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🇧🇷 Rio de Janeiro

21. Februar 2023 - Anreise mit Ersteindruck

Der heutige Tag wird der Überschrift „Rio de Janeiro“ nicht gerecht, denn es ist ein reiner Reisetag. Jede Menge Wartezeiten verschwenden Zeit, absurderweise weil ich die formalen Notwendigkeiten in Rekordzeiten erledigen kann. Die Airline bestellte mich mit maßlos übertriebenem Vorlauf zum Flughafen und da ich den Santiago Airport nicht kannte, richtete ich mich in etwa danach. Aber wie das so ist wenn man Puffer einkalkuliert, dann klappt es immer wie am Schnürchen. Das Taxi vom Hotel zum Airport hat freie Bahn, es dauert eine knappe halbe Stunde. Dann vom Drop-off zum Baggage check-in und bis zum Gate in unglaublichen 37 Minuten! Das ist Rekordzeit. Tja, und jetzt sind über zweieinhalb Stunden übrig. Hin und her wandeln, Kaffee trinken, dösen, chatten, Flugzeuge gucken... usw. Boarding, anschnallen, Safety-Ballett. Ich sehe von meinem Fensterplatz aus wie meine gelbe Tasche verladen wird, wie beruhigend. Take-off.

Mit zwanzig Minuten Verspätung starten wir in die Anden gen Rio de Janeiro. Genau kann ich es nicht erkennen, aber wir fliegen in etwa über die Passhöhen, die ich letzte Woche mit dem Motorrad überquert habe. Von hier oben sehen die Berge nicht minder spektakulär aus, ganz im Gegenteil, ich erkenne, wie wenig ich von der Straße aus gesehen habe. Die meiste Gegend, aus ein paar tausend Metern beobachtet, ist menschenleer. Kein Ort, keine Straße, kein Weg, nichts. Nur bunte Berge, Schneefelder und Flusstäler. Ich genieße die unglaubliche Aussicht, auch wenn das eigentliche Highlight, die Schneehöhen des Aconcagua, nur von der linken Seite des Flugzeugs aus zu sehen sind.

Vier Stunden später in Rio bin ich der erste von Bord und an der Migracion, keine halbe Minute, dann bin ich durch. Ein dreifaches Hoch auf einen deutschen Reisepass! Mein Gepäck ist schon da. Läuft! Noch vor den Beamten erreiche ich die Zollkontrolle, dann bin ich raus. Taxifahrer ist noch nicht da, ich war wohl zu schnell. Dauert nicht lange und auf ins Karnevalgetümmel in den Straßen. Ob es repräsentativ ist weiß ich nicht, aber die Straßen sind unter Kontrolle der wenig bekleideten Menschen. Viel nacktes feminines Fleisch, die Hälfte ist gelinde gesagt adipös, Männer beschränken sich auf die Präsentation ihres Oberkörpers. Auch hier überschätzt ein Großteil den visuellen Genuss des Anblicks völlig. Grauenhaft! Es dauert eine Spielfilmlänge bis ich endlich im Hotel bin, auch der Taxifahrer ist glücklich. Sackgasse, Hinterhof, Hochhausschlucht. Au Weia!

Beim Check-In im Hotel muss ich mir permanent sagen, dass ich in Rio bin, dann ist der erste Eindruck nicht so schockierend. Nun, es geht. Alles ist winzig und man hat das Beste draus gemacht. Drinnen ist es wirklich gemütlich und liebevoll eingerichtet. Ich muss jetzt positiv denken. Ich bin angekommen und das ist das Wichtigste.

Das Abendbrot beschaffe ich aus dem hervorragenden Supermarkt an der Hauptstraße, auch hier ist Karneval und die Menschen laufen halb nackt und glimmerbestreut durch die Nudelabteilung oder stehen an der Fleischtheke brav in der Schlange. Die Bedienung hinter dem gekühlten Tresen trägt eine Daunenjacke mit Kapuze. Wie krass ist das denn?

Lang wird der Abend nicht. Ich schreibe noch etwas in der hübschen Lounge und genieße den beginnenden Starkregen. Es kühlt innerhalb von Minuten auf unter dreißig Grad ab. Das tut unglaublich gut! Mein erster Tag in Rio und morgen wollen wir uns dann mal den Attraktionen widmen. Gute Nacht!

22. Februar 2023 - Der Kindertraum von Rio

Ich habe seit meiner Kindheit ein Bild von Rio de Janeiro in meinem Kopf und das ist der Blick von oben vom Corcovado herunter auf den Zuckerhut. Damit dürfte das Ausflugsziel für heute feststehen. Es ist nicht ganz einfach, man muss online buchen, sich für ein genaues Zeitfenster entscheiden, früher da sein, lange Schlange stehen. Und leider wird man nur mit Menschenmengen und viel Gedränge belohnt.

Die Fahrt mit dem Bus zur Talstation der Corcovadobahn war eigentlich das angenehmste heute. Wie eine kleine Stadtrundfahrt durch die Stadtteile Botafogo, Flamenco und Laranjeiras. Zum ersten Mal sehe ich den Zuckerhut in der Bucht von Botafogo bei Tageslicht. Was für ein schöner Berg. Es geht zügig weiter, heute ist Feiertag und deshalb ist wenig Verkehr. An der Haltestelle Cosme Velho muss ich aussteigen, dann beginnt die Warterei. Es ist heiß und ich arbeite mich Schattenplätzchen für Schattenplätzchen nach vorne. Irgendwann bin auch ich an der Reihe und habe sogar Glück mit einem Sitzplatz in der ersten Reihe der Zahnradbahn. Steil geht es über abenteuerliche Rumpelschienen und nicht besonders vertrauenerweckende Brücken durch den Urwald nach oben. Durch kleine Lichtungen kann ich ab und zu einen Blick weit nach unten erhaschen auf den Stadtteil Leblon mit dem Strand von Ipanema und auf die Rennstrecke von Gávea. Dann sind wir oben, den Rest geht es zu Fuß weiter. Bei 30°C etwas anstrengend, aber ich will ja die Aussicht!

Die stark parfümierten Menschenmassen lasse ich mal beiseite, mich empfängt ein unbeschreiblicher Ausblick über Rio. Bis nach ganz vorne zum großen Balkon arbeite ich mich vor und lasse das Panorama einfach nur auf mich wirken. Ein weiterer Kindheitstraum geht gerade in Erfüllung. Manchmal dauert es halt über fünfzig Jahre.

Ich schlendere noch etwas herum, im Sockel der gigantischen Statue ist eine kleine Kapelle, einige Menschen singen zur Gitarrenmusik. Nicht schön, aber die brasilianische Hingabe wenn es um Musik geht ist rührend. Auf der Rückseite zwei Etagen tiefer war mal ein Restaurant, das jetzt geschlossen ist. Auf der verwaisten, überwachsenen Veranda kann man unter Bäumen sitzen und die Aussicht nach Westen in die grünen Täler von Rio bestaunen.

Der Weg zurück ist auch mit Wartezeiten verbunden, geht aber flotter, ich kenne den Weg ja jetzt. Noch ein kleiner Spaziergang am weißen Stadtstrand von Botafogo, der aus der Ferne sehr hübsch aussieht, aus der Nähe leider weniger. Also lieber ein nettes Straßencafé und den späten Nachmittag genießen bevor der Regen vielleicht kommt. Es sieht danach aus. Ein eindrucksvoller Tag war das heute und ich bin wieder meinem Motto treu: „One thing a day“.

23. Februar 2023 - Bunte Kirche, bunte Treppe, tolle Aussichten

Da sitze ich morgens so beim Cafecito in der Sonne, steht ein neuer Gast vor der Tür und will rein. Die Crew ist gerade im Haus unterwegs, mache ich doch einfach mal auf. Nein, ich gehöre nicht zum Hotel, auch wenn ich dem Gast Kaffee und einen Warteplatz in der hübschen Lounge anbiete. Wir kommen ins Gespräch. Er ist Belgier, genauso alt wie ich, gerade heute in Brasilien eingetroffen und auch für länger unterwegs. Es gibt manchmal Menschen, mit denen ich mich unterhalte und nach den ersten Minuten das Gefühl habe, wir kennen uns schon Ewigkeiten. So ist das auch heute. Die Autodynamik der Konversation lässt die Zeit zur Nebensache werden. Es wird Mittag und die Stadt ruft.

Wir machen uns ohne großen Plan auf nach Santa Teresa. Da die Busse irgendwie zu kompliziert sind, lassen wir uns kurzerhand mit dem Taxi in das beliebte Viertel kutschieren und beginnen unseren Rundgang an der gigantischen, pyramidalen Catedral Metropolitana de São Sebastião im Stadtteil Centro. Ich habe selten eine gewaltigere Kirche gesehen. Dem brutalen Stahlbeton mit über siebzig Metern Höhe und über 100 Metern Durchmesser stehen vier riesige, farbige Hochfenster bis in die Spitze des Gebäudes entgegen. Die Wirkung des durchstrahlenden Lichtes im dunklen Innenraum ist beeindruckend. Die geometrische parallele zu antiken Pyramiden der Maya oder Azteken ist vom Architekten zwar nicht beabsichtigt gewesen, aber für meinen Geschmack äußerst harmonisch und sehr passend für Lateinamerika.

Es geht weiter vorbei am Fundição Progresso, dem größten unabhängigen Kulturzentrum Brasiliens zum Aqueduto da Carioca aus dem 18. Jahrhundert, das zur Brücke für die historische Straßenbahn umfunktioniert wurde. Allerdings hat diese heute geschlossen, es ist Feiertag. Das Umfeld ist nicht so einladend, die Hitze verteilt einen gewissen Gestank von Müll und Fäkalien in der Gegend und die Gesellschaft der Leute hier ist eher wenig vertrauenserweckend. Nein, unsicher fühlen wir uns zu keiner Zeit, niemand ist uns übel gesonnen, im Gegenteil, man grüßt uns sogar zurückhaltend. Wir grüßen freundlich zurück. Gelächelt wird aber irgendwie nicht. Eine komische Situation. Als bedrohlich empfinde ich, was Menschen ertragen können und den Gedanken, wohin das eines Tages führt, wenn sich diese geschundenen Kreaturen konsequent gegen dieses unerträgliche Leben auflehnen, für das sie ursächlich nicht verantwortlich gemacht werden können, sondern wir Reichen uns an die Nase fassen müssen. Hier kann man jetzt weiterdenken...

Es geht bergauf durch alte, basaltgepflasterte Gassen nach Santa Teresa. Das Leben verdichtet sich, Straßenkneipen, Kioske mit Musik und viele Straßenhändler mit Wasser oder Saft. Und je näher wir der Escadaria Selarón kommen - einer Hauptattraktion Rios, um so mehr Touris füllen die Straßen. Die bunt und ideenreich geflieste und gekachelte Treppe des chilenischen Künstlers Jorge Selarón ist eine Hommage an die Menschen Brasiliens. Man würde Tage brauchen, um sich all den witzigen oder bedeutungsvollen Details zu widmen. Fliesen zunächst aus den Straßenabfällen Rios und später Spenden aus aller Herren Länder, von Kitsch bis Kultur wurden vom Künstler verbaut. „Dieses Werk wird nie fertig, erst am Tage meines Todes.“, sagte Selarón mal in einem Interview. Er wurde am 10. Januar 2013 auf der Klostertreppe Santa Teresa verbrannt gefunden - vermutlich ermordet.

Noch beeindruckt von Selaróns unglaublicher Treppe quälen wir uns auf den steilen Berg von Santa Teresa bis zu einem Aussichtspunkt in den obersten Straßen. Hier oben ist es sehr beschaulich mit schönen kleinen Villen und tollen Aussichten. Eher etwas für die betuchten Bürger Rios. Kleine Pause, Wassernachschub besorgen und dann wieder allmählich den ganzen Weg zurück.

An der Treppe herrscht immer noch Trubel, die Schlangen für die klassischen Stufen-Selfies reißen nicht ab. Wir suchen uns lieber ein nettes Café und erfrischen uns mit gekühlten Getränken. Mit einsetzender Dämmerung bringt uns ein Taxi für ein paar Euros von der Igreja Nossa Senhora do Carmo da Lapa do Desterro zurück zum Hotel nach Botafogo. Zeit für Dinner. Die Wahl der Örtlichkeit ist schwer, das Angebot ist hier sehr breit und gut. In einem Weinladen, es gibt Lachstartar mit Chardonnay. Ich denke gerade an die Straßenmenschen von Santa Teresa von heute Nachmittag. Rio ist eine ziemlich krasse Stadt, und das schon bei dem winzigen, harmlosen Ausschnitt, den ich in den zwei Tagen gesehen habe. Von den Favelas rede ich nicht, dort kann ich nicht hin.

24. Februar 2023 - Wo bist Du, Girl from Ipanema? Adeus Rio!

Mein Flug geht spät am Abend, mein belgischer Reisefreund und ich beschließen den Tag noch zu nutzen für einen Spaziergang am legendären Strand von Ipanema und an der Copacabana. Ja, wir wissen, dass es nicht wirklich schön sein wird, aber was es mit diesen weltberühmten Stadtstränden auf sich hat, möchten wir dennoch live ergründen.

Zunächst frühstücken wir ausgiebig am Praça Nelson Mandela, dann nehmen wir den erst besten Bus mit dem Ziel Ipanema. Wird schon irgendwo zum Strand fahren, ist ja nicht zu verfehlen. Es ist wieder reichlich heiß heute und die Luftfeuchtigkeit sorgt für dauernd feuchte und klebrige Klamotten. Insofern kann ich das verstehen, dass die Hälfte der Menschen hier in Badekleidung herumläuft. Die rumpelige Fahrt dauert eine halbe Stunde, der Wind erfrischt ein wenig. Irgendwann, als durch die Straßenschluchten am anderen Ende der Blocks der Strand zu sehen ist, steigen wir aus. Riesige Häuser, Hochhäuser und vielspuriger Verkehr dominieren die Szenerie. Und plötzlich enden die Gebäude, die vierspurige Allee ist noch zu überqueren, dann sind wir an der Promenade von Ipanema. Der Name bezaubert mich mehr als das, was ich sehe. Ob es hier irgendwann mal schön war, als das Girl von Ipanema noch durch die Rua Montenegro zum Strand ging, weiß ich nicht. Das war in dem Jahr als ich geboren wurde. Die Geschichte dieses wunderbaren Bossa Nova Klassikers aus den Federn von Antônio Carlos Jobim und Vinícius de Moraes ist nämlich wahr und belegt. Jazzfreunde wissen das, alle anderen lest mal nach, eine sehr brasilianische Geschichte!

Die Musik im Ohr ziehen wir runter zum klaren Strand und lassen - zumindest unsere Füße - vom frischen Atlantik abkühlen. Ich möchte erwähnen, dass der Strand wirklich blitzsauber und der fast weiße Sand eine Einladung für alle Strandliebhaber ist. Voll ist es auch nicht, denn der Praia de Ipanema ist unglaublich lang mit genug Platz für alle. Etwas später eine kleine Pause am östlichen Ende, dann ziehen wir über den Hügel weiter zur Copacabana. Das Flair ist identisch am berühmtesten Strand Rios, nur ist alles noch eine Nummer größer. Alles ist breiter, größer und höher. Strandbars reihen sich über drei Kilometer aneinander, die Hotelbunker sehen alle ähnlich aus und sind nicht besonders schön. Einzig das Copacabana Palace hebt sich ab, aber auch das ist eher klotzig als gemütlich.

Nach kleiner Mittagspause schlendern wir noch bis Mureta do Leme, dem Ende der Copacabana. So, das hätten wir dann erledigt. Schön, mal hier gewesen zu sein, auch wenn es kein Ort ist, an dem ich meine Seele baumeln lassen würde oder mein Herz verloren gehen könnte. Halten wir einfach die Musik und die Geschichte der Garota de Ipanema in Erinnerung und machen uns mit dem nächst besten Bus auf den Heimweg nach Botafogo.

Es ist Zeit, mich langsam reisefertig zu machen, mein Taxi kommt in zwei Stunden und noch vor Mitternacht werde ich Südamerika nach fast vier Monaten wieder verlassen. Etwas wehmütig, aber mit großer Dankbarkeit für all das Erlebte und Gesehene, für die Überraschungen und Wunder der Natur. Vor allem aber für die Begegnungen mit den vielen Freunden und Menschen, die ich unterwegs getroffen habe, die meine Gastgeber, Ratgeber, Gesprächspartner, Unterstützer und Begleiter waren. Danke Euch allen und danke auch an Euch, die ihr virtuell dabei wart und mitgereist seid.

Claudio, Ronny, Felipe, Francesco, Rubinho, Manfred, Tina, Francois, Ulrich, Jorge, Simon, Christoph, Robert, Eduardo, Leandro e Danielle, Christoph, Nico, Augustine, Fede, Rodrigo, Helmuth e família, Steven, Xiao, Steve, Carlos, Iván, Constanza, Niels, Dominique.

Hasta la proxima vez / Jusqu'à la prochaine fois / Até a próxima vez / 直到下一次。/ Until we meet again / Bis zum nächsten Mal.

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