Die Therapie

Strahlen, Chemie und Himbeeren

Man nennt es Therapie. Übersetzt aus dem Altgriechischen bedeutet es soviel wie sorgen, behandeln oder heilen. Doch das sind in meinen Augen sehr unterschiedliche Aktivitäten. Sie sollen mir nun alle zugute kommen. Und wer übernimmt dabei welchen Part? Fangen wir bei Letzterem an, dem Heilen. Das kann nur mein Körper alleine, mit seinem Immunsystem und den vielfältigen Reparaturmechanismen. Seien es all die Wundschließungen, die periphären Nervenregenerationen oder die Wiederherstellung meines vitalen Stoffwechselgleichgewichtes.
Die zweite Bedeutung ist das "Behandeln". Hier steckt das Verb handeln drin. Es ist fast ausschließlich die zentrale Aktivität von Ärzten und Medizinern in den nächsten Wochen. In guter Absicht werden sie mit beeindruckendem technischen Aufwand und vergleichsweise groben chemischen Methoden versuchen, die gefährlichen Reste des Krebses aus meinem Körper zu beseitgen. Bekanntlich eine Gratwanderung zwischen Wirkung und Nebenwirkung und, wie es mein Radiologe formulierte, eine statistische Therapie. Ich glaube, dass es in meiner Situation sinnvoll ist, diesen Weg zu gehen, auch wenn der Preis des Erfolges wahrscheinlich ein sehr hoher sein wird.
Und nun zum "Sorgen", der wichtigsten und größten Aufgabe meiner Therapie. Es ist jene Aufgabe, die ich selbst übernehmen werde und die auch für meine Zukunft Bestand haben wird. Sie bedeutet Gutes tun, Gesundes Essen und achtsam leben. Eine positive Sicht auf die Dinge zu erlangen und mein Mindset von schädlichen Konditionierungen der Vergangenheit zu lösen. Jeden Tag! Sebastian Kneipp formulierte es so: "Wer nicht jeden Tag etwas für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für die Krankheit opfern." Wie wahr. Und hier soll die Himbeere, meine Lieblingsbeere, symbolisch für eine gesunde Ernährung stehen. Mit ausreichend Nährstoffen, mit vielen Vitaminen und sekundären Pflanzenstoffen. Symbol für alles Gesunde frisch vom Strauch, frisch vom Baum oder aus dem Boden gezogen. Und in den Überlieferungen der nordamerikanischen Indianer steht die Himbeere im Zeichen der Mondin der reifenden Beeren. In ihr entdeckt man seine ureigene Lebenskraft und erkennt das eigene Herz als die unerschöpfliche Quelle dieser Kraft. Wohlan!

Radio-Chemo-Therapie - Unwetterwarnung für sechseinhalb Wochen

Das Dilemma von Unwetterwarnungen ist, dass man nie weiß, ob und wie heftig es einen tatsächlich treffen wird. Meist geht's gut. Dennoch sind meine Sorgen groß, denn die Schäden können immens und irreversibel sein. Vorbeugen kann ich nur wenig. Auf das, was mir bevorsteht, gibt es nur eine wirksame Vorbereitung: So gesund und gestärkt wie möglich antreten, positiv denken, alle Nebensächlichkeiten und Energiediebe bis auf Weiteres abstellen. Kompromisslos ausschließlich das tun, was mir gut tut. Und dann sind da noch ein paar Herzenswünsche, deren Erfüllung ich mir als Belohnung in die Zeit nach der Therapie gelegt habe. Mögen sie ihren motivierenden Zweck erfüllen. Ja, darauf freue ich mich wirklich. Doch vorher sind die veranschlagten sechseinhalb Wochen Radio-Chemo-Therapie zu durchstehen. Möge das Universum mich hilfreich begleiten.

Die Vorbereitungen

Schon letzte Woche fanden zahlreiche Vorbereitungen statt, um sicherzustellen, dass keine überraschenden Nebenwirkungen größeren Ausmaßes während der Radiochemotherapie auftreten. Es begann mit einem Hörtest samt Ohrenspülung. Die erste meines Lebens, eine Wohltat. Befund: Reproduzierbare Schwerhörigkeit im Hochfrequenzbereich. Da könne man ggf. nach der Therapie was machen. Meine Güte, ich bin Jahrgang 1962 und habe meine Hochtonsensibilität auf erstklassigen Rock-, Pop- und Jazzkonzerten in den Konzerthallen der Welt gelassen. Und die paar jetzt fehlenden Hochtonfrequenzen werde ich aktuell wohl noch verschmerzen können. Ich habe gerade andere Aufgaben auf To-Do-Liste.

Es folgten die Anfertigung von Strahlenschutzschienen für meine Zähne, ein sorgfältiges EKG mit Sonografie meines Herzens, ungezählte Entnahmen, Sammlungen und Analysen der verschiedensten Körperflüssigkeiten. Alle Befunde attestierten mir abermals beste Gesundheit und eine sehr gute Ausgangssituation für die bevorstehende Behandlung. Und dann kommt das Spannendste: Die technische Maßanfertigung einer Fixierungsmaske für meinen Kopf, und das geht so: Ich werde unterm CT auf dem Rücken liegend fixiert, anschließend wird ein angenehm warmes, nasses Kunststoffnetz sehr stramm über mein Gesicht gelegt und über den ganzen Kopf bis auf den Tisch heruntergezogen. Das Netz wird auf dem Tisch in einem Rahmen befestigt, dann muss ich ein paar Minuten ganz still liegen bleiben bis der Kunststoff aushärtet. Augen, Mund und Nase werden notdürftig freigelegt, auch zur Vermeidung von Klaustrophobie. Ich muss mich schon sehr beherrschen und denke unweigerlich an die SM- und Latexfraktion, die solche Praktiken zur Freude und zur Befriedigung ihrer Appetenz freiwillig zelebriert. Es bleibt eine fremde Welt für mich.
Viele Striche und Justierpunkte werden auf die frische Maske und meinen Körper gemalt, dann wird mein gesamter Kopf im CT gescannt. Das brauchen die Radiologen, um exakt die Bestrahlungsbereiche und die zu schonenden Areale zu kartieren. Möglichst wenig gesundes Gewebe und gesunde Strukturen sollen später den harten Strahlen ausgesetzt werden. Dann bin ich fertig.

3. Juli 2023 - Erste Bestrahlung

Es ist 18:10 h und ich warte, dass ich zu meiner ersten Bestrahlung aufgerufen werde. Die Wartebereiche sind alle leer, das geht hier ziemlich zügig. Patienten werden minutengenau herbestellt, die Behandlungen sind offensichtlich so genau planbar, dass es keine Verschiebungen im Zeitplan gibt. Ich habe mein großes Saunahandtuch dabei, meine Zahnschienen und ich habe mich nicht geduscht, damit meine Körperbemalung nicht verloren geht. "Herr Mandorf, bitteschön!" ruft mich eine nette Assistentin persönlich auf und weist mich in den simplen Ablauf ein: "Oberkörper bitte freimachen, Taschen leer, Zahnschienen dabei und dann kommen Sie einfach in den Bestrahlungsraum." Auf einem Monitor stehen meine Daten und zur Absicherung ein großes Foto von mir, damit es keine Verwechslungen gibt.

Mit meiner ganz persönlichen Maske werde ich auf dem Gerätetisch (fachspr. "Couch") befestigt, das Gefühl kenne ich ja schon. Rechts in der Hand den Panikknopf, dann geht es auch schon los. Ein Summen, große Geräte drehen und bewegen sich, meine Couch wird justiert, ein grüner Laserstrahl durchmisst den gesamten Raum. Mein Hals liegt nun genau im Isozentrum, dem Bestrahlungspunkt. Große Detektoren rotieren langsam um meinen Kopf, alles wird auf Anfang justiert. Ein orange Lampe und ein deutliches Summen warnen, dass jetzt γ-Strahlung freigesetzt wird. Der Bestrahlungskopf beginnt rechts hinten am Hals und fährt in kaum einer halben Minute kreisförmig um meinen Kopf bis zum linken hinteren Hals. Und noch einmal zurück. Ich lasse die Augen geöffnet und blicke direkt in das Primärblendensystem des Bestrahlungskopfes. Sogenannte Multi-Leaf-Kollimatoren grenzen permanent und sehr beweglich den genauen Bestrahlungsbereich ein. Eine Vielzahl von kleinen gegenüberliegenden Lamellen tanzen hinter der Linse harmonisch hin und her und bilden so ein formveränderliches Loch, durch das die ionisierende Strahlung maßgeschneidert auf meinen Körper gelangt. Kein Geräusch, kein Gefühl, keine sichtbaren Strahlen und doch ist das eine gehörige Packung, die mir hier verabreicht wird. Nach weniger als drei Minuten Fesselung ist alles vorbei, die freundliche Assistentin befreit mich, wünscht mir einen schönen Abend und verabschiedet mich bis Morgen. Gespenstisch.

4. Juli 2023 - Erste Chemotherapie

Es ist Dienstag und für jeden Dienstag ist die kombinierte bzw. adjuvante Chemotherapie geplant. Sie ist gering dosiert, alleine verabreicht - so sagt der Arzt - wäre sie fast wirkungslos. Aber in meiner speziellen kombinierten Radiochemotherapie liegt die Wirkung in der Synergie. Tiefer bin ich in die Einzelheiten nicht eingestiegen, mir sind diese Behandlungen zu grob und zu destruktiv. Aber darauf komme ich vielleicht später noch genauer zu sprechen.
Um 7:00 Uhr steht mein Taxi vor der Tür, alleine Auto fahren darf ich heute nicht, die begleitenden Medikamente erlauben das nicht. Eine kurze Überlandfahrt und wir erreichen pünktlich das Klinikum Osnabrück. Es ist noch wenig Betrieb im Therapiezentrum, weshalb auch alles recht zügig vonstatten geht. Ein kurzes, entspanntes Gespräch noch mit der netten Ärztin, sie drückt mir meine drei Hammerpillen in die Hand, die ich jetzt vor jeder Chemo bekommen werden. Eine Pille sofort, die anderen morgen und übermorgen in der Früh. Antiemetika. Sie sollen die unvermeidbare Übelkeit unterdrücken, die bei meiner Medikation zu erwarten ist. Ich erhalte einen chemisch simplen Platinkomplex, der in sich schnell teilenden Krebszellen den vorprogrammierten Zelltod auslöst. Als Chemiker habe ich mir den Reaktionsmechanismus natürlich genauer angesehen, darauf kommt man nicht durch Nachdenken. Schon in den 1960er Jahren half wie so oft der Zufall bei der Entdeckung etwas nach. Der geneigte Leser möge hier gerne selbst recherchieren.

Nach Blutabnahme und anderen Kontrollen darf ich mir ein gemütliches Plätzchen in den komfortablen Therapiesesseln aussuchen. Eine Assistentin bringt mehrere Beutel mit klaren Flüssigkeiten und knüpft sie an meinen Infusionsständer. Es gibt Vorläufe, Zwischenläufe, den Cisplatin-Lauf und einen Nachlauf. So stellt man sicher, dass genug Flüssigkeit im Körper ist und die Organe nicht zu sehr überlastet werden und man verabreicht so begleitende Medikamente, wenn es erforderlich ist. Es geht los. Erste Runde isotonische Kochsalzlösung, das macht alles etwas flüssiger und dauert etwa 1 Stunde. Zeit genug mit der Fernbedienung meinen Sessel optimal einzurichten. Alle Lehnen und Flächen lassen sich individuell verstellen und nachdem ich die anderen Patienten etwas genervt habe durch die Elektromotorengeräusche ist meine Sesselergonomie perfekt.
Die erste Stunde ist um, jetzt kommt das Gift. Die Assistentin in ihrem blauen Gewand trägt einen kleinen Beutel heran, auf dem dick "CIS" und mein Name stehen. Ich muss, genau wie bei den OPs, zur Kontrolle laut meinen Namen und mein Geburtsdatum sagen, dass mir nicht das Falsche verabreicht wird. Sicher ist sicher. Dennoch ist es ein komisches Gefühl zuzusehen wie das Richtige vorbereitet wird, um es mir anschließend einzuflößen. Der kleine Schlauch wird an meinen Venenzugang gesteckt. Jetzt läuft das richtige Gift in meinen Körper. Unmerklich, ohne irgendeinen spürbaren Effekt. Auch das ist, auf eine andere Art als bei der Bestrahlung, gespenstisch. 
Die Zeit vergeht, ich döse und schlafe tatsächlich etwas. Der Nachlauf spült noch einmal ausreichend Flüssigkeit in meine Venen und nach dreieinhalb Stunden ist der Spuk vorbei. Alles abklemmen, Zugang raus, Pflaster drauf und die besten Wünsche für einen schönen Rest der Woche von der Assistentin. Die Freundlichkeit hat für mich eine gewisse Ironie, aber das ist nur in meinem Kopf, die Menschen hier meinen es wirklich gut und irgendwie soll das alles ja auch helfen. Statistisch, wie ich ja oben schon erwähnte. Ich fühle mich sehr gut.

13. Juli 2023 - Die erste Wirkung

Heute ist die neunte Bestrahlung und am vergangenen Dienstag war die zweite Chemo. Bis gestern habe ich noch nichts gemerkt, heute fühle ich ein gewisses Kratzen im Hals. Noch ist das nicht mit Einschränkungen verbunden, auch wenn ich schon seit ein paar Tagen vorbeugend auf saure und sonst irgendwie aggressive Lebensmittel verzichte. Körperlich stellen sich merklich Müdigkeit und Abgeschlagenheit ein, denen ich mit täglichen Waldspaziergängen versuche entgegenzuwirken. Eine Stunde draußen sollte es mindestens sein, mal gehe ich alleine bis zum Fernsehturm hinauf, mal schlendere ich mit meiner Schwester durch den schattenspendenden Habichtswald. Die Tage sind sehr heiß und trocken, da tut ein tägliches Waldbad sehr gut. Und die Sonne muss ich ohnehin meiden, Strahlung bekommt meine Haut aktuell genug.

Das Sonderbare an dieser Radiochemobehandlung ist, dass ich nichts spüre. Alle Effekte vollziehen sich im zellulären Mikrokosmos. Da werden böse wie gute Zellen zerstört, indem sie zur sogenannten Apotose, dem Zelltod, gezwungen werden. Aber genauso wenig sind Heilungsvorgänge zu spüren, wie ich sie aus meinen Krankenhaustagen kenne. Sie finden entweder nicht statt oder sie sind so minimal, weil sie von der dominierenden Strahlenbehandlung unterdrückt werden. Soweit meine Theorie. Immerhin ist mein Körper mit jeder Menge toter Körperzellen konfrontiert, die er abbauen muss. Das ist keine leichte Aufgabe, da werden schonmal Heilungsaufgaben zur Nebensache.
Am Abend wird es etwas heftiger mit den Halsschmerzen, Schlucken macht keinen Spaß mehr. Folglich wird die Gourmet-Küche modifiziert. Ich schließe meine Augen und stelle mir köstliche Gerichte vor, auf die ich jetzt im Moment die größte Lust habe. Dabei sind Klassiker wie der saure Rollmops, eine Buchstabensuppe mit Knackwurst oder Legenden wie Nudeln und Ketchup! Ich entscheide mich für letzteres, da ich es kauen und schlucken kann. Hundert Gramm Capellini sind in drei Minuten fertig und Kinderketchup habe ich noch im Haus. Ab sofort muss alles rein, was noch reingeht in meinen Körper, ich habe zwar noch nicht bedrohlich an Gewicht verloren, aber genau das gilt es ja auch zu vermeiden. Und Geschmack ist eh zur Nebensache geworden, meine vier Grundgeschmacksrichtungen sind nicht mehr süß, sauer, salzig und bitter, sondern Pappe, Kleister, Gips und Brackwasser. 
Ich habe nur noch Morgen im Visier, da ist die Woche zu Ende und ich habe 72 Stunden zur Erholung. Meine Nudeln sind fertig, Guten Appetit!

24.-28. Juli 2023 - Veränderungen und Maßnahmen

Nichts geht mehr, eine voller Optimismus zubereitete Kürbissuppe kann ich nicht mehr essen. Konsistenz und undefinierbarer Geschmack, der nicht im Entferntesten an Essbares erinnert, rufen Ekel in mir hervor. Allein die Tatsache, dass die Suppe im Kühlschrank steht, beschäftigt mich bis in die Nacht und verfolgt mich in meine Träume. Am nächsten Morgen muss ich sie fortschütten, was für eine Schande! Sie soll das letzte sein, was ich bis auf Weiteres frisch zubereitet habe.
Am Wochenende bin ich zum Geburtstag meiner Schwester im Waldrandgarten eingeladen. Das ist willkommene Abwechslung, es lenkt mich ab von kreisenden Gedanken um die Bewältigung meiner aktuellen Situation. Dann mache ich einen großen Fehler. In guter Absicht, essen zu müssen, lasse ich mir eine kleine Portion "Zitronennudeln" aus der Freiluftküche servieren. Der Geschmack ist identifizierbar, was an der hohen Dosierung von Knoblauch liegt. Dabei habe ich nicht bedacht, dass seine Schärfe mir den gesamten Rachen angreift und mir eine anstrengende Nacht beschert. Man lernt dazu - manchmal schmerzhaft.

Die kulinarische Forschungsarbeit geht in den nächsten Tagen weiter, und um es nach all den Fehlversuchen kurz zu machen, ich entdecke Maultaschen und Kartoffelpüree mit billigster Fertigbratensauce. Das kann ich essen und ich kann es sensorisch als Nahrung einordnen. Nicht denken, rein damit solange es noch geht!
Mittlerweile sind die Schmerzen im Rachen größer geworden. So, dass ich zu irgendwelchen Maßnahmen greifen muss. Die Optionen lassen keine Wahl: Schmerzmittel. Ich werfe zwangsweise alle meine Abneigungen gegen Medikamente über den Haufen, denn ich komme nicht mehr drum herum. Zu Beginn reichen geringe Dosen in regelmäßigen Abständen, nach drei Tagen muss ich erhöhen. Zumindest funktioniert es und ich habe relativ schmerzfreie Nächte.
In den Folgetagen fällt mein Bart an den bestrahlten Bereichen aus. Wie nebensächlich. Die Woche Nr. 4 endet mit einem anstrengenden Freitag, an dem ich schon früh nach Münster zur Nachkontrolle muss und mittags die letzte Strahlendosis für diese Woche in Osnabrück bekomme. Nun habe ich endlich Wochenende, die ersehnte, aber knappe Pause zur Regeneration.


Nicht einmal mehr das...

Genau zwei Monate nach den großen OPs. Wieder steht mein Freund der Vollmond am Himmel.

Kann Gedanken nicht sortieren, kann nichts wie gewohnt niederschreiben. Texte sind so fade wie alles, was ich versuche zu essen und was mich am Ende durch Geschmacklosigkeit anekelt. Kleine Erlebnisse versuche ich zu konservieren für später, um sie aufzuschreiben. Gedanken, egal ob wichtig oder banal, schaffe ich nicht zu Ende zu denken, geschweige denn, sie zu Papier zu bringen. Medikamente erreichen die maximal erlaubten Dosierungen, Sprache geht verloren. Die täglichen Spaziergänge fallen immer öfter aus, bis sie komplett eingestellt werden. 

Es geht nur noch Astronautennahrung und die schmeckt nach Erdbeere. Dennoch brauche ich enorm lange, um das Zeug herunter zu bekommen. Übelkeitsattacken häufen sich. Sie sind unberechenbar. Der Gewichtsverlust ist enorm, mein Körper beginnt gerade sich selbst zu verdauen. Dehydrierung und Demineralisierung sind die Folgen der Unfähigkeit, ausreichend essen und trinken zu können.

In den nächsten Tagen haben meine Körperkräfte dann endgültig aufgegeben, meine Konzentrationsfähigkeit liegt am Boden und jegliche Form von Kreativität sublimiert. Der Blog wird seine Fortsetzung finden, versprochen. Aber wann, das weiß ich noch nicht, denn ich weiß nicht, was noch alles auf mich zukommen wird. Ich wünsche mir alles Gute.


Es ist Oktober. Ich schreibe den Blog nun auf Basis weniger Aufzeichnungen, Fotos und hauptsächlich aus meiner Erinnerung weiter.

29. Juli - 6. August 2023 - Durchhalten

Den Zustand, unter reichlich Schmerzmitteln zu stehen und dennoch nichts essen zu können habe ich wohl oder übel hingenommen. Mit den Antiemetika jongliere ich, immer in der Hoffnung schneller zu sein als die unberechenbare Übelkeit. Es klappt. Wenigstens das. Am Dienstag wird die übliche Dosis Schwermetallgift verabreicht, alles wie immer, ich lasse mir aber ab heute das akute Antiemetikum für die Chemo als Infusion geben. Die dicken Kapseln sind unmöglich zu schlucken. Ich fühle mich wie immer recht wohl während der Behandlung, ganz einfach aus dem Grund, weil ich vor der Giftinfusion immer eine ordentliche Menge isotonische Kochsalzlösung bekomme. Das wirkt unmittelbar der Dehydrierung entgegen und tut gut. Dann kommt wie immer das Cis-Platin, dann nochmal ein Nachlauf wieder mit Kochsalz. Sehr angenehm. Die Wirkung des Toxins werde ich erst später erleben. Vermischt mit den Nebenwirkungen der Bestrahlung, mal heftiger, mal milder. Niemand weiß mehr, welche Nebenwirkungen welche Ursache haben. Aber es ist auch nichts unwichtiger als das zu wissen.

Die Woche nimmt ihren gewöhnlichen Gang. Ich schaffe es kaum noch, mit meiner Schwester kleine Runden durch den Wald zu drehen, es hat immer so gut getan, im Wald zu baden und Grün zu sehen. Zudem ist es recht warm und der Schatten im Wald ist wichtig. Sonnenstrahlen sind zur Zeit alles andere als gut für mich. Abends bin ich dann wieder zu Hause. Mit zu Hause ist aber nur der Ort gemeint, an dem ich wohne. Ich esse dort nicht, ich trinke fast nichts, ich lese nicht, ich koche nicht, ich gestalte nichts. Meine Wohnstätte sieht noch fast genauso aus wie beim Einzug. Kisten, zerlegte Möbel, eine unbenutzte Küche und eine ungemütliche Matratze zum Schlafen. Ich schleppe mich von Medikation zu Medikation, kurz danach geht es immer spürbar besser, d.h. schmerzfreier. Genau diese Zeitpunkte muss ich erwischen, um überhaupt noch Nahrung in meinen Körper hineinzubekommen. Zwei Schmerzmittel, je 40 Tropfen, 30 Minuten warten, dann Astronautennahrung einflößen. Geschmacksrichtung Erdbeere. Das einzige, was ich noch schmecken und identifizieren kann. Für 125 ml brauche ich eine halbe Stunde. Erdbeerzeit! Ich bin glücklich als ich das erste Fläschchen drin habe, ein Gefühl von satt macht sich im Kopf breit, aber das täuscht. Es ist viel zu wenig, ich müsste mindestens fünf von den Dingern essen, um überhaupt meinen Grundumsatz zu decken. Unmöglich. Wie soll das gehen? Erdbeere hin oder her, das schaffe ich nicht. Warten wir bis zur nächsten Medikamentengabe, dann die nächste Flasche.

Ohne weitere Zwischenfälle erreiche ich das Wochenende. Die 72 Stunden Erholung wollen gut genutzt sein. Viel schlafen hilft, obwohl es vermieden werden soll, da es längerfristig zu Fatigue führen kann. Ein wenig in den Wald, nein, das schaffe ich nicht mehr. Ich sitze viel auf dem Balkon meiner Schwester und plaudere mit ihr. Das lenkt ab und lockert den dunklen Kopf auf. Das Alleinsein in der eigenen Wohnung tut dem Gemüt gar nicht gut, es ist doppelt schwer, sich bei guter Laune und Optimismus zu halten. Meine Freizeitbeschäftigung besteht absurderweise aus dem Anschauen von Kochvideos. Ich sammle die besten Rezepte und lerne wie man so einige Klassiker der französischen Küche zubereitet. Essen? Nein, essen kann ich sowas nicht. Ich esse Sondernahrung. Erdbeerbeschmack! Das Wochenende ist um.

6. August - 13. August 2023 - Bis es nicht mehr geht...

Die Woche beginnt wie immer mit dem Gedanken an Freitag. Der Freitag wird sicher kommen und dann wird auch diese Woche überstanden sein. Dann werden die nächsten lebenswichtigen 72 Wochenendstunden zum Luftholen beginnen. Aber soweit sind wir noch nicht. Es ist erst Montag.

Seit Beginn der Bestrahlung vor 35 Tagen habe ich genau 10,4 kg abgenommen. Das ist Verhungergeschwindigkeit und nicht gesund. Mein Körper verbrennt radikal Kohlenhydrate, Fett und dann Proteine. Ab hier wird es gefährlich. Es ist allein schon eine hohe Belastung für die Leber, all die totgestrahlten Zellen abzubauen und zusätzlich müssen jetzt die im Fett eingelagerten Toxine und körperfremden Substanzen verstoffwechselt werden, die nach Verbrennung der Fettreserven freigesetzt werden. Auch das muss die Leber bewältigen. Eine Herkulesaufgabe. Gleichzeitig verdaut mein Körper Proteine, das heißt, er baut Muskelmasse ab, um Glucose fürs Gehirn zu produzieren. Nur mit einem funktionierenden Gehirn kann der Stoffwechsel das Hungernotfallprogramm überleben und die Vitalfunktionen erhalten. Wie weit es allerdings bei mir schon vorangeschritten war, habe ich unterschätzt. Zu sehr war ich mit spontaner Übelkeit, Schlaflosigkeit und Schmerzmanagement beschäftigt. Die Woche war immerhin die letzte vor der Finalwoche und ein Tag fiel zudem noch aus wegen Wartungsarbeiten am Linearbeschleuniger. Das Licht am Horizont habe ich mir aber mehr herbeigeredet als tatsächlich gesehen.

So schleppte sich die Woche qualvoll ins Wochenende. Es war schönstes Sommerwetter und ich war völlig aktivitätsunfähig. Wir beschlossen, dass ich die letzten Tage zu meiner Schwester ins Gästezimmer ziehe, es war ein sichereres Gefühl. Ändern an meinem Zustand konnte das nicht viel, das war uns bewusst. Dennoch war es eine gute Entscheidung, denn mein Zustand eskalierte. Völlig entkräftet, dehydriert, demineralisiert und strahlengeschädigt musste ich in der Nacht zum Sonntag heftiger spontaner Übelkeit trotzen. Übelkeit ist eigentlich falsch, es waren nicht enden wollende Brechattacken. Es war eine wunderbar warme Sommernacht, die Käuzchen riefen aus der alten Pappel, Fledermäuse flatterten lautlos vor dem schwach beleuchteten Haus meiner Schwester hin und her und ich stand barfuß nur mit einer Turnhose bekleidet in der wohltuenden Nachtluft und versuchte lautstark zu kotzen. Entschuldigung, kotzen ist kein schönes Wort, aber leider gibt's kein drastischeres, das dem gerecht würde, was da gerade passierte. Ich hatte keine Chance, es zu unterbinden. Ich trank immer wieder schluckweise klares Wasser, damit die Magensäure nicht in meinen Rachen gelangte. Ich wollte nur die damit verbundenen höllischen Schmerzen vermeiden, provozierte aber offensichtlich meinen Brechreiz immer und immer wieder aufs Neue. Ein Teufelskreis. Das zog sich mit wenigen Pausen über Stunden. Als die Sonne langsam aufging war ich fix und fertig, lag erschöpft in meinem Bett und hatte keine Idee, wie ich das noch die fünf Tage bis zum Bestrahlungsende am 17.8. aushalten sollte. Sowieso war es ja eine Illusion, dass an diesem Tag alles vorbei sei. Ich werde Wochen brauchen bis ich wieder essen und trinken kann. Was tun? Ich habe keine Idee, es ist zuviel kaputt in meinem Körper. Ich habe noch nie etwas destruktiveres erlebt als diese Radio-Chemotherapie. 

Schwester, Schwager und ich fassten noch am frühen Morgen den Entschluss, dass ich mich heute ins Krankenhaus einliefere. Die sollen mich wieder aufbauen, schließlich haben die mich ja auch kaputt gemacht. Gesagt getan, Sachen packen und nach kurzer Fahrt mit Übelkeitsunterbrechungen erreichten wir das Krankenhaus in Osnabrück, wo ich schnell und freundlich aufgenommen wurde. Exsikkiert, demineralisiert, verhungert. Das in etwa war die schnelle Diagnose der Ärztinnen und Ärzte. Dann gab's sofort flaschenweise Flüssigkeiten, nein, nicht zu trinken, sondern in die Venen. Die Blutwerte hatten Kirmes, da stimmte nichts mehr und ich wurde ab sofort sitzend oder liegend rumgefahren. Ich fühlte mich privilegiert, aber zu welchem Preis? Schwesterchen blieb noch bis ich auf meinem gemütlichen Zimmer angekommen war, dann fuhr sie erleichtert nach Hause und freute sich genau wie ich, dass ich an einem sicheren Ort bin.

Die Medikamente, Mineralien und Infusionen halfen mir schnell, die Nachtschwester hängte mich noch an einen Liter Flüssignahrung, die mich über Nacht parenteral ernähren sollte, dann wünschte sie mir eine gute Nacht. Nun, es war kein besonders erholsamer Schlaf, aber ich fand Ruhe und das lag an der Sicherheit, in der ich mich befand. Es kann mir hier nichts passieren. Ich habe einen Notruf am Bett.

14. - 30. August 2023 - Talsohle auf dem Weg nach Hause

Es ist Montag und die erste der letzten vier Bestrahlungen steht an. Ich muss nur ins Gebäude gegenüber und das klappt nach der wochenendlichen Stärkung zu Fuß sehr gut. Das Bestrahlungsritual vollzieht sich wie immer, es ist schon eine ungeliebte Routine geworden. Die größte Hürde sind immer noch die Zahnschutzleisten. Sie sind ähnlich wie Knirschschienen und sollen gefährliche Strahlungsreflexionen durch Zahnkronen verhindern. Jedes Mal kurz bevor ich sie einsetze rieche ich an einem kleinen Fläschchen mit starkem Pfefferminzöl, das hemmt den Würgereiz der durch Berührungen im tiefen Mund entsteht. Denn die Schwierigkeit ist, dass ich meinen Mund kaum noch öffnen kann und es beim Einsetzen zu schmerzhaften Spannungen an den maximal entzündeten Schleimhäuten kommt. Es ist ein übles Gefummel, die Kunststoffschienen auf die Zahnleisten zu klemmen. Tiefes Atmen durch die Nase hilft den Brechreiz "wegzukonzentrieren". Jetzt Schiene Nummer zwei. Gleiches Verfahren. Die freundliche Assistentin holt mich ab, zur Begrüßung hebe ich nur kurz die Hand. Sprechen mit den Schienen kann ich nicht. Sie lächelt, sie kennt das schon. Nun geht alles sehr schnell, das Bestrahlungsteam kennt meine Situation und weiß, dass der Erfolg nur eine Frage der Konzentration ist. Husten unterdrücken, nicht würgen, stillhalten und Schmerzen vermeiden. Ich lege mich wortlos auf mein rotes Handtuch auf die Couch (das ist der Bestrahlungstisch s.o.) und lege meine Zunge ruhig hinter die Schneidezähne an den Gaumen. Wenn sie hier festklebt muss ich die nächsten Minuten nicht schlucken, kann mich also auch nicht verschlucken. Nicht auszudenken unter der fesselnden Kopfmaske. Das Team hat den Raum bereits verlassen, die Justierungslaser leuchten, dann erleuchtet die orange Warnlampe, das Brummen der Generatoren und der Warnton sind zu hören. Nach 90 Sekunden ist Bestrahlung Nr. 30 erfolgreich geschafft. 

Zurück in meinem Zimmer mache ich es mir bequem und versuche möglichst schnell wieder zu Kräften zu kommen. Das Bestrahlungsspiel wiederholt sich an den nächsten drei Tagen ohne Abweichung, dann möchten die Ärzte mir gerne in die Speiseröhre schauen, ob sie in Mitleidenschaft gezogen wurde. Was für ein Quatsch, da muss man nicht reinschauen, um zu sehen, was ich auch so weiß. Klares Nein, fällt aus! In meinem Zustand fummelt mir niemand in meinem ruinierten Rachen herum, nur um festzustellen, was wir alle wissen: Meine Speiseröhre ist gereizt, aber ok, Schlimmeres hätte ich selbst an den Symptomen feststellen können. Da muss ich nicht rumfummeln. Die Ärzte konnten meinen Standpunkt gut verstehen. Der letzte Bestrahlungstag verging unaufgeregt und nicht anders als die vergangenen. Vielleicht habe ich an dem Tag ein wenig mehr gelächelt, ja, das kann sein. Am Mittag bereiteten die Ärzte noch meine Entlassung vor, da sie ja jetzt nichts weiter für mich tun konnten. Dank der guten Beziehung meines Radiologen zur Onkologie einer kleinen, gemütlichen Klinik in der Nähe meines Wohnortes, bekam ich für die weiteren Tage meiner postradiologischen Rekonvaleszenz ein kühles Zimmer mit heilsamem Waldblick. Ich ziehe um.

Der erste Tag nach der Bestrahlung brach leise mit morgendlicher Wärme und Waldgeruch an. Um 7.00 Uhr werden mir kurz ein paar frische Infusionen angehängt, dann darf ich noch etwas weiterschlafen. Frühstücken kann ich ja nicht. Um 8:00 Uhr bekomme ich meine parenterale Nahrung, dann noch einmal ein wenig schlummern. Alle sechs Stunden Schmerzmittel einwerfen, dann Infusionen wechseln, dann wieder schlafen. So vergehen die Tage. Wie in einem Tunnel. Wie in Trance. Mein Gesamtzustand verschlechtert sich in den nächsten Tagen noch einmal, das sind hoffentlich die letzten Nachwirkungen der Radio- und Chemobehandlung. Ich wiege nur noch 74 kg, kann nicht mehr sprechen und kann weder essen noch trinken. Die verbrannte Haut am Hals löst sich partiell ab und hat Mühe wieder zu verheilen. Im Nachmittagsprogramm des Fernsehens laufen Zooserien.

Am 22. August, das ist mein Geburtstag, erreiche ich den absoluten Tiefpunkt. Am selben Nachmittag bekomme ich Besuch von der Familie, eine schöne, aber anstrengende Abwechslung. Gesprächsanteile hatte ich keine, mein Kommunikationsbeitrag war reduziert auf Nicken und Kopfschütteln. Meine Geschenke waren eine hübsche Postkarte meiner Freundin und ein knallgrünes T-Shirt mit einer riesigen aufgedruckten Erdbeere. Lächeln ging noch, wie schön, und eine herrlich witzige Idee!

Noch eine gute Woche sollte mein Aufenthalt dauern, die Tagesabläufe änderten sich und mit viel Wohlwollen und Fantasie konnte ich eine ganz leichte stetige Verbesserung wahrnehmen. Es gab noch ein paar gut gemeinte Diskussionen mit den Ärzten um die Legung eines Ports in meine Herzvene, was die künstliche Ernährung hätte technisch erleichtern können. Nein, ich will das nicht. Ich will, wenn es nicht überlebensnotwendig ist, nichts mehr in meinem Körper stecken haben, ich will nicht mehr betäubt oder aufgeschnitten oder gestochen werden. Und so erreichte ich sieben Tage später den Meilenstein, dass ich mein erstes Käsebrot mit einer Tasse Pfefferminztee hinunterbekam. Am Tag darauf, dem 30. August, wurde ich mit den besten Wünschen entlassen und mit der Aufgabe, mich selbst zu ernähren. Ich weiß noch nicht, wie das gehen soll, aber ich werde es schaffen.

September 2023 - Rückkehr ins Leben

Obwohl ich nicht wusste wie ich mich hinreichend ernähren sollte, verließ ich wie oben erwähnt das Krankenhaus. Würde ich es nicht in den nächsten Tagen schaffen, liefe ich Gefahr wieder abzunehmen und erneut in die Unterernährung zu rutschen. Nun gut, ein Käsebrot hatte ich in der Klinik essen können, dann geht auch mehr. Doch so einfach war das nicht. Noch immer stand ich unter hohen Dosen Schmerzmittel und noch immer war die verzehrte Tagesmenge an Nahrung weit davon entfernt, meinen Grundbedarf zu decken. Zu gering waren die Mengen, die ich schaffte zu verzehren, bevor die Wirkung der Schmerzmittel nachließ oder bis mir übel wurde, weil meine olfaktorische Sensorik nicht die gewohnten Geschmacksprofile der Gerichte an mein Gehirn sendete. Ich aß Apfelpfannekuchen und schmeckte Zeitungspapier.

Zwar voller Optimismus, aber auch getrieben von der Not, mich ausreichend ernähren zu müssen, legte ich mir eine Strategie zurecht. Ich setzte zunächst alle Regeln der gesunden Ernährung außer Kraft, das bedeutete, ich darf alles essen, wonach mir der Sinn steht. Von Dosensuppen bis Kaviar ist alles erlaubt. Dann kaufte ich einfach alles an Lebensmitteln, was mein Herz gerade begehrte. Ziel war, dass die kulinarischen Freuden meinen Appetit entfesseln und so eine erhöhte Nahrungsaufnahme motivieren sollten. Soweit die Theorie. In der Praxis erlebte ich eine Enttäuschung nach der anderen. Die Kohlensäure des Malzbiers war zu schmerzhaft, das Kinderketchup auf den Nudeln brannte erbarmungslos im Rachen, Hähnchenfilets waren unkaubar mit meiner degenerierten Kaumuskulatur und an Obst war wegen der Säure gar nicht erst zu denken. Etwas später entdeckte ich Suppen mit mildem Gemüse und in Folge war der Weg auch nicht mehr weit zu japanschen Ramen. Das funktionierte und war auch geschmacklich nahe an meiner berechtigten Erwartung. Kalorienmäßig konnte ich mit gutem Öl nachhelfen, so deckte ich erstmals wieder meinen Grundbedarf nach knapp zwei Monaten des Hungerns. Und wenn Gemüsesuppen gehen, warum dann nicht auch asiatische Lieblingssuppen? So kochte ich mir eine Tom Yam Gung Suppe, mein persönliches non plus ultra der thailändischen Küche. Würzig, scharf und heiß. Wie dumm von mir? Wie soll das gehen? - Aber es ging! Und ab da ging es auch plötzlich aufwärts.

Am 17.9., genau einen Monat nach Ende meiner Bestrahlung, konnte ich Limonade trinken, Malzbier war erträglich, erstes Obst war wieder essbar, ja sogar Orangensaft und Salat mit Vinaigrette. Drei Tage später genoss ich eine Gewürzgurke! Es kam mir vor wie ein Wunder und ich schaufelte von da an alles in mich hinein, was ging. Was mich besonders freute, waren deftige Frühstücke mit Rührei oder Gemüseomlettes. Dazu kochte ich guten Kaffee, denn mittlerweile war auch mein neuer Perkolator für Induktionsherde eingetroffen und das bedeutete köstlichen Café au lait. Was für eine Freude, auch wenn das nur die allerersten Schritte eines langen Heilungsweges waren, den ich noch vor mir habe. Heute war der 20. September und ich setzte auch noch spontan alle Medikamente ab. Es klappte.

Bis zur geplanten Reha lagen nun fünf Wochen vor mir. Eine lange Zeit, die man speziell HNO-Patienten gewährt, weil die Schwere der Behandlungsschäden bekannt ist. Was nun tun mit all der Zeit, außer den ganzen Tag Kochvideos anzusehen, um die Lücke der Genüsse zu kompensieren? Mir gefiel es, klassische Rezepte der französischen Küche zu recherchieren und zu notieren, Warenkunde zu studieren und mir ein Lehrbuch des Kochens nach dem anderen zu bestellen. Überhaupt geriet ich in einen Kaufrausch, der sich auf meine Küchenausstattung konzentrierte. Ich bestellte und kaufte mir alle möglichen Küchenutensilien in Prospektive der schönen Zeiten, die auf mich zukommen werden, ist erst einmal mein Geschmacksempfinden wiederhergestellt. Zugegeben, eine gehörige Portion Optimismus war schon dabei, denn ob das jemals wieder so sein wird mit dem feinsinnigen Geschmack wie früher, ist alles andere als garantiert. Ich kaufte mir ein Nakiri-Messer, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte, professionelle Kochwerkzeuge, einen mobilen Backtisch, französische Bratpfannen und eine Küchenmaschine. Jede Woche bekam ich mehr als ein Paket mit Küchenkram, vielleicht war es der nachgeholte Geburtstag oder eine Belohnung für ertragene Torturen. Wie auch immer, ich machte mir viele kleine und große Freuden. Wohin auch immer mich dieser Krebs noch führen wird, diese Freuden sind irreversibel, ein wohltuender Gedanke. 

Ja ja, diese "dunklen Gedanken", wie ich sie nenne, schleichen sich immer wieder völlig überraschend und ungefragt in meinen Alltag. Dann sind sie plötzlich präsent und real. Spekulationen über die verbleibende Lebenszeit, Gedanken, in denen ich mein Erbe gerecht aufteile oder mich frage, ob ich nicht vor dem Abgang all mein Zeug verschenken soll, dann erlebe ich wenigstens noch die Freude der Beschenkten. An schwereren Tagen stelle ich ergebnisoffen mein Leben in Frage. Was war gut, was war verzichtbar? Würde ich dies oder jenes noch einmal so entscheiden? Bereue ich mit dem letzten Atemzug nichts oder zumindest wenig? Lohnt es sich noch, mein Motorrad für die nächste Saison umzumelden? Wen meiner Freunde möchte ich denn noch einmal sehen? Und spätestens dann muss ich die Reißleine ziehen und mich in die Wirklichkeit zurückholen. Ich lebe noch und mir geht es ja nicht wirklich schlecht. Gut, arrangieren mit allen Behandlungsfolgen muss ich mich und ich habe auch viele lästige Aufgaben und Pflichten, um mich wieder richtig fit zu bekommen. Aber mir geht es jeden Tag besser und niemand hat gesagt, ich stünde kurz vor dem letzten Vorhang. Also, dunkle Gedanken dunkle Gedanken sein lassen und nach vorne in die bestmögliche Zukunft schauen! 

Und was kann die bestmögliche Zukunft sein, wenn sie mir nicht jede Menge Kochglück und Genuss bescherte? Also beginne ich in den nächsten Tagen zunächst mit der bescheidenen Ernte meiner Dachplantage, feiere Premiere meiner neuen Schmorpfanne und probiere alles mögliche aus. Darüber vergesse ich nicht, mir neue Wanderschuhe und Wanderführer für den Spessart zu beschaffen, denn dort soll meine Reha sein und das will ich nutzen. Und so vergeht der September mit herrlichen Spätsommertagen und einem langsamen Leben in meiner neuen Wohnung, die ich vom Krankheitsdünkel befreien und mit einem neuen Leben füllen muss.

24. Oktober 2023 - Das Warten hat ein Ende

Es ist Anfang Oktober und noch drei Wochen bis zum Beginn meiner Reha. Einer zu hohen Erwartungen ziehe ich die positive Sichtweise vor, dass mir der dreiwöchige Gesundungsaufenthalt im Spessart gut tun wird. Sich nicht um alltägliche Dinge wie Einkaufen, Kochen oder Aufräumen kümmern zu müssen, ist eine vielversprechende Perspektive. Die angeleiteten sportlichen Aktivitäten werden meiner Motivationshemmung hoffentlich wirksam entgegenwirken und wenn es richtig gut läuft, werde ich vielleicht schon eine Verbesserung meines körperlichen Befindens feststellen können. Wanderschuhe, Turnschuhe, Sport- und Schwimmbekleidung liegen schon bereit, schließlich will ich ja auch bestens ausgerüstet sein, das motiviert zusätzlich, wenn der innere Schweinehund mal wieder aktiv werden sollte. Aber zunächt sind ja noch die drei Wochen Wartezeit zu überbrücken.

Es ist schon ein Privileg, dass ich in meiner Situation keinerlei organisatorische oder wirtschaftliche Hindernisse habe. Das schafft mir viel sorgenfreie Zeit, mich nach den Verwerfungen der letzten Monate neu zu sortieren. Wieder aufzustehen, mich zu schütteln und meine veränderten Möglichkeiten in dieser Welt akzeptieren zu lernen. Das ist nicht einfach.

Nach drei unspektakulären Oktoberwochen mit Küchenshopping und sonnigen Spaziergängen geht es endlich los in den Spessart. Eine befremdliche Autofahrt von gut drei Stunden bringt mich ans Ziel. Befremdlich insofern, dass ich die Strecke aus meinem Job in- und auswendig kenne. Hessisches Bergland, Kasseler Berge, dann über die A7 Richtung Fulda in den Spessart. Ich habe das Gefühl, auf dem Weg zum Projekt zu sein und gleichzeitig kommt mir diese Assoziation vor wie aus einem früheren Leben, dass ich nur aus Erzählungen kenne.

Mit der Ankunft gegen Mittag des 24. Oktober beginnt offiziell meine Reha. Zimmer 347 mit Aussicht beziehen, Spielregeln verstehen und die hauseigene App laden, über die die Patienten ihre gesamten Anwendungspläne und Informationen bekommen. Erstaunlich modern insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der überwiegende Teil der Rehabilitanten jener Generation angehört, die das Farbfernsehen als Innovation erlebt haben dürfte. Nun gut, mein erster Tag noch ohne Anwendugen ist sehr entspannt, ich richte mein Zimmer ein und wandle anschließend durchs Haus, um es kennenzulernen. Irgendwie ist alles recht liebevoll eingerichtet, ich schätze, das war in den frühen Achtzigern, und die Menschen nutzen die Sofaecken, Cafés und Bibliotheken ganz offensichtlich mit großem Vergnügen. Aber der größten Beliebtheit erfreuen sich unangefochten die zahlreichen Puzzletische. Ich werde noch oft hier sitzen und meine ganz privaten Sozialstudien anstellen. Es ist schon ein spezieller Ort mit speziellen Menschen. Ich weiß nur noch nicht, warum ich hier bin, ich gehöre doch irgendwie garnicht hierher. Und so werde ich mich in besinnlichen Momenten wohl öfter vor meinem Balkonfenster einfinden und in die schönen Sonnenauf- und Untergänge blicken.

So endet der erste Tag nach dem Abendbrot mit vielen Gedanken und einem frühen und ruhigen Schlaf.

21. November 2023 - Rekonvaleszenz ist dehnbar

Eine gewisse Regelmäßigkeit stellt sich bereits in den ersten Tagen ein. Unumstößlich und nicht verhandelbar sind die Essenszeiten, die von vielen Patienten sklavisch befolgt werden. Noch bevor die Pforten des Speisesaals sekundengenau geöffnet werden stehen sie unruhig Schlange und scharren mit den Hufen vor der großen Glastür, hinter der die gefüllten Theken des Buffets auf den Ansturm warten. Etwa anderthalb Stunden hat man je Fütterung Zeit, sich die Köstlichkeiten des Tages zusammenzustellen und zu genießen. Im Großen und Ganzen ist das Angebot abwechslungsreich und es wird immer ein vegetarisches Gericht angeboten. Salate und Obst sind selbstverständlich und nie fehlt ein süßer Nachtisch zum Glück.

Die ehernen Gesetze der Essenszeiten beachtend bekommt jeder Gast seine Aktivitäten wie Sport, therapeutische Behandlungen und Gesprächstermine auf die hauseigene App gesendet. Man nennt diese Veranstaltungen im Allgemeinen nur Anwendungen. Nicht länger als 45 Minuten dauern diese gewöhnlich, denn man braucht noch etwas Zeit für die Wechsel. Der Weg beispielsweise vom Schwimmbad zur Kunsttherapie ist durchaus weit. Meine Anwendungen setzen sich zusammen aus Konditions- und Krafttraining, Wassergymnastik, Physio- und Ergotherapie, Nordic Walking sowie unterstützenden Angeboten wie psychologischen Gesprächen, sozialdienstlicher Beratung und verschiedenen Vorträgen. Bis auf die Wochenenden sind meine Tage gut ausgefüllt und das ein oder andere Mal bin ich auch sehr dankbar für Lücken im Stundenplan, in denen ich mich einfach nur entspannt vor mein Balkonfenster setze und ausruhe. 

Nach wenigen Tagen habe ich mich in die Regelmäßigkeit gefügt und beobachte sehr genau, welche Veränderungen ich an mir wahrnehme. Werde ich mobiler? Wachsen meine Muskeln wieder? Kommen vielleicht mein Gefühl in den Schultern und der Geschmack zurück? Um es vorwegzunehmen, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Zu klein sind die Veränderungen bzw. zu kurz die Messintervalle. Es ist unmöglich, über 48 Stunden oder gar eine Woche sicher festzustellen, ob nachhaltige Verbesserungen zu verzeichnen sind. Dennoch empfinde ich viele Aktivitäten als sehr angenehm und hilfreich. Beim Krafttraining von Trapezius und Co wird mir schnell klar, wo exakt meine Defizite liegen und ich beginne die Übungen zu mögen. Immer und immer wieder und noch einmal und ein letztes Mal motiviere ich mich, mit ausgestreckten Armen die Griffe des Krafttrainers im Halbkreis nach hinten zu bewegen. Es schmerzt. Aber was noch schmerzlicher ist, ist die Tatsache, dass es derzeit nicht mehr geht. Ich denke an Cristo Redentor, den ich vor acht Monaten in Rio de Janeiro besuchte. So wie er die Arme auszubreiten, ist unmöglich für mich. Es fehlen schlichtweg die notwendigen Muskeln. Viele solcher Beispiele könnte ich anführen, aber das nagt nur am Gemüt. Lieber freue ich mich über die positiven Erlebnisse. So ist meine Kondition wieder ausreichend, um über längere Distanz beim sportiven Nordic Walking flott voranzukommen. Die Gruppe hänge ich auf den Touren schnell ab oder ich bin in der Spitzengruppe unterwegs ohne übermäßig außer Atem zu geraten. Und so plätschern vier Wochen gemütlich und stetig ins Land. Mein Zeitgefühl habe ich abgeschaltet, eine Fähigkeit, die ich in den letzten Monaten zu schätzen gelernt habe. 

Noch einmal elf Uhr fünfundvierzig Mittagessen und siebzehn Uhr fünfundvierzig Abendbrot, dann ist meine vierwöchige Reha auch schon vorbei. Fazit: Ich kenne meine Baustellen nun sehr genau und kenne auch die Übungen, mit denen ich trainieren muss. Ein letztes Ergometertraining und am 21. November Morgens fahre ich nach Hause.

31. Dezember 2023 - Ein krasses Jahr geht zu Ende

Die letzten sechs Wochen des Jahres brechen an. Ein krasses Jahr, das an Intensität der Ereignisse kaum zu übertreffen ist. Sie hätten für meinen Geschmack nur etwas erfreulicher sein dürfen. Andererseits ist es jedoch eine wertvolle Erfahrung, was ein Mensch aushalten und anschließend vergessen kann, und insbesondere wie er das macht. Eine meiner Strategien, ohne die ich die letzten sieben Monate möglicherweise nicht überstanden hätte, ist die Zeitwahrnehmung abzuschalten. In den schlimmsten Phasen von Operationen, Bestrahlung und Heilung habe ich eine Art Trance etabliert, die mich die endlosen Wochen und Monate in einem Zeitraffer hat erleben lassen. Bisweilen sind Wochen, die ich im Krankenhausbett verbracht habe, aus der Retrospektive ein Sekundenereignis. Nur so war es mir möglich, die unendlich langsamen Prozesse der Heilung als Fortschritte wahrzunehmen. Es hat sechs Wochen gedauert, die ich ohne jeglichen Geschmack erlebt habe, als das erste Süßerlebnis - ich glaube, es war ein gezuckerter Kaffee - die Trance beendet hat. Die Wahrnehmung war, "plötzlich" wieder süß schmecken zu können. Dieser Effekt ist auf viele körperliche Zustände anwendbar. Nach sieben Monaten verschwindet derzeit die Taubheit aus Hals und Schultern und auch die exzidierte linke Zungenseite füllt sich unendlich langsam wieder mit Gefühl. Ödeme regenerieren und Zähne erholen sich. Die gesamte sensorische und motorische Koordination meines Körpers lässt mit gutem Willen so etwas wie Normalzustand erkennen. Und ganz leise aber gewaltig erhebt sich die große Frage nach der Zukunft. Aus dem hypnotisierenden Mantra der Geduld wird Samadhi, der Zustand des vollkommenen Wachseins und der Sammlung des Geistes auf ein einziges Objekt: Die Zuversicht. "Alles wird gut" ist zu wenig und wäre nur die zweckoptimistische, aber hilflose Durchhalteparole, an die ich nicht wirklich glaube. Wahre Zuversicht ist mehr, sie ist ein starkes Charaktermerkmal und das Kind einer tiefen positiven Haltung. Sie vereint Gewissheit, Glauben und Lebensbejahung. Sie ist das Fernbleiben von Zweifel am Zuteilwerden persönlichen Glücks. Draußen fällt der erste Schnee!

Neben diesen und ähnlich wichtigen Gedanken füllt sich die Zielgerade des Jahres ganz unauffällig mit diversen Aktivitäten. Als erstes wäre da meine Immuntherapie. Sie beginnt Mitte November mit der ersten Infusion, in wenigen Tagen bekomme ich schon die dritte, dann verlängern wir das Intervall auf sechs Wochen. Ob die gewünschte Wirkung eintritt und meine Flecken in der Lunge verschwinden oder zumindest stagnieren, werde ich erstmalig im Februar bei der nächsten Kontrolle erfahren können. Zuversicht! Siehe oben! 

Die zweitwichtigste Aktivität ist der weitere Ausbau meiner Esskompetenz. Ich unternehme fast täglich neue Koch- und Zubereitungsversuche. Mit wechselndem Erfolg experimentiere ich mit Zucker, Säure und Gewürzen und wage mich schrittweise an Schärfe, Konsistenz und Textur. Immer wieder frappiert mich mein Körper mit seinen Reaktionen und auch mit der Veränderung der Wahrnehmung. Was gestern nicht möglich war, ist heute plötzlich kein Problem mehr. Die Kombination von süßen und gleichzeitig sauren Zutaten, wie zum Beispiel Gewürzgurken oder Salatdressings, ist nur mit deutlichen Schmerzen in den ramponierten Zähnen zu ertragen. Zwei Wochen später ist diese Hürde wie durch Zauberhand weitgehend verschwunden. Ebenso lässt die stark schmerzhafte Wirkung von Schokolade rapide nach, jedoch wage ich den Verzehr nicht ohne ein bereitgestelltes Glas mit warmem Wasser, das mich im Notfall retten kann.

Diverse Koch- und Essversuche:

Es ist bereits Anfang Dezember und ich reise mit meiner Schwester zu den Nepaltagen der Namaste-Stiftung in die Nähe von München, einer Hilfsorganisation für Menschen in Dhulikhel. Wir wollen dort diverse Punkte eines PR- und Fotoprojektes besprechen. Es kommt jedoch ganz anders als geplant. Es schneit immer mehr, je weiter wir in den Süden Deutschlands kommen und wir geraten in ein seltenes und heftiges Schneechaos. Im Grunde genommen ist die weiße Pracht wunderschön und eine Augenweide, allerdings bricht der gesamte Verkehr in und um München zusammen, so dass die Veranstaltung komplett ausfällt und wir nicht mehr tun können als die weiße Welt in und um unseren Landgasthof zu genießen. Spaziergänge über die verkehrsfreien Straßen und um den tief verschneiten Dorfanger sind eine Wohltat und die verdiente Einkehr mit warmen Apfelringen, Kaiserschmarr'n und heißem Cappuccino hat was von Winterwunderlandgefühl. Nach ungeplanten drei Tagen gelingt uns die Abreise mit der völlig überforderten Deutschen Bahn und wir kehren unverrichteter Dinge zurück ins verregnete Tecklenburger Land.

Der vorweihnachtliche Besuch in Berlin gelingt etwas besser, wenn auch meine liebe Freundin und Gastgeberin unerwartet verreisen und mich alleine ihren Gastgemächern überlassen muss. Nun ja, in Berlin wird es nicht langweilig und eine Ausstellung meiner Lieblingsfotografin Mary Ellen Mark ist mehr als eine willkommene Alternative. Ich habe Marks Bilder noch nie im Original gesehen und war überwältigt von ihrer Wirkung und Ausdruckskraft. Die anderen Tage treibt es mich durch die altbekannte Hektik meiner einstigen Heimat, die mich mit ihrem annualen, weihnachtlichen Konsumglitzern nicht überzeugen kann. Ein kleines Café in einem Kiezhinterhof schafft Abhilfe und Wohlbefinden.

Dann noch einmal mit Sohn und Freundin über den Kreuzberger Türkenmarkt schlendern und des Nachts um die Häuser ziehen. Wie sehr habe ich diese wohltuenden Kneipengespräche vermisst. Nach fünf ausgefüllten Tagen geht's zurück. Leider patzt die Bahn erneut und ich lerne ungewollt sämtliche Nebenstrecken bis nach Osnabrück kennen. Eine überflüssige Erfahrung...

Und dann kommt ja noch Weihnachten - oder auch nicht. Schon fast traditionell feiern wir Weihnachten ohne Bühnenbild und Kostüm. An Requisiten brauchen wir einen liebevoll gedeckten Tisch, jemanden, der Lust hat, eine kleine Leckerei zu kochen und zur optischen Entzückung etwas Kerzenschein. Der Rest ist kreative Improvisation und kommunikativer Free-Flow. Welch wunderbare Alternative im Vergleich zum Erschöpfungszustand der alljährlichen Weihnachtsopfer! Und wie glücklich fügt sich der kürzliche Fortfall meiner Schokoladenaversion mit der Fertigung feinster Pralinen meiner Schwester. Der Trüffel mit einer Ganache von Kaffeelikör war wunderbar und ein Quell der Zuversicht: Ich habe die Kaffeeexplosion geschmeckt! Das Glas warmes Wasser stand bereit. Unangetastet!

Und nun laufen die letzten Stunden des krassesten Jahres meines Lebens ab und ich weiß überhaupt noch nicht, was genau ich mit dem nächsten Jahr anfangen werde. Welche Optionen und Freiheitsgrade bleiben mir? Reicht meine Zuversicht aus, um ein wenig Sekundenglück zu erleben? Finde ich weiter den Weg zurück ins Leben und wie lebenswert werde ich es gestalten können? Viele Fragen bedeuten viele spannende Aufgaben. Schließlich bestimmen die Umstände der Vergangenheit nicht wohin mein Leben gehen wird, sondern lediglich wo es anfängt!
Doch nun lade ich mich erst einmal ein zu "Tartare de saumon de fin d'année". Habe ich mir zum Silvesterfest extra für mich ausgedacht. Man beachte die zwei Varianten "grün oben" und "grün unten"...

Hier endet der Blog, gleichzeitig mit einem außergewöhnlichen Jahr, denn für mich soll 2024 etwas völlig Neues beginnen, egal welche Hindernisse sich mir noch in den Weg stellen werden - oder auch nicht! Ich bin dankbar für alles, was meine Familie, meine Freunde und Freundinnen für mich in den letzten Monaten getan haben. Ohne Euch alle hätte ich gute Chancen gehabt, vor dem einen oder anderen Hindernis einfach liegen zu bleiben. Ich wünsche Euch nicht nur ein gutes Neues Jahr, sondern bunte und gesunde Zeiten in unserer nicht mehr einfachen Zeit. Erhalten wir das Gute und erfreuen wir uns an dem, was diese schräge Welt uns noch gelassen hat! Machen wir uns für den bevorstehenden Weg die Taschen mit Glitzer randvoll und pusten wir von Zeit zu Zeit einfach etwas Konfetti ins Leben. Ich denke das ist ein guter Anfang, der Rest wird sich fügen!

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