich im Flur stehen, zum Leidwesen des Pflegepersonals, das sie dann wieder einfangen muss. Kurz darauf traf ich jenen alten Mann aus dem Garten überraschenderweise im Besuchsbereich unserer Station wieder. Man hat ihm bereits frisches Wasser zur Erfrischung gereicht und versuchte nun, seine Adresse herauszufinden. Denn in die Klink gehörte er offensichtlich nicht. Eine Demenzexpertin wurde hinzugezogen. Der Mann war freundlich, tiefenentspannt und sehr höflich. Allerdings ließ die Dame ihn nicht ausreden, fuhr ihm mit viel zu lauter Stimme ständig über den Mund und stellte ihm einfallslos immer nur dieselbe Frage, wo er denn wohne. So geht das nicht! Ich bekam zu viel und habe gebeten, das Gespräch übernehmen zu dürfen.

    Die nun folgende Kommunikation hat sehr interessante Aspekte, die dringend beleuchtet werden müssen: Der freundliche Mann kümmert sich um die Sachwerte als solche. Kenne man sich in den Wesentlichkeiten eben jener Sachwerte aus, dann brauche man keine Hilfe und könne alles alleine erledigen. "Das verstehe ich sehr gut!", bestätige ich ihn in seinen Ausführungen.
    Ebenso helfe die Kenntnis der Regionalität Münsters, also dort, wo man die Sachwerte findet. Und es gibt viele, man müsse sie eben nur zusammenhalten. Münster ist nicht groß, nein, das könne man nicht sagen.

    Ich kann ihm da erneut nur zustimmen.

    Heute sei es ein langer Weg gewesen, setzt er die Unterhaltung fort, und er sei auch direkt hierhergekommen. Sehr schön sei es hier. Es macht deutlich mehr Spaß, bei dem schönen Frühlingswetter zu arbeiten, wenn die Sonne lange scheint, als im Winter. „Auf jeden Fall!“, äußere ich mich zustimmend. "Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht."

    "Müssen Sie nach der Arbeit noch weit fahren bis nach Hause?", frage ich ihn sehr interessiert.
    "Nein. Zum Glück nicht." 

    „Das ist sehr angenehm, nicht wahr?", insistiere ich. "Wo im schönen Münster wohnen Sie denn, wenn ich fragen darf?“
    "Cloppenburgstraße 36." Dort sei seine schöne, langjährige Wohnung. Und nur wenige Meter zu Fuß müsse er laufen von dort, eben zu dem Ort, wo er jetzt immer ist. Er erwähnt erneut die Sachwerte, und dass man sehr gut ausgestattet sei an "diesem Ort", auch hinsichtlich der vielen unterschiedlichen Sachwerte.

    Chaka, herausgefunden! Und es stimmt! In der Nähe der genannten Adresse ist ein Pflegeheim und die Cloppenburgstraße muss seine alte Wohnung gewesen sein. Das kann ich im weiteren Gespräch noch herausfinden. Es ist ein wunderbares Gespräch, der alte Herr hat eine extrem kultivierte Ausdrucksweise und gepflegte Kommunikationsformen. Ich bin bewegt.

    Bis die Polizei kommt. Drei Personen rücken an. Der martialischste Beamte, ein junger Zweimeterhüne, ausgestattet wie Rambo vor der Eliminierung eines Verbrechernestes, baut sich vor dem alten Mann auf, der immer noch entspannt neben mir im Sessel sitzt, und spricht ihn mit fester Stimme und einzigartiger Feinfühligkeit an: "Guten Abend, sie sind wohl etwas verwirrt, kann das sein?"
    Mit einer verräterischen, souveränen Ironie antwortet der Mann: "Das wage ich zu bezweifeln." Ich setze den Satz im Geiste fort und muss unweigerlich lachen, so dass der Polizei-Terminator deutlich spürt, dass ich über ihn lache. 

    Ich verabschiede mich mit Handschlag von meinem Gesprächspartner, wünsche ihm einen angenehmen Heimweg und bedanke mich für die wertvolle Unterhaltung. Eine unglaublich schöne Begegnung war das.

    8.-11. Juni 2023

    Chillout

    Im Vergleich zu den letzten Wochen passiert nun nicht mehr viel. Die Ärzte möchten zum einen den "Kostaufbau" sehen, wobei die servierten Gerichte nicht wirklich meinem Verständnis von gesunder und guter Kost entsprechen, aber für den Massenbetrieb Krankenhaus akzeptabel sind. Zum anderen muss das Loch am Hals geschlossen werden. Es wird ein letzter innerer Faden eben dort entfernt und man ist sich einig, das wird ein Bilderbuchverschluss. Außerdem sei eine Verwachsungsnarbe viel schöner als eine Kunstnaht. Da mir derartige kosmetische Aspekte ziemlich egal sind, füge ich mich den Empfehlungen der Mediziner. Schließlich hat auch die chirurgische Ästhetik längst ihren verdienten Platz in der Nachsorge erobert. Man bringt mir kurz die Wundversorgung bei, denn das muss ich die nächsten Tage alleine machen. Es ist nicht schwer. 

    So tröpfeln die verbleibenden drei Tage vor sich hin. Sicher hätte ich auch sofort nach Hause gekonnt, aber was soll's? Lasse ich es mir doch gut gehen hier, einfach nur tun, was mir gerade in den Sinn kommt und viel nach draußen sehen, wo das richtige Leben ist, an dem ich bald wieder teilnehmen werde.

    12. Juni 2023

    Letzter Check und vorläufige Entlassung

    Heute ist Entlassungstag, ich freue mich. Nun ja, ich würde mich noch mehr freuen, wenn da nicht noch dieses Suspektum in meiner Lunge wäre. Niemand hat es bisher dramatisiert, aber ignoriert eben auch nicht. Ich begebe mich noch einmal kurz rüber in die Radiologie zum Staging-CT, dann können die Bilder mit denen von vor vier Wochen verglichen werden. Sämtliche Befunde werden am kommenden Donnerstag in der Tumorkonferenz mit allen notwendigen Ärzten besprochen, dann wird der weitere Behandlungsplan für mich vorgeschlagen. Ein Ergebnis, dem ich mit einer gewissen Unruhe entgegensehe.

    "So, Herr Mandorf, Sie können gehen!", lächelt mich der Assistenzarzt nach der letzten Visite an. Er lässt mir noch ein Päckchen mit den nötigsten Wundversorgungsutensilien zusammenstellen. Dann verabschieden wir uns. Nein, nicht für immer. Bis in vier Tagen. "Vielen Dank für alles!", sind meine letzten Worte und um ein positives Zeichen zu setzen, hebe ich meinen linken Arm - den ohne Hebernerv - zum Gruße sehr hoch.

    Es ist kurz vor 11:00 Uhr, ich schultere meine fertig gepackte Motorradtasche, unten wartet schon mein Schwager Stefan, der mich nach Hause chauffieren wird. Ich freue mich auf zu Hause, auf meine Dachterrasse, auf Sonne, auf meine neue Küche und auf gutes, gesundes Essen. Endlich!

    25. Juni 2023

    Schon wieder sind fast zwei Wochen vergangen. Irgendwie ist viel passiert und auch wiederum nicht. Mein Leben geht erheblich langsamer und insofern ist nicht viel passiert. Alle Aktivitäten des Alltags brauchen ein Vielfaches an Zeit. Einkaufen, kochen, Wäsche waschen, duschen und essen. Ja, auch das Essen ist zeitintensiv. Noch immer sind der linke Unterkiefer und die komplette linke Hals-Schulter-Partie taub. Unzählige feine Nervenstrukturen sind bei dem Riesen Schnitt durchtrennt worden, das kann durchaus Jahre dauern, bis wieder normales Gefühl dort einzieht. Mal sehen, was ich in der nächsten Zukunft alles bewirken kann, um es zu beschleunigen. Jedenfalls ist es mühsam mit einer halb betäubten, dicken Zunge vernünftig zu essen, ohne dass ich mir dauernd auf selbige beiße oder schief schlucke und husten muss. Also, „langsam essen“ heißt die wichtigste Regel. Nun es ist ja auch nicht von Nachteil, Dinge bewusster und mit hoher Achtsamkeit zu tun, aber es dauert eben.

    Es folgen noch ein Besuch im Krankenhaus zur letzten Wundpflege und zur wichtigen Besprechung meines Lungenbefundes. Und der ist tendenziell erfreulich. Was in der Bildgebung sichtbar ist, bleibt ein Suspektum, aber es ist kein Anhaltspunkt für eine weitere Metastase. Das bedeutet, es besteht kein Handlungsbedarf, aber wir beobachten weiter. Dann nehmen die Dinge ihren Lauf, wie das in der Schulmedizin eben so ist. Ich bekomme Termine in der Strahlentherapie zur Vorbereitung, das geht wie am Fließband. Natürlich hole ich mir wie üblich die zweite Meinung von meinem Schweizer Onkologen ein, der aber wie ich trotz großer Skepsis gegenüber Strahlen- und Chemotherapie dieser Behandlung eine hohe Wichtigkeit einräumt. "Alles andere ist zu riskant", ist unser gemeinsamer Konsens. Also werde ich mir diese Tortur wohl oder übel antun müssen, in der Hoffnung, dass die Nebenwirkungen sich in Grenzen halten. Die Vorbereitungen meines Körpers darauf laufen bereits. Ich bin gespannt.

    Die sonnigen Sommertage mache ich es mir gemütlich auf meiner Terrasse. Immer mehr blüht und wird reif. Die knallgelbe Zucchini hat schon viele Früchte, die Zinnien beginnen zu blühen für die Insekten, das Dillkraut blüht, die Oca gedeiht prächtig und alle anderen Kräuter sind üppig und können jederzeit blattweise geerntet werden zum Kochen oder für erfrischende Smoothies. Viel Zeit verwende ich auf die Zubereitung gesunder Gerichte. Meist nur gedünstet oder roh und ja, ich mache es mir etwas leichter mit der Nahrungsaufnahme und bevorzuge leckere Suppen oder fruchtige Quark- und Joghurtspeisen. Was nicht fehlen darf sind gute Öle und geschroteter Leinsamen zum Frühstück. Dazu Tees oder auch eine Tasse Kaffee. Ein paar Rezepte werde ich nach und nach zum Selberkochen unter Speis und Trank notieren.

    Die Nachmittage verbringe ich gerne mit meiner Schwester in ihrem Garten. Wir naschen von den Sträuchern und aus den Beeten, was schon reif ist und die motivierenden Unterhaltungen tragen ebenso zur Genesung bei. Besser geht es nicht. Himbeeren, Taybeeren, Erbsen, Schnittlauch und ein paar Wildkräuter. Die Dicken Bohnen von letzter Woche waren exzellent und wenn ich mir anschaue, was demnächst alles essreif wird, werde ich wohl noch öfter hier zu Gast sein.

    Die Zeit im Krankenhaus ist erst einmal Vergangenheit. Jetzt beginnen leider notwendige, adjuvante Therapien.

     

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