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🇨🇱 Auszeit 2022 - Carretera Austral

12./13. November 2022 - Warten, planen, plaudern

Nach dem wunderschönen Ausflug in die Südsee habe ich mir übers Wochenende zwei freie Tage in Santiago eingeräumt. Bienchen ist bereits in Chile, genauer im Hafen von San Antonio und wartet vermutlich sehnlichst darauf, abgeholt zu werden. Da mir das aber am Samstag in der Früh zu hektisch erscheint und ich ohnehin noch einiges zu tun habe, bevor ich Richtung Süden losfahren kann, sind diese zwei Tage sehr zweckmäßig ausgefüllt. Ich habe mir ein Hotel direkt am Busbahnhof genommen, dann ist der Weg am Montagmorgen nicht so weit, denn schon um 7:15h muss ich den Bus nach San Antonio bekommen. Dort erwartet mich Ronny von der Spedition, er hilft mir durch den Zoll und das zu erwartende Papierchaos der Behörden.

Es regnet draußen in Strömen, ich sitze bei Kaffee und Keksen im neunten Stock und blicke auf das nicht ganz so schöne Busbahnhofsviertel. Etwas runtergekommen ist die Gegend in diesem Stadtteil schon, es gibt nichts zu erleben hier und die Gestalten, die auf der riesigen Avenida herumlaufen, erscheinen alle etwas schräg, aber das liegt bestimmt zum großen Teil an meiner persönlichen Messlatte und all den Klischees, die ich so in meinem Leben eingeprägt bekommen habe. Aber ich sitze ja eh in meinem Zimmer, schreibe meine Osterinselgeschichte zu Ende und bereite meinen Blog vor für das, was da beginnen wird in den nächsten Tagen. Nun ja, dann hole ich auch noch etwas Schlaf nach und nehme mir Zeit für ein paar Chatkränzchen mit Freunden.

Morgen ist der große Tag des Wiedersehens und ein neues Kapitel meiner Reise beginnt. Ich freue mich!

14. November 2022 - Wiedersehen in San Antonio

Heute ist der große Tag des Wiedersehens mit Bienchen. Ich bin gespannt, ob alles heile ist oder ob es Probleme bei der Verzollung gibt. Um 9:00 Uhr treffe ich mich mit Ronny, dem Agenten meiner Spedition, in San Antonio Barrancas. Der weiß, wie es geht.

Doch zuvor ist frühes Aufstehen angesagt, was mir dieses Mal nicht schwer fällt, da mich seit zwei Tagen eine gewisse Unruhe quält. Sachen habe ich gestern Abend schon gepackt, so dass ich nur meine große gelbe Motorradtasche schultern muss und meinen kleinen Fotorucksack. Der Busbahnhof ist direkt gegenüber, das Ticket habe ich in der Tasche, es geht los.

Alles ist leicht zu finden, zur Sicherheit dreimal fragen und die Information durch drei teilen. Passt! Andén doce, salida siete y cuarto. So ist noch genug Zeit für einen heißen café con leche. Das rege Treiben auf den Bahnsteigen lässt die gefühlte Wartezeit schrumpfen. Ein Kommen und Gehen, Passagiere laden Gepäck in den Bauch der orangen Busse, Chauffeure reißen Tickets ab, Menschen umarmen und küssen sich zum Abschied, andere winken nur. Wenige Minuten vor der Abfahrt rufen die Bahnsteigassistenten den Bus lauthals aus, während die Fahrerinnen und Fahrer die Motoren aufheulen lassen für den Kampf auf der Landstraße, wie das Hufescharren eines spanischen Cabrera. Ich hoffe, in den 38 Jahren seit meinem ersten Besuch in Südamerika hat sich einiges geändert an der Fahrweise und ich werde eine sichere Fahrt nach San Antonio genießen dürfen.

Dann kommt mein Bus, auch hier erfolgt alles nach dem beschriebenen Abfertigungsritual. Einsteigen und Platz nehmen. Leider ist der Passagierraum komplett von der Busspitze abgeschottet. Wand, Tür, alles schwarz und undurchsichtig. Ich sitze in der ersten Reihe, die Fenster sind von außen mit Werbung beklebt und ich sehe fast nichts. Nun gut, es ist nur eine Stunde vierzig, der kleine Ausblick aus dem Seitenfenster soll genügen, ich versuche zu schlafen. Angelica Mendoza fährt eine heiße Naht, hart am Limit von 100 km/h, sie kennt den Weg, sie macht ihren Job ziemlich gut. All das wird in roter Leuchtschrift über der Tür angezeigt, „Por tu seguridad!“ lautet die Überschrift darüber. Danke, ich fühle mich sicher.

Die Landschaft bis San Antonio scheint langweilig zu sein, soviel ich jedenfalls durch mein kleines Fensterloch sehen kann. Dann nach etwas Rumgekurve sind wir da. Viel weiter hätte es nicht sein dürfen, ich bin auf dem Weg zur Kotzgrenze. Aussteigen, tief Luft holen, Gepäck schultern und raus aus dem Busbahnhof.

„Thomas“, höre ich jemanden rufen. Es kommt von der anderen Straßenseite. Noch einmal, „Thomas!“ Ich sehe niemanden im Gewühl. Da, ein Winken, silberner SUV, das ist richtig. Ronny weiß, dass ich eine große gelbe Motorradtasche habe. Er lacht: „Hi! Wie geht’s? Gute Fahrt gehabt?“ „Nein, war scheiße, aber schön, dass ich jetzt hier bin.“ Ich antworte möglichst ehrlich. Fünfzehn Minuten durch den morgendlichen Verkehr, Ronny kennt den Weg. Klar! Einfahrt in den gesicherten Zollbereich, kurzer Wortwechsel, man winkt sich zu, man kennt sich. Parken, Sicherheitshelm, Warnweste und im Zollgelände immer schön auf dem Zebrastreifen bleiben. Das ist hier zwar Bezirksliga gegen Hamburg, aber meine Spannung könnte nicht größer sein. Und irgendwo in einer gemütlichen Hallenecke steht sie dann, mein Bienchen! Als hätte ich sie gerade hier abgestellt. Unversehrt, ganz locker auf dem Seitenständer, noch im Tiefschlaf. Einmal rumgehen, anfassen und Ronny freut sich glaube ich mit mir, dass sie heile hier ist. Sattel runter, Zehner-Schlüssel aus dem Bordwerkzeug und die Batterie anschließen. Erst rot dann Masse, die Bordanzeige flackert kurz und zeigt Lebenszeichen. Kontakte festziehen, Zündung ein, alles leuchtet, alles auf An! Starter drücken, drei Umdrehungen und Bienchen läuft! Trocken und sonor der Sound, als hätte sie gerade ein entspanntes Wochenende in der Garage hinter sich und nicht 8000 Seemeilen im dunklen Container. Vor zehn Wochen habe ich sie in Hamburg übergeben, jetzt kann ich mein Versprechen einlösen. Wir sind zusammen in Südamerika! Mann, bin ich happy!

Der Rest war Pillepalle. Papierkram, Pontius, Pilatus, Inspección de aduana, Unterschriften, super nette Zollbeamte. Ronny weiß genau wie es geht, absolut professionell! Händeschütteln am Parkplatz, Ronny verabschiedet sich mit besten Wünschen für meine Reise und dann stehe ich da. Ganz alleine in einem Überseehafen in Südamerika mit Bienchen. Bähm! Na gut, dann machen wir das jetzt!

Mein erstes Ziel hatte ich gestern schon ins Navi eingegeben. Abrufen und Start. Pichilemu heißt es und ist ein kleiner Ausflugsort an der Pazifikküste. Er ist nicht weit. Dort will ich alles neu sortieren und richtig packen, schließlich habe ich ja den ganzen Krempel aus Neuseeland noch dabei.

Schnell bin ich auf kleinen Landstraßen, das Wetter kann nicht besser sein, es wird leerer und ich bin die ganze Zeit damit beschäftigt, mir zu vergegenwärtigen, dass ich mit Bienchen in Südamerika unterwegs bin. Mein Gemütspendel schwingt von „Was mache ich eigentlich gerade hier?“ bis „Ist das geil und easy!“ Das bleibt auch so bis ich ein kleines Hotel am Straßenrand finde. Super nett und preiswert, Bienchen parkt im Innenhof, früher Nachmittag, Spaziergang am schwarzen Strand, buntes Restaurant, leckerer Salat mit deutschem Bier. Es geht nicht besser und ich bekomme mein Lachen nicht aus dem Gesicht. Später dann nach der erstaunlich simplen Packaktion ins gemütliche Bett. Was für ein Tag.

15. November 2022 - Schottertest bestanden und Ruta 5 bis Chillán

Ich muss nun sehen, dass ich nach Süden komme, es ist weit bis Patagonien. Ja, es gäbe viel zu sehen bis dahin, aber alles geht nicht und das Ziel ist nun einmal Patagonien. Ich beherzige Ronnys Rat, an der Küste entlang zu fahren und habe mir die Route über Constitución und San Javier nach Chillán gelegt. Herrliche Landschaft, leere Straßen und dann ein zu später Blick aufs Navi. Verfahren! So’n Mist. Ok, Umdrehen und dem Navi folgen. Was ich vergessen habe ist, dass das Navi von der luxuriösen Neuseelandreise noch auf „Motorrad“ steht (d.h. unbefestigte Straßen erlaubt), das ist hier in Südamerika aber ein anderer Schnack. Und so sagte es mir, hier links, 33 km bis nach Hualañé und dann fahre ich auch links. Schotter. Ok, daran werde ich mich eh gewöhnen müssen. Etwas sandig. Auch daran werde ich mich gewöhnen müssen. Es wird wunderbar einsam und schön bergig. Es geht hoch hinauf, die Luft wird frisch. Der Schotter wird grober, die Straße wird zerfurchter. Ok, ich mache das schon. Die ersten steilen Spitzkehren kommen, zusammen mit tischtennisballgroßem Kies. Es rutscht und die Karre versetzt. Runterschalten, etwas höher drehen, im Stehen fahren. Klar! Nicht denken, locker bleiben, schön aus den Oberschenkeln wie im Tiefschnee. Wir haben 420 kg zu manövrieren, nicht denken jetzt, weit nach vorne gucken, offensiv fahren, nicht zu langsam. Weia, war ich gar nicht drauf eingestellt. Aber wenn jetzt... Stop! Nicht denken hab‘ ich gesagt! Fahren! So geht das eine ganze Weile und es geht gut. Ich habe zwar schon mehrere Geländetrainings bei einem Europameister gemacht, aber ich bin halt keiner. Bevor es jetzt steil wieder runter geht noch das ABS abschalten, auf geht’s. Tolle Gegend hier! Dann münde ich irgendwann wieder auf die asphaltierte J-60 ein. Puh, geschafft! Aus Zeitgründen ändere ich jetzt die Route und fahre zur Ruta 5 nach Süden. Es folgt langweilige Autobahn, aber ich schaffe es so noch gemütlich nach Chillán. Ein Hotel habe ich schnell gefunden, aber das Kaff ist irgendwie komisch. Alles geschlossen, dennoch tausend Leute in den Straßen, chaotisch. Keine Restaurants, auf „Restaurante Fuente Alemana“ habe ich keine Lust, dann finde ich frappierenderweise einen coolen Mexikaner. Richtig gute Veggie-Tacos vom Feinsten und wie immer deutsches Bier (in Chile gebraut). Ich bin etwas platt und so lande ich kurz darauf auch in meiner Kiste. Herrlich und wie schön, dass ich die erste Schotterprüfung so gut bestanden habe.

16. November 2022 - Noch mehr Ruta 5, Kilometerfressen bis Osorno

Heute sind 530 Kilometer angesagt bis Osorno. Einfach nur voran kommen, mal sehen, ob ich es soweit schaffe. Passiert ist unterwegs rein gar nichts. Autobahn, Sonnenschein und an der letzten Ausfahrt, hinter der Mautstelle, halte ich neben einem Biker, mit dem ich mich mehrmals unterwegs überholt habe. „¡Hola! ¿Cómo estás? ¿También estás buscando un hotel?“ „Claro, mi llama Felipe.“ „Yo soy Thomas.“, dann suchen wir zusammen... Netter Kerl. In Osorno ist komischerweise alles ausgebucht. Wir stehen am Straßenrand, einer mit Booking-Portal, der andere mit Google Maps. Von hinten spricht mich jemand an: „Des ischt ja nett, kann ich euch helfe?“ Schwäbisch? Meine Güte, ich bin in Chile! Ein netter Mann bietet zwei suchenden Motorradfahrern lächelnd seine Hilfe an, ist das freundlich! Aber das Schwäbisch passt irgendwie nicht. Herrlich! Nein, danke, Felipe hat gerade was gefunden. Gleich um die Ecke, aber Fehlanzeige, alles voll. Dann kommt der Sprachjoker, Felipe plaudert mit den Mädels von der Rezeption und die beginnen zu chatten und zu telefonieren. Es gibt noch Zimmer, irgendwo, Felipe bekommt die Adresse und auf geht’s. Es ist ein Hostal und wir bekommen ein Doppelzimmer. Gut, Biker sind da recht unkompliziert und meine Frage, ob es denn getrennte Betten seien, führt zu einem kollektiven herzlichen Lachen. Der anschließende Abend wird in Folge sehr entspannt, die Nacht aber sehr unruhig, da eine ganze Mädchenequipe eines argentinischen Sportclubs eingecheckt ist. Alles egal, Essen, Bett, schlafen. Viel geschafft heute.

17. November 2022 - Seen und Vulkane

Felipe fährt früh los, er hat nur zwei Wochen Zeit für die Carretera Austral. Kurzer Abschied, hat richtig Spaß gemacht! Für ihn geht die Reise heute zur Ruta 7, der Carretera Austral, mein Weg geht nach Osten zu den Seen und den Vulkanen. Irgendwie bin ich noch nicht reif für die Carretera, ich brauche noch etwas Vorlauf. Und Vulkane finde ich toll und Zeit habe ich genug. Es sind nur gute 220 Kilometer. Ich fahre bis zum Salto los Novios nahe der argentinischen Grenze, dann kehre ich um, passiere den Osorno Vulkan, der gerade seinen Schneegipfel in der Sonne präsentiert, und folge dann der Ruta 225 bis zu meinem Ziel, einer schönen Lodge zwischen den Vulkanen Osorno und Calbuco. Hier lasse ich es mir gut gehen für zwei Nächte. Das war’s für heute.

18. November 2022 - Entspannung zwischen Vulkanen

Ruhetag in der Entre Volcanes Lodge. Es ist bedeckt und am Nachmittag regnet es sogar heftig. Schlafen, lesen, planen, Fotos bearbeiten, spazieren gehen und ein Burrito vegetal der Extraklasse und - ihr ahnt es schon - mit einem deutschen Bier in Chile gebraut. Hier ist ziemlich viel deutsch. Es gibt überall „Kuchen“ und die Pensionen heißen „Waldhaus“, „Das Glück“ oder „Edelweiß“. Dann endet der Ruhetag auch schon mit einer richtig stillen Nacht.

19. November 2022 - Regentour und bunt im Wasser wohnen - Castro, Chiloé

Regen ist angesagt. Nach gutem Frühstück breche ich zeitig auf. Ich möchte heute nach Chiloé. Das ist eine Insel, die recht schön sein soll. Die Fahrt ist dementsprechend, glücklicherweise habe ich die Regenkombi rechtzeitig angezogen und lasse es einfach über mich ergehen. An der Fähre muss ich nicht lange warten, 30 Minuten später landen wir in Chacao auf Chiloé an und der Regen lässt nach. Die verbleibende Strecke bis nach Castro, meinem Ziel, scheint schön zu sein, allerdings ist es bedeckt und die Sicht ist nicht besonders toll. Dafür ist mein Zimmer recht schön, ich wohne in einem typischen Palafito direkt am bzw. im Wasser. Die Palafitos sind Pfahlbauten, von denen es auf Chiloé sehr viele gibt. Sie sind meist bunt angestrichen und größtenteils bewohnt, allerdings ist die Blütezeit offensichtlich vorbei. Es gibt einigen Leerstand und die einst hübschen Stelzenhäuser sind dem langsamen Verfall überlassen. Ich parke Bienchen auf der Hotelterrasse, das sei sehr sicher, sagt Nelida, die Besitzerin.

Dann folgt ein kleiner Stadtrundgang, der mich mittelmäßig begeistert. Reges Treiben, bunte, aber runtergekommene Häuser, eine schöne einst gelbe Wellblech-Kirche, der ein Lifting gut täte. Ich kaufe noch ein paar Sachen fürs Abendbrot ein, Restaurant habe ich keine Lust drauf heute Abend. Dann mache ich es mir gemütlich in meinem echt schönen Palafito. Die Flut läuft ein, mein Haus steht jetzt vollständig im Wasser. Die Möwen sitzen auf meinem Balkon bis es dunkel wird. Ich hole meine Schreibschulden auf, dann geht’s in Bett.

20. November 2022 - Kleine Planänderung und auf zur Carretera Austral

Da die Fähre nach Chaitén erst heute Abend ablegt und ich mitten in der Nacht in Chaitén ankäme, verzichte ich auf die Überfahrt. Zudem ist heute prächtiges Wetter und ich habe viel Zeit. Kurz: Ich gönne mir die Mopedfahrt und werde wohl in Hornopirén übernachten.

Kleines Frühstück mit den Resten von gestern, im Gepäck habe ich noch ein paar Beutel Tee aus den besseren Hotels, das soll reichen. Anschließend mache ich mich auf, die Insel Chiloé wenigstens ein bisschen zu erkunden. Das Ding mit den Nebenstrecken auf meinem Navi geht natürlich wieder schief und schon nach zwanzig Minuten stehe ich auf einem Feldweg in einer Sackgasse mit einem Schild „Wanderweg in schlechtem Zustand“. Nun gut, umdrehen und die größeren Straßen wählen, auch die sind zwischendurch geschottert, das ist Abenteuer genug, dann wird es schön. Alles grün, lange sonnige Landstraßen und kein Verkehr. Ich durchfahre viele kleine Dörfer, alle sind wie ausgestorben. Bunte Kirchen gibt es überall, ich erwähnte ja schon früher, dass ich diese Mischung aus Frömmigkeit und kitschiger Farbenfreude so sehr mag. Nach anderthalb Stunden endet die Nebenstrecke direkt an der Fähre in Chacao. Ich schiffe ein und fahre zurück nach Pargua und dann weiter auf dem schnellsten Weg nach Puerto Montt, wo offiziell die Carretera Austral beginnt.

Am Horizont begleiten mich die ganze Zeit die großen Vulkane Osorno und Calbuco, die Innenstadt von Puerto Montt ist schnell hinter mir, ein großes Straßenschild kündigt den offiziellen Beginn der Ruta 7 an, der berühmten Carretera Austral. Jetzt bin ich endlich da, wo ich hinwollte. Patagonien.

Noch darf ich den asphaltierten Teil der Ruta 7 genießen, das wird nicht so bleiben. Ich komme flott voran, die Landschaft wird langsam grüner und einsamer. Dann erreiche ich die erste Fähre in La Arena. Ein witziges Gespräch mit zwei netten Motorradpolizisten vertreibt mir die Zeit, unsere gemeinsame Motorradmarke hat das Eis gebrochen. Dann ist es soweit und unser Schiff legt an. Aus- und Einladen geht hier ganz zügig, es folgt eine herrliche Überfahrt. Ich liebe Fährfahrten, sie trennen so schön das Alte von dem Neuen, was folgt. Mit tut das ganz gut, da ich nach Neuseeland und Osterinsel noch so gar nicht auf Staub- und Schotterpisten eingestellt bin. In Puelche angekommen bin ich als erster von der Fähre und es geht recht flott bis Hornopirén. Die Sonne scheint immer noch, ein Hotel ist schnell gefunden, dann lecker Abendessen im nächst besten Restaurant. Ein kleiner Spaziergang führt mich noch zum Hafen, wo eine kleine Kirmes gastiert. Ich fühle mich in die Siebziger zurückversetzt, wenn ich mir die Fahrgeschäfte ansehe. Nur diese unglaubliche Bergkulisse im Hintergrund macht das Bild irgendwie surreal. Ich treffe später noch zwei Brasilianer im Hotel, Francesco und Rubinho, die den gleichen Weg haben wie ich (hier hat niemand einen anderen Weg...). Kurzer Plausch und dann ab in die Kiste. Morgen ist früh Tag, denn wir haben keine Tickets für die Fähre. Dass sie in der Vorsaison schon ausverkauft sind, überrascht uns alle. Wir werden sehen.

21. November 2022 - Hornopirén nach Chaitén

Noch bevor der Wecker schellt werde ich wach. Draußen sind Geräusche, die beiden Brasilianer packen ihre Mopeds. Sie werden die gleiche Idee haben wie ich, nämlich möglichst früh am Pier zu sein, um auch ohne Ticket noch einen Fährplatz zu bekommen. Meine sieben Sachen sind schon gepackt, ich muss sie also nur noch ins Moped verpacken, dann geht es auch für mich runter zum kleinen Hafen. Ein paar Autos stehen schon in der Schlange, es ist kurz nach sieben. Die Sonne wirft ihre ersten Strahlen über den Berg, die Schwarzhalsschwäne sind schon wach und beginnen ihr Tagwerk auf dem spiegelglatten Wasser. Das kleine Café am Pier öffnet die Türen, es duftet nach frischem Kaffee und Gebäck. Ich bestelle mir einen Café cortado und ein warmes Muffin, dann nehme ich in der wärmenden Morgensonne Platz und warte auf die ersten Aktivitäten am Hafen. Die Fähre liegt noch draußen in der Bucht vor Anker, Bewegung ist nicht zu erkennen. So vergeht die Zeit, einige mehr Motoradfahrer treffen ein, alle ohne Ticket. Mit dem Ausverkauf hat niemand gerechnet. Nicht zu dieser Jahreszeit. Als die Purserin auftaucht, wird sie freundlich von allen Seiten bearbeitet und ausgefragt, wie die Chancen auf einen Platz stehen und wir können ja auch die winzigen Ecken des Schiffes füllen und wir können nicht bis Freitag, dem nächst möglichen Termin, auf die Überfahrt warten usw.

Dann kommt Bewegung in den Hafen. Die Fähre wirft die Maschinen an und fährt auf die Laderampe. Die Offziellen vom Schiff kommen mit viel Begrüßungs-Tamtam an Land und verlesen die Fährgäste von Hand. Zuerst alle mit Ticket, dann nach Fahrzeuggröße, dann kommen die schweren, platzfressenden Trucks. Die Fähre ist voll. Bis auf eine kleine Ecke achtern. Der Lademeister winkt alle Motorradfahrer heran und sammelt die Pässe derjenigen ohne Ticket ein. Dann können wir auffahren. Bezahlt wird später auf dem Boot. Große Freude in der Bikergemeinde, alle sind erlöst und heilfroh, die Stimmung kann kaum besser sein. Dann legen wir auch schon ab in die traumhafte, morgendliche Bucht von Hornopirén.

Vier Stunden und eine halbe wird die Fahrt dauern bis Caleta Gonzalo, wo wir wieder terrestrischen Anschluss an die Ruta 7 haben werden. Das Panorama ändert sich langsam aber stetig. Schneebedeckte Gipfel mit bizarren, spitzen Gipfeln wachsen aus dem Hintergrund über die vordergründigen Berge hinaus. Weiße Bergkämme erscheinen und verschwinden, das blaue Meer hat manchmal spiegelglatte Flächen, die sich scharf getrennt von heftig kräuselndem Wasser abgrenzen. Eine Erklärung für dieses verblüffende Phänomen habe ich noch nicht gefunden. Als wir nach drei Stunden in die Zielbucht einfahren wird es sehr still und sogar der kräftige Wind lässt nach. Niemandsland, alles grün und waldig um uns herum. Dass hier irgendwo eine Anlegestelle sein soll, erscheint absurd, ich vertraue dem Kapitän. Und tatsächlich, in einer winzigen Bucht liegt die betonierte Rampe. Sicher landet der Kapitän das Schiff an, während die Schiffsrampe bereits abgelassen wird.

Dann geht es sehr schnell, jeder will so flott wie möglich los. Warum, wird mir wenige Minuten später klar, als auch wir die Fähre verlassen und auf die Schotterpiste der Carretera fahren. Ein höllischer, heller Staub entfaltet sich, die Piste ist staubtrocken, der Abstand zwischen den Fahrzeugen ist etwa dreißig Meter, wir sind mit den Mopeds vorne mit dabei. Der Untergrund ist nicht einfach zu befahren, eine Großbaustelle empfängt uns mit grober und lockerer Schüttung, vielen Schlaglöchern und engen Spuren. Egal, nur durch! Wenn nur die Sicht nicht so schlecht wäre und der Verkehr nicht so langsam. Es gibt nichts Hässlicheres, als zu langsam zu fahren im Schotter. Nach einigen Kilometern lockert es auf und der Staub wird erträglich. Die Brasilianer sind schon weg, meine Chance zu überholen und davonzufahren bietet sich erst sehr viel später. Dann ist es geschafft und die Asphaltstrecke erlöst mich von der Schlingerfahrt. Für mein Aussehen ist es zwar zu spät, Bienchen und ich sind paniert mit hellgrauem Staub, mal sehen, was der Fahrtwind davon wieder fortbläst. Es ist sehr steil und waldig hier und die schroffen Bergpanoramen sind verschwunden. Kurvenreich führt mich die Ruta 7 bis nach Chaitén, einem kleinen Ort an der Küste, der seelenruhig in der Sonne liegt. Viele Geschäfte haben in der Nebensaison früh geschlossen, ich drehe meine Runden und suche mir ein Hotel, das mir gemütlich erscheint. Ich finde das Hostal El Quijote. Musik schallt auf die Straße, Tische stehen in der Sonne, die Türen sind mit vielen Stickern beklebt und ein freundlicher Wirt empfängt mich. Es gibt noch Zimmer mit Frühstück und aus der Küche duftet es bereits nach gutem Essen. Was will ich mehr? Einchecken, eine simple Kammer ist die meine, das Gemeinschaftsbad ist auf dem Flur, mehr brauche ich nicht. Abstauben, duschen, umziehen und dann in der Sonne ein deutsches „Hopperdietzel“ Bier - elaborado en Chile.

Chaitén selbst ist ein sympathischer, aber sehr spezieller Ort. Ich drehe zu Fuß ein paar Runden um die wenigen Blocks und entlang der Strandpromenade. Die Holzhäuser sind erkennbar mit dem Nötigsten gegen das raue Wetter ausgestattet und in dem ganzen Städtchen riecht es nach Hausbrand. Derzeit wird überall noch etwas geheizt. Es gibt einige Infrastruktur wie Bus- und Fährgesellschaften, einen Pizzaservice, Lebensmittel- und Outdoorläden und natürlich eine ganze Menge Restaurants und Unterkünfte. In der Saison, lasse ich mir sagen, ist hier reichlich mehr los als im Moment. Ich treffe noch ein junges deutsches Tramperpärchen, das aus Peru kommt. Sie sind auf dem Weg zum Campingplatz. Wir unterhalten uns lange, ich möchte wissen, wie sich Peru verändert hat, seit ich 1984 - also vor einer Ewigkeit - dort war. Ich bin von ihren Berichten schockiert und bestätigt, dass ich all die "heiligen" Orte kein zweites Mal in meinem Leben besuchen werde. Dann verweise ich auf meine Bilder Perus auf freibildzone, aber die beiden nutzen das Internet kaum, weder Facebook, Instagramm noch WhatsApp. Respekt! Was für eine Freude, dass es noch solche Puristen gibt, die der unsäglichen Sucht nach Social Media widerstehen können!

Es ist Zeit für Abendbrot, ich mache es mir gemütlich im Restaurant und bestelle, was es gibt. Heute ist es etwas Fisch mit Salat und leckeren Wedges. Eine Französin, die ich aus Hornopirén kenne, hat auch das Restaurant gewählt, es ist immer eine Freude, unterwegs Menschen wiederzutreffen. Man fühlt sich dann wie zu Hause, als ob man guten Bekannten in den Stammkneipen über den Weg läuft. Eine lange dreisprachige Konversation schließt sich an, die Gastgeber mischen sich hier und da ein, der Fernseher plärrt irgendwelchen Unsinn und aus dem Ghettoblaster trieft Schnulzenmusik (Michael Holm Cover auf Spanisch!), zu der El Jefe lauthals und textsicher mitsingt! Er singt wirklich nicht schlecht! Was für ein herrliches Ambiente. Der Fisch ist hervorragend, aber ziemlich salzig. Das wird an dem vielen leidenschaftlichen "Corazón" in El Jefes Gesang liegen. Ja, El Jefe ist eben auch Le Maître de Cuisine.

Irgendwann, als die Sinne nicht mehr aufnahmefähig sind und der Neocortex multilingual versagt, ist es Zeit, in die Nachtruhe überzugehen. Alle verabschieden sich irgendwie gleichzeitig, ich steige nur die wenigen, steilen Stufen hinauf in meine Kammer und es kehrt schlagartig Ruhe ein. Die nächsten Tage soll es regnen, das macht nun nichts mehr, hier kann man es sehr gut aushalten. Gute Nacht, allerseits.

22./23. November 2022 - Dauerregen und viel geschafft

Die nächsten beiden Tage kann ich präzise zusammenfassen: Dauerregen! Das Geräusch auf dem Blechdach nehme ich schon nicht mehr wahr, es hat mittlerweile etwas Meditatives. Außer für einen Spaziergang zum eigenartigen „Museo de Sitio de Chaitén“, das sich dem völlig unerwarteten, gewaltigen Vulkanausbruch des gleichnamigen Chaitén in 2008 widmet, gehe ich nicht vor die Tür. Ich nutze die Zeit, um sehr viele Dinge zu planen - ja, ein wenig Planung ist dann doch notwendig. Die Wege, die vor mir liegen, sind weit und oft ohne jegliche Infrastruktur. Es geht u.a. um Befahrbarkeit von Pisten, Besetzung von Grenzübergängen, Distanzen zwischen Tankstellen und um Übernachtungsmöglichkeiten. Zu allem prüfe ich mehrere Quellen, die leider oft unterschiedliche Informationen liefern und dann braucht man Plan B und C. Meine Quellen sind Karten der lokalen Touristenbüros, Gespräche mit den Einheimischen, meine GPS Karten, Google und Infos von anderen Motorradfahrern, die ich unterwegs getroffen habe. Am Abend kommen wir dann wieder zur Ofenrunde zusammen, es gibt Pisco und was zum Knabbern, das Feuer knistert im Kaminofen und wir diskutieren das ewige ökonomische Problem Chiles, den falschen Umgang der Politiker mit Wasser und die zahlreichen Rückschläge durch Naturkatastrophen. Dreisprachig. Sagte ich ja.

Der Mittwoch ist ähnlich, aber ich bekomme alles fertig und morgen ist das Wetter wieder reiseschön! Hier stimmen glücklicherweise auch alle Quellen überein. Ich freue mich und jetzt bestelle ich mein Abendessen. Mal sehen, was es heute gibt.

Morgen kommen endlich wieder Geschichten von unterwegs. Bis dahin! Buenas noches, dors bien et fais de beaux rêves und good night!

24. November 2022 - Schöner Weg nach Puyuhuapi und Männer spielen in der Matsche

Der Regen hat sich verzogen, die Sonne weckt mich um acht Uhr. Unten in der Stube ist es noch ruhig, ich räume langsam meinen Kram zusammen und packe mein Moped. Javier ist auch schon aktiv, rückt die Straßentische in die Sonne und macht es sich anschließend mit einer ersten Tasse Mate gemütlich. Ich nehme an meinem Lieblingstisch platzt, Javier macht mir Spiegeleier, Käse, Marmelade, Brot und einen starken Kaffee mit etwas Milch. Während er serviert singt er schon wieder von Corazón und amor. Der Fernseher kotzt irgendwelche Fußballschnipsel von gestern ins Frühstück, Deutschland hat glaube ich verloren, Javier freut sich. Meine Frage, in welcher Gruppe Chile spielt, beantwortet er nicht. Es steht wieder unentschieden zwischen uns, was die Schadenfreude angeht. Dann geht es auch schon bald los, herzlicher Abschied von meinen Gastgebern, wie sehr hab‘ ich mich wohl gefühlt hier! Bienchen summt, der Tank ist voll, ein herzliches Winken und El Quijote verschwindet im Rückspiegel.

Die Carretera ist in diesem Abschnitt bis auf ein paar Baustellen asphaltiert, drei Brücken muss ich queren bis Puyuhuapi, die Landschaft ist beeindruckend. Schneller als einhundert fahre ich selten, meistens weniger, auf Schotter (span. ripio) wird es ab sechzig etwas kribbelig, die Schüttung ist relativ grob und die Schlaglöcher sind schon erheblich. Weit ist es nicht bis Puyuhuapi, Slow Travel ist meine Devise und so erreiche ich mein Ziel gemütlich am frühen Nachmittag.

Das Wunschhotel ist leider voll, zwei Türen weiter empfängt man mich gerne. Einchecken, duschen, die letzten, sauberen Kleidungsstücke machen mich wieder gesellschaftsfähig. Ein Spaziergang durchs Dorf, ein Besuch im Minimercado - ich brauche noch Sonnenschutz. Auf dem Heimweg bleibe ich noch im Park hängen. Einige Männer spielen Rayuela, das ist wie das französische Boule nur mit einer Art eisernem Eishockeypuck, der in einen Matschekasten geworfen wird. Die Männer nennen das Spiel Tejo und es ist sehr alt. Dann schlendere ich Richtung Hotel und lasse mir einen sehr leckeren Veggie-Burger servieren mit einem deutschen Bier - gebraut in Chile. Die super netten Mädels hier im Restaurant gibbeln unaufhörlich und amüsieren sich über jedes meiner Worte, entweder mögen sie mich oder ich spreche tatsächlich so ein beschissenes Spanisch, dass Lachen erlaubt ist. Egal, ich habe Hunger. Daran, dass Veggie Food hier immer Eier enthält, habe ich mich längst gewöhnt, aber gleich zwei Spiegeleier in einem Burger ist schon sehr kreativ, zumindest was die technische Essbarkeit angeht. Nach einer mittleren Sauerei bin ich dann auch satt und sehr erfreut, wie gut der Burger war. Bezahlt wird morgen, es ist nur eine kleine steile Holztreppe nach oben in mein Zimmer, dann ist Schicht. Morgen ist Wandertag, da muss ich ausgeschlafen sein. Gute Nacht.

25. November 2022 - Regentag - Sendero Ventisquero Colgante

Es hat nicht geklappt, soviel sei vorweggenommen. Geplant war eine kleine Wanderung zum Ventisquero Colgante, das ist ein riesiger Bergkessel unterhalb eines Gletschers, der das Wasser mehrerer Wasserfälle auffängt und sammelt. Es ist ein spektakulärer Anblick, die hohen Wasserfälle anzusehen, die seit Jahrtausenden das Gletscherwasser zu Tal bringen. Das Wetter ist mäßig heute, am Nachmittag ist Regen möglich. Wir versuchen unser Glück am Morgen und trampen mit dem ersten Auto zum Eingang des Queulat Nationalparks, wo wir mit ganz großem Registrierungs-Zeremoniell um elf Dollar erleichtert werden. „Wir“ das sind eine Französin aus Montpellier und ein junges französisch-spanisches Pärchen, die wir in der gleichen Unterkunft wohnen.

Schon von unten können wir eine kleine Ecke des Gletschers sehen, für den Rest müssen wir uns später anstrengen. Der Wanderweg führt zunächst über eine hölzerne Hängebrücke, dann durch dichten Urwald hinauf zum Aussichtspunkt. Insgesamt sind es knapp anderthalb Stunden mit einem relativ steilen Mittelteil. Ich fühle mich sehr an Neuseeland erinnert, überall ist es grün und es plätschert so gewohnt rechts und links des Weges. Die Farne rollen gerade zu Hunderten ihre neuen Blätter aus, ich fühle mich als sei ich noch gar nicht in Chile. Dann wird es ungemütlicher, es beginnt leicht zu nieseln. Der dichte Urwald kann uns zwar noch vor dem Niederschlag schützen, aber die Wolken ziehen langsam von den Bergen herab. Wir gehen weiter, es ist nicht mehr weit. Keiner verliert ein Wort darüber, aber jeder befürchtet das, was dann leider auch eintritt: Nebel! Wir sind oben am Aussichtspunkt und können fast nichts sehen.

Der internationale Humor und der gut gemeinte Positivismus aller Anwesenden ist zwar ein solidarisches Erlebnis, aber für klare Sicht würde ich jetzt auch einen Bus Kreuzfahrttouristen in Kauf nehmen. Das darf echt nicht wahr sein. Der stärker werdende Regen löscht jeden Funken Hoffnung, wir machen uns auf den Rückweg. Und wenn es schlecht läuft, dann richtig, es beginnt intensiver zu regnen und das Wasser wird durch den Urwald gebündelt und kommt in ganz dicken Tropfen oder Rinnsalen von den Bäumen. Jeder Ast, jeder Busch und jeder ausladende Farn streift seine Wasserfracht irgendwo an unseren Klamotten ab. Auf dem engen und dicht bewachsenen Pfad komme ich mir vor wie zu Fuß in einer Autowaschanlage. Als wir nach einer guten Stunde unten ankommen sind wir alle komplett durchnässt. Glück im Unglück ist, dass wir per Anhalter alle von einem Kleinbus mitgenommen werden, der uns bis vor unser Hotel bringt. Mit diesem frustrierenden Feuchterlebnis ist natürlich auch die Beschäftigung für den Nachmittag klar. Alle Klamotten auf Wäscheleinen verteilen und trocknen. Drinnen! Denn draußen ist es immer noch kalt und nass. So, Frustphase aus. Gemütlichphase an! Das ist übrigens ein erwähnenswerter Punkt, die Menschen hier sind dermaßen hilfsbereit und nett. Sei es bei der Zimmersuche, organisatorischen Dingen wie Tickets, Immigration, Telefonate oder eben beim Trampen. Eine wahre Freude.

Mit allen Wetteropfern treffen wir uns unten im Hotel Don Claudio - auch die, die nicht hier wohnen - und machen uns bei Kaminfeuer, Wein und selbstgebackenem Streuselkuchen einen gemütlichen Plauderabend. Als Überraschungsgast fährt dann auch noch Felipe draußen am Fenster vorbei, mit ihm habe ich mir vor zehn Tagen das letzte Zimmer in Osorno geteilt - ihr erinnert Euch. Er kommt gerade von Süden hoch und ich kann ihn soeben auf der Straße anhalten und heranwinken. Das ist das schöne auf den Traveler-Routen, man trifft sich immer mal wieder. Die Gespräche gehen bis spät in den Abend, mit steigendem Alkoholspiegel vermischen sich die Sprachen zu einem lustigen Kauderwelsch, das eines Wörterbuches der Stilblüten würdig wäre. Dann ist Schlafenszeit, die Hunde lassen mich auf meinem kurzen Heimweg in Ruhe, vielleicht kennen sie mich ja schon oder sie fressen keine Schnapspralinen. Die Sachen im Zimmer sind immer noch feucht, dennoch schlafe ich tief und traumlos. Gute Nacht.

26. November 2022 - Panoramen, Schotterpässe und Blumenmeere

Der Tag beginnt schon mit Sonnenschein und mein Frühstück im Don Claudio nebenan bekomme ich gratis, weil ich gestern Abend einen Gast vermittelt habe. Das war Felipe, der fast vorbeigefahren wäre. Einige der anderen Reisenden sind schon mit dem Sechs-Uhr-Bus losgefahren, die Spanier auf dem Motorrad habe ich noch abfahren gesehen. Der Rest schläft wohl noch. Das Frühstück ist richtig gut, natürlich mit selbstgebackenem Streuselkuchen und richtigem Kaffee. Ein kleiner Plausch noch mit den Franzosen, dann wird es auch für mich Zeit. Bienchen ist schnell gepackt, die immer noch feuchten Klamotten von gestern habe ich alle in einen großen Müllsack gepackt, die werden heute Abend gewaschen. Das Hotel in Coyhaique, meinem Tagesziel, habe ich nur nach dem Kriterium „Waschmaschine“ ausgesucht.

Es sind 233 Kilometer und mich erwarten wunderbare Landschaften und eine leere Carretera Austral. Schotter ist heute nicht viel dabei, es wird also sehr entspannt. Noch schnell zur Sicherheit volltanken, dann die erste Überraschung. Benzin ist alle. Nur Diesel. Bienchen ist allergisch auf Diesel, geht also nicht. Na gut, die angezeigte Reichweite ist noch 450 km, das reicht. Da zahlt sich die Regel aus, an jeder Tankstelle vollzutanken!

Raus aus Puyuhuapi und auf die Ruta 7. Die ersten Kilometer kenne ich ja schon von gestern, Schotterpiste mit elendem Schlaglochmosaik und eine provisorische Brücke. Der erste Teil besteht aus langen Straßen mit unglaublicher Fernsicht. Hier habe ich Zeit, Entfernung zu spüren, hier fühle ich mich tatsächlich sehr weit weg von allem, insbesondere bei dem Gedanken, dass es erst die Hälfte des Weges nach Feuerland ist. Der erste steile Pass am Rio Quelat ist geschottert und geht wirklich in richtig engen Serpentinen nach oben. Wegeindrücke abschalten und auf die Piste schauen. Bienchen macht das hervorragend.

Danach folgt ein zweiter kleinerer Pass, dann wird es wieder beschaulich und schön. Überall Blumen, hinter jeder Kurve eine neue Aussicht auf neue schneebedeckte Berge. Flüsse queren oder begleiten mich, senkrechte Felswände beeindrucken mich und werfen gefährlich große Steine auf die Straße, Seen spiegeln das Bergpanorama und der Wind bläst mir den süßen Duft der blauen Lupinen in die Nase. Ungezählte Fotostopps lassen die Zeit vergehen, ich treffe noch zwei Belgierinnen am Mirador de Rio Cisnes, die mit einem Camper unterwegs sind und eine Französin meines Alters, die im Alleingang mit dem Rad die Carretera bezwingt. Respekt! Ich lasse Euch jetzt einfach mit den Bildern alleine, was soll ich dem noch hinzufügen?

In Coyhaique angekommen checke ich in meinem kleinen Hotel ein, nun ja, es ist eine Großbaustelle im Wellblechbezirk. Trotzdem ist alles sehr sympathisch und warmherzig hier. Das Apartment ist sehr hübsch, die Waschmaschine ist nagelneu. Gleich wird sie zeigen müssen, was sie kann. Sandra, die Gastgeberin, versorgt mich mit Waschpulver und der Chilene unten im Haus lädt mich zu einem kolumbianischen Kaffee ein, der Tote weckt. Der kleine Schnauzer hat sich auch beruhigt, er hat an meinen Motorradstiefeln schnuppern dürfen, jetzt sind wir Freude! Dann geht es noch kurz zum kleinen Supermarkt an der Ecke, heute koche ich selbst.

Alle Fenster auf, der Ausblick nach hinten heraus ist prächtig, Berge im Sonnenuntergang, die Waschmaschine arbeitet und ich stelle die noch feuchten Wanderschuhe zum Trocknen raus. Wenig später ist die Hütte von Kochdüften erfüllt, ich habe mich entschieden für „Pâtes aux tomates concassées et fromage hollandais“, also Spaghetti mit Tomatensauce. Fläschchen Tinto dazu, was für ein Fest. Schließlich muss die saubere Wäsche gefeiert werden. Alles ist wieder sauber! Und mit diesem Glücksgedanken endet der Abend auch.

27. November 2022 - Reboot

Heute ist Sonntag, die Sonnenwärme schiebt sich schon früh durch mein Schlafzimmerfenster und weckt mich. Ausschlafen ist erlaubt, ohne Lärm auf der Hotel-Baustelle, ohne Verabredungen mit irgendwelchen Straßen oder Pisten, kein Check-out. Und während meine Körperfunktionen sukzessive ihre Arbeit aufnehmen betrachte ich das Regal zu meinen Füßen. Sämtliche Klamotten, egal ob technisch, kleidend oder gedruckt, sind ausgepackt und vereinzelt. Entweder weil sie nass waren, verdreckt oder fehlsortiert. Das zu ändern ist das heutige Tagesziel. Doch als erstes brauche ich einen Kaffee.

Meine Wäsche trocknet draußen noch bis zur Packreife, derweil werden alle Akkus geladen - was für einen technischen Schnickschnack ich mithabe ist unglaublich. Auf der nächsten Tour wird das weniger! Nach und nach findet jedes Teil seinen vorgesehen Platz: Stecker, Kabel, Adapter, Connector, Akkumulator, Halter, Charger, Netzteile, Speicherkarten, Speichersticks, Headset, Headlamp, Lupe, Kameramikrofon, Actioncam, Helmcam, Fernbedienung, Festplatte, Sonnenbrille, Taschenmesser, Kugelschreiber... Die Liste ist endlos. Das ist so wie „auf Werkszustand zurücksetzen“ oder „Format C:“. Dauert gefühlt auch genauso lange!

Dann kommt der feierliche Moment des Wäschefaltens. Sorgfältig genau auf das Maß meiner Wäschetaschen. Es duftet nach Reinheit á la Clementine und alles ist blitzsauber, kein Ei-Blut-Kakao ist mehr zu sehen, wie die Wäsche auf der längsten Wäscheleine der Welt. Das, meine Damen, sind doch Fakten. Jetzt müssten die Kapriolen kommen, dann umschalten zur Tagesschau. Gong!

Es fügt sich Eins zum Anderen, am Ende herrscht wieder eine peinliche Ordnung in meinen Taschen. Mutti wäre stolz auf mich, wäre da nicht mein ungepflegtes Äußeres. Nein, die überfällige Rasur wird ausgesetzt, habe keine Lust. Außerdem müsste ich den Kultusbeutel wieder öffnen und schon hätte ich neues Chaos.

Nach dieser kräfteraubenden Aktion ist es Zeit für ein Häppchen, dann für ein Nickerchen. Den Nachmittag fülle ich mit Behebung von Schreibschulden und Etappenplanung für morgen und übermorgen, ein wenig elektronischer Korrespondenz mit zuhause und Kochen. Es gibt das gleiche zu essen wie gestern, vielmehr passiert heute nicht.

Formatierung erfolgreich abgeschlossen, Reboot morgen früh!

28. November 2022 - Zurück ins Herz der patagonischen Anden

Aufstehen, packen, Kaffee, weg hier. Ein herzliches Adios von Señora Sandra und ihrem Kläffer. Als erstes geht’s zur Polizei. Genauer zur Policía De Investigaciones De Chile, kurz PDI. Dort muss ich checken, ob ich nächste Woche problemlos am Paso Rodolfo Roballos nach Argentinien rüberkomme. Das Procedere zusammen mit den freundlichen Officers ist lustig. Ich bekomme ganz modern einen QR Code rübergereicht, der aber nur auf die Homepage der PDI verweist. Dort muss ich einen Antrag für eine Aufenthaltsgenehmigung stellen. „Nein, ich möchte ausreisen, Señor.“ „Ist egal, alles dasselbe!“ Ich füge mich der Autorität, weiter mit dem Fragebogen. Adresse in Chile. „No tengo. Estoy Turista.“ Antwort: „Ist egal, schreib ein Hotel rein!“ Ich füge mich der Autorität. Dann meine Telefonnummer. +49172... usw. Das Feld erlaubt (wie immer online) nur das chilenische Limit von zwölf Ziffern. Die Autorität nimmt mir mein Handy aus der Hand: „Ich schreibe meine rein, die passt.“ Ich danke dem Officer. Dann macht er noch ein Halbkörperfoto von mir in dreckiger Mopedkluft und derangierter Helmfrisur und fügt es dem Antrag hinzu. Enter. „Estimado Thomas, Sie erhalten nach Prüfung eine E-Mail usw.“ Toll! Mittlerweile stehen drei dekorierte Offizielle hier herum, weil die Erledigung meines Anliegens offensichtlich etwas Abwechslung in den Alltag bringt. Ich werde mit Händeschütteln eines jeden verabschiedet, „Adios y muchas gracias señores por su ayuda!“

Coyhaique ist schnell hinter mir, die einzige Straße nach Süden ist die Carretera Austral, die muss ich nehmen. Ein gigantischer Basaltberg präsentiert sich wie ein Türsteher am Ortsausgang. Der Verkehr verdünnt sich zunehmend. Als die Ruta 7 sich dann gabelt folge ich ihr nach rechts, der Verkehr reißt vollständig hinter mir ab. Ich bin alleine. Das wunderbare Gefühl, weit weg und unerreichbar zu sein, stellt sich nach wenigen Kilometern wieder ein und ich öffne meine Sinne für die Einzigartigkeit der patagonischen Anden. Die Topografie ist hier schroffer als auf den vergangenen Etappen, die kargen Berge sind mineralhaltiger und dadurch oft farbig. Bis ins Grün und Orange variieren die Tönungen der Sedimentschichten in den geologischen Fenstern. Im Kontrast dazu blaue Flüsse und prächtige Wiesen mit überwiegend Löwenzahn, wie ich es noch nie gesehen habe. Durch enge Täler windet sich die Carretera, dann überquere ich die Passhöhe zum Tal von Cerro Castillo. Ein Mirador bietet eine traumhafte Aussicht auf die gesamte Ebene hinter den Serpentinen, bis hinab zum Ort Villa Cerro Castillo. Lange Zeit fesselt mich dieser Ausblick, andere Menschen kommen und machen Fotos und fahren wieder, ich versuche nur diese Dimensionen zu begreifen, sie sind einfach unfassbar. Ich gebe mich geschlagen, die passenden Worte zu finden. Würde man mich jetzt nach meinen Eindrücken fragen, wäre meine Antwort vermutlich die gleiche wie die des unsterblich in Falbalá verliebten Obelix: „Grmpft!“

Bienchen trägt mich sicher die weiten Kurven des Passes hinab, ich fahre ausnahmsweise mit offenem Helm, meine Blicke sind wie an die Berge der Cordillera angeheftet, ich spüre die warme Sonne im Gesicht. Nicht aufwachen jetzt, es ist zu schön!

Der winzige Ort biete keine große Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten, ich nehme, was mir sympathisch erscheint. Die freundliche, alte Frau nimmt ihre Krücke zur Hand und geht gebückt voraus. Sie öffnet die verzogenen Holztüren mit einem kräftigen Ruck. ¡Ven, señor! Dann zeigt sie mir die kleine Schlafkammer und das Gemeinschaftsbad auf dem Flur. Man könnte jetzt respektlos die Nase rümpfen über ein Loch von Unterkunft, das aus OSB Platten, Wellblech und Resopal zusammengezimmert ist oder sich freuen über das, was hier möglich gemacht wird. Ein Einzelzimmer mit einem Bett, kleiner Teppich, Garderobe und Fenster zum Innenhof. Das Wasser in der Dusche ist schön heiß, eine kleine Dose löslicher Kaffee steht in der Küche zur Verfügung. Emilio macht das Internet zugänglich, Bienchen darf im sicheren Schuppen parken. Die alte Frau gibt mir ein blaues Badetuch und nennt mir selbstbewusst den Preis: „Quince mil, señor.“ Das sind siebzehn Euro. Gerne, vielen Dank! Ich bin gerührt.

Nach kleiner Erkundung des Ortes bringe ich leider in Erfahrung, dass der Wanderweg zur Laguna Cerro Castillo wegen der Wetterbedingungen gesperrt ist. Es liegt noch zu viel nasser Schnee dort oben, der rutschen kann. Schade. Abgesehen davon ist es eine ziemlich harte Tour dort hinauf. Noch ein Kaffee am Plaza und dann ein gemütliches Dinner im Restaurant nebenan.

Der Tag endet mit dem kleinen Reisebericht von heute, ich bin müde und freue mich auf die windige Nacht in meiner wunderschönen Bretterhütte. Gute Nacht allerseits.

29. November 2022 - Von Cerro Castillo nach Puerto Rio Tranquilo

Bestes Reisewetter präsentiert sich, als ich früh in meinem kleinen Kabuff wach werde. Der Tag beginnt damit, das Motorrad ordentlich zu packen. Auf ein selbst gemachtes Frühstück in der dürftigen Küche verzichte ich und fahre reisefertig in das kleine Café von gestern. Eine Gruppe von Motorradfahrern trifft ebenfalls gerade ein und hat dieselbe Idee wie ich. Es sind fast alles Deutsche, die eine geführte Tour auf Leihmotorrädern machen. Schnell ist der kleine Laden voll und Jefe hat alle Hände voll zu tun, gerührte Eier, geschnittenes Brot, sortierten Käse und gelösten Instantkaffee zu servieren. Und tatsächlich schmeckt der heiße Kaffee, oder besser, er tut mir einfach gut, denn es ist noch recht frisch draußen und ein kräftiger Wind bläst immer noch von den Bergen herunter.

Ein Kommen und Gehen in dem kleinen Café, klumpige Motorradstiefel schlurfen über das raue Terrakotta. Unvermeidbar bekomme ich die engagierten Gespräche am Nebentisch mit. Benzingespräche. Es wird mit Modellnamen, Serienbezeichnungen, technischen Daten, Preisen und wichtigen Fachinformationen nur so um sich geworfen. Ich kann da nicht mithalten und komischerweise interessiert mich das auch alles gar nicht. Manchmal denke ich in solchen Momenten, ich bin schlecht informiert und mir geht viel verloren am Motorradfahren, weil ich das alles nicht weiß. Oder noch schlimmer, diese gut informierten Insider haben durch ihr Wissen Vorteile in Sicherheit, Komfort und Fahrspaß. Ich werde diesen Konflikt auch heute nicht lösen und genieße lieber den Rest meines Kaffees und die leckeren Rühreier.

So, fertig, bezahlen, ich will los. Die Sonne hat bereits meine schwarze Sitzbank kräftig vorgeheizt, Halstuch um, Jacke bis obenhin zu, Helm runter und heute die warmen Handschuhe anziehen. Einmal noch um den Plaza de Armas, dann habe ich wieder die Carretera vor mir. Schotter. Asphalt gibt’s seit gestern nicht mehr. Auf geht’s!

Die Piste lässt sich entspannt an, ich komme gut voran. Ich sauge die Bergpanoramen nur so in mich hinein. Flüsse begleiten mich, zunächst der blaue Río Ibáñez, später der grüne Río Murta. Um all die unglaublichen Landschaften abzulichten, müsste ich zu Fuß gehen. Oft bleibe ich deshalb zum Fotografieren auch stehen, denn diese Panoramen kann ich nicht undokumentiert lassen. Die geführte Truppe überholt mich derweil, dann fahren wir wieder stückweise zusammen. Einfach so. Irgendwo am Lago General Carrera, zwanzig Kilometer vor dem Ziel kommen wir ins Gespräch. Nette Jungs, zwei Sozia und ein Buddy von den Virgin Islands, bunter geht’s nicht. Jetzt auf die Zielgerade, die Sonne scheint intensiv, der Wind kühlt. Wir sind da. Der erste Anlaufpunkt für alle ist wie immer die Tankstelle, wer weiß, ob morgen noch Sprit da ist.

Ich checke in einem kleinen Hotel an der Seepromenade ein, abladen und den Staub der Piste wegduschen. Gleich gegenüber sind die ganzen Baracken der Touranbieter für die Marmorgrotten, die „Capillas de Mármol“, denen ich einen informellen Besuch abstatte. Irgendwie bietet jeder das gleiche an, was ja kein Wunder ist, und doch ist alles irgendwie anders und am Ende kommt aber immer der gleiche Preis raus. Das ist in etwa so wie bei den Handyverträgen, man muss schon sehr genau wissen, was man möchte. Den endgültigen Kauf verschiebe ich auf morgen früh, denn ich habe Hunger.

In einem kleinen Fischrestaurant treffe ich Tina wieder, die Französin, die ich aus Hornopirén kenne und die zufällig auch hier ist. Im Grunde genommen ist das gar kein großer Zufall, denn es gibt nur diese eine Ruta 7, auf der alle unterwegs sind. Es wird eine wunderbare Pastel de Jaiba serviert, das ist eine chilenische Krebstorte, die mich sehr begeistert. Dazu einen frischen Blanco de casa, ich bin hin und weg! Wir plaudern über Lieblingsorte in Frankreich, chilenische Geschichten von unterwegs und so vergeht der Abend wie im Flug und mein Bett ruft irgendwann leise aus der Ferne. Ich wünsche allen eine geruhsame Nacht!

30. November 2022 - Feinster Marmor, ein Totendorf und Stöckchen holen

Ich bin verabredet mit der Touranbietern für die Marmorgrotten. Um 9:00 h an den Baracken. Ein paar Bekannte von unterwegs sind auch dort, die Anreißer überbieten sich an Freundlichkeit und Kumpelhaftigkeit, dass es schon unangenehm wird. Grund ist, dass sie die Mindestteilnehmerzahl für die Tour nicht zusammenbekommen, um wirtschaftlich zu sein. Tja, nun haben sie uns aber gestern vollmundig für heute bestellt und jetzt möchten wir gerne zur Grotte. Es entsteht viel Diskussion mit den konkurrierenden Unternehmen und irgendwie schustern sie eine gemischte Tour für acht Personen zusammen und sind vermutlich froh, dass sie nicht draufzahlen. Man verzichtet sogar auf die Gebühr für Kreditkartenzahlung, was sehr auffällig ist. Kurzum, in zwanzig Minuten Treffpunkt am Pier.

Schwimmwesten an, kurze Begrüßung und Einweisung, dass wir sitzenbleiben müssen im Boot, dann schippern wir los. Ich habe mich gleich gefragt, wie man bei der Fahrt aufstehen könnte. Im Affenzahn fliegt unser Außenborder über die erstaunlich hohen Wellen des Lago General Carrera, dass es nur so spritzt und knallt. Der morgendliche Wind ist eiskalt, die Luft ist glasklar und die Sicht ist unglaublich. Die Berge in der Ferne erscheinen zum Greifen nah und die Farbe des Wassers ist unnatürlich blau. Es dauert zwanzig Minuten bis wir in eine Bucht einfahren, dann glättet sich schlagartig das Wasser im Windschatten der Landzunge. Die ersten kleinen Marmorhöhlen tauchen am Ufer auf und wir schaukeln ihnen langsam näher. Bis zu 200 Metern lang sind die Höhlengänge, die hier am Ufer beginnen. Der Marmor wirkt kalt, hart und stabil genug, den ganzen Berg zu tragen. Die morgendliche Sonne leuchtet flach in die Höhlen, das türkise Wasser wirkt surreal. Gelb ist die einzige Farbe im weißgrauen Gestein der Grotten und wird vermutlich durch Limonit hervorgerufen, aber da sollte man vielleicht besser eine Geologin oder einen Geologen fragen. Ich lasse es mir einfach nur gefallen und bin völlig fasziniert von den klarlinigen, kontrastreichen Feinstrukturen und Oberflächen. Dann fahren wir hinüber zu den Marmor- und Steinsäulen, die mitten in der Bucht im Wasser stehen. Wie gigantische steinerne Pilze und Kuppeln ragen sie aus dem blauen Wasser heraus. Die schmalen Säulen, auf denen sie stehen, sind an ihrer Basis durchlöchert von der Erosion durch das Seewasser. Wir fahren ganz nah heran und lassen uns beeindrucken von den Lichtspielen und Farben. Was für ein eindrucksvoller Ort.

Der Rückweg ist noch grober als die Hinfahrt, weil wir nun gegen die Wellen fahren. Ich muss mich wie ein Jockey am Vordersitz festhalten und halb stehen in meinem Sitz, weil es sonst dermaßen ins Kreuz schlägt, dass es kein Spaß mehr ist. Zum Glück dauert es nicht lang und wir erreichen glatteres Gewässer. Dann sind wir zurück am Pier. Es ist bereits Mittag und die Sonne scheint vom blauen Himmel, aber durchgefroren bin ich immer noch, trotz warmer Skiunterwäsche und Windstopper. Zurück ins Hotel, aber wärmer wird’s mir auch dort auch nicht.

Da ich nach dem frühen Frühstück nun deutlichen Mittagshunger verspüre, finde ich es eine kluge Idee, die innere Erwärmung durch Zufuhr von heißer Flüssigkeit herbeizuführen. Einfacher ausgedrückt, ich habe tierisch Lust auf eine heiße Suppe! Gesagt getan, das gute Restaurant von gestern hat bereits geöffnet und qualifiziert sich durch den Aushang der Tageskarte. Darauf steht: Sopa de Mariscos. Ich nehme Platz in der ersten Etage mit Aussicht und bestelle ohne weitere Lektüre der Karte: „¿Hola, qué tal? Me gusta la sopa del día.“ Freundlich rauscht der Kellner wieder ab und im Handumdrehen steht eine große Schale dampfender Suppe vor mir. Und was für eine. Ein ganzer Berg von schwarzen Miesmuscheln, Venusmuscheln, Krabben, Krebsen und Gemüse in kochend heißem Sud verströmt einen intensiv würzigen Duft, dass es eine Freude schon vor dem ersten Löffel ist. Abwechselnd mit den Fingern in den Schalentieren und mit dem Löffel im Sud genieße ich mein Mittagessen mit offensichtlicher Freude. Im Vorbeigehen wirft mir der nette Kellner auch ein konstatives „¡Sabe bien!“ zu und nicht das interrogative „¿Sabe bien?“, in dem immer die Unsicherheit mitschwingt, ob es dem Gast denn tatsächlich schmeckt oder nicht. Ich genieße jeden Bissen und speise ohne Eile, aber dennoch in angemessener Zügigkeit, dass das Essen noch heiß genug verbleibt, mich zu wärmen. Die letzten Löffel leeren die Schale restlos und der Teller mit den „Crustae“ quillt über. Mir ist warm geworden! „Ah! Jetzt geht‘s mir besser.“ (Estragon, Warten auf Godot, 1. Akt).

Statt eines Verdauungsschläfchens kümmere ich mich um ein paar organisatorische Dinge für die nächsten Etappen, anschließend mache ich mich auf zu einem Erkundungsspaziergang in der Gegend. Ich finde einen kleinen Wasserfall, viele schöne Aussichtspunkte auf den Lago General Carrera mit Massen von gelben Lupinen am Seeufer. Dann passiere ich einen abgelegenen Friedhof, der etwas Lebensfrohes hat. Sicher, ein sprachliches Paradoxon, aber was die Gestaltung dieser letzten menschlichen Ruhestätten angeht, wirkt er sehr freundlich und einladend. Die Gräber sind in kleinen Holzhäuschen untergebracht, richtig mit Wänden und Dächern. Es wirkt alles wie ein kleines Dorf. Ein Dorf, in dem vielleicht die Seelen der Verstorbenen fröhlich weiterleben. Am Dorfrand sind die frischen Gräber der neu hinzugezogenen „Bewohner" zu finden, auf denen quietschbunte Blumengestecke liegen, wie die Richtkränze eines Neubaugebiets. Ein bemerkenswerter und gutmütiger Ort!

Ein kleiner Hund kommt herbeigelaufen, begrüßt mich und bleibt dann an meiner Seite. Der Rückweg führt mich - oder besser uns - am Strand entlang. Das Licht wird etwas rötlicher, die Sonne steht schon tief. Immer noch ist die Sicht glasklar und ich atme dieses unglaubliche Panorama tief in mich ein. Ich möchte etwas mitnehmen davon. Der kleine Hund, eine Art Border Collie, läuft ein Stück fort, holt einen Stock, bringt ihn mir, legt ihn ab und legt sich rassentypisch ganz zackig daneben. Ich bin beeindruckt, das muss er doch irgendwo gelernt haben. Ich werfe den Stock natürlich weit fort und es beginnt ein endloses Spiel. Lautlos, ohne Bellen und ohne spielerisches Gezerre um den Stock. Holen, ablegen, daneben legen. Was für ein Spaß. Als ich weitergehe werden andere Spaziergänger zum Spiel überredet, so kann ich mich ohne den netten Kerl ignorieren zu müssen dem Abendlicht widmen. Ein Bierchen gönne ich mir noch bei Restsonne auf der Terrasse der Cervezeria. Im spiegelnden Fenster kann ich mich erkennen und sehen, dass ich das Grinsen heute nicht mehr aus dem Gesicht bekommen werde. Ein toller Tag. Lassen wir es mit dieser Schlusseinstellung ausklingen und bis morgen.

1. Dezember 2022 - Blaue Seen und halbe Pirouette

Es geht weiter gen Süden. Treffpunkt noch einmal an der Tankstelle, diesmal an der Luftdrucksäule. Vollgetankt haben wir ja schon bei der Ankunft. Ein paar Deutsche sind auch dabei, allgemeines Geplauder und gute Stimmung. In lockerem Verbund fahren die meisten los, das hat den Vorteil, dass Begleitung da ist, falls sich dann doch mal einer auf der Piste hinlegt. Es geht flott voran, schönste letzte Aussichten auf den riesigen Lago General Carrera, dann lange Geraden mit Bergpanorama am Río Delta. Die Piste ist in gutem Zustand, was bedeutet, sie ist hart mit Spuren und wenig grobem Schotter. Das Feld entzerrt sich, ich verliere den Vordermann, andere überholen, dann staucht sich alles wieder und ich überhole Vorausfahrende und so fort. Hinter einer Brücke mit herrlichem Ausblick auf den Lago Bertrand halten viele für eine kleine Verschnaufpause und ein paar Erinnerungsfotos an. Dann setzt sich die Panoramafahrt fort, die Abstände werden größer, was den Staub reduziert und eine bessere Sicht bietet, zumal man sich ohnehin wenig mit Seitenblicken verwöhnen kann, zu tückenreich ist die Piste dafür.

Irgendwann verschwindet mein Hintermann und taucht auch nicht mehr auf. Ich warte etwas, dann drehe ich um, um nach ihm zu schauen. Er und ein weiterer Biker kommen mir zu zweit mit Daumen hoch entgegen, alles gut, nichts passiert. Gut! Ich drehe wieder in die richtige Fahrtrichtung und folge alleine. Eine lange, harmlos erscheinende Gerade hat es dann in sich. Zentimeterhohe frische und grobe Schüttung und butterweich, ekeliger geht es nicht. Die Hälfte schaffe ich mit einigen Balletteinlagen, dann sind 420 KG bewegte Masse zu viel und Bienchen liegt mit mir im Dreck. Das war dann die Schlussfigur: Halbe Pirouette mit Ablage. Mist! Jetzt ist es passiert! Aber nix tut weh, schnell waren wir ja auch nicht, geschrappt hat es ganz ordentlich, aber alles scheint ok zu sein. Motor aus, aufstehen und abstauben.

Bienchen aufzuheben versuche ich erst gar nicht, ich habe altersgemäßen Lumbalwirbelverschleiß. Abladen habe ich keine Lust, also heißt es warten. Es dauert auch nur ein paar Minuten, dann folgen drei andere bekannte Biker von heute Morgen, die auch ganz schön heraneiern, allerdings haben sie leichtere Gefährte, was keine Rechtfertigung sein soll, aber damit geht das besser. Vielleicht fahren sie ja auch einfach besser als ich, es ist nicht wichtig.

Ruckzuck steht Bienchen wieder aufrecht, zu viert ein Kinderspiel. Ein paar Kratzer am Zylinderprotektor, dafür ist er da. Der rechte untere Sturzbügel ist verbogen und geschrammt, was ich aber erst später merken sollte. Also Helm auf, Moped an und weiter. Nach einem Abwurf soll man immer sofort wieder aufs Pferd! Ich merke noch deutlich das Adrenalin, wir bleiben zu viert, es sind nur noch gut zwanzig Kilometer. Am nächsten Abzweig treffen wir uns alle wieder, den Kollegen ist es auf dem besagten Stück auch nicht anders ergangen, nur eben ohne Ablage.

Der atemberaubende Ausblick auf den Barranco Río Cochrane lenkt ab, wir passieren den Abzweig zum Paso Rodolfo Roballos, der am Montag auf mich wartet. Wenig später Einfahrt in Cochrane und - ihr ahnt es schon - zuerst zur Tankstelle. Ein Hospedaje ist schnell gefunden, es ist eher die Qual der Wahl. Ich suche mir eine Ferienwohnung, weil ich bis Montag hier bleibe. Grund ist der Passierschein für die Grenze am Paso Roballos, der erst für den 5.12. ausgestellt ist. Zudem brauche ich auch eine Pause im Kopf. Duschen, Klamotten sauber machen, einkaufen. Abends bin ich mit den anderen Motorradfahrern und Tina in der Brauerei verabredet, wie gesagt, man trifft sich immer wieder. All zu spät wird es nicht, ich bin recht müde und freue mich auf meinen Kamin! Ein aufregender Tag war das heute.

2.-4. Dezember 2022 - Kein Programm, Kopfurlaub

Drei Tage Pause. Pause im Kopf. Formaler Grund ist bekanntlich meine Passiererlaubnis für die Grenze Rodolfo Roballos erst am Montag, aber im Herzen sehne ich mich nach Ausschlafen und Nichtstun. Nach Kochen, Füße hochlegen, Schreiben, Kaffeetrinken in der Sonne, saubere und normale Kleidung tragen und Treibenlassen. So sind die drei Tage in Cochrane auch völlig planlos und von Spontaneität geprägt. Ich mache einen kleinen Spaziergang zum Mirador Cochrane, mein rechter Fuß hat wohl doch ein bisschen was abbekommen bei dem Sturz gestern. Präventive Schonung ist jetzt das Beste, auch wenn es nicht wirklich schlimm ist. Tja, und die Tatsache des Sturzes selbst ist irgendwie auswirkungsreicher als der glimpfliche Ausgang es vermuten lässt. Es fällt mir schwer, das „hätte“ und „könnte“ und „wäre“ abzuschalten. Die fiktive Katastrophe aus dem Kopf zu eliminieren. Der Fleck am stolzen Jackett der Unfallfreiheit seit zehn Jahren ärgert mich, obwohl ich keinen Grund dazu habe. Komischerweise hilft die Dankbarkeit über den glimpflichen Ausgang nur wenig beim inneren Dialog. Einerseits bin ich von dem völlig absurden Gedanken geheilt, dass ein Sturz der Super-GAU sei, weil ich die Karre kaum selbst aufheben kann. Normaler Lumbalwirbelverschleiß (s.o.), im Volksmund „Rücken“. Die Lösung ist trivial: Warten! Kommt schon einer. Ich bin doch nicht in Sibirien oder im australischen Outback, sondern auf der größten und einzigen Nord-Süd-Verbindung Südchiles. Andererseits wächst der Respekt vor dem, was ich noch vorhabe. Montag möchte ich durch das Valle Chacabuco, rauf zum Paso Roballos und dann nach Argentinien. Das Ziel ist Bajo Caracoles an der Ruta 40. Kopf aus!

Auf dem Plaza de Armas ist Weihnachten, auch wenn Cochrane vergleichsweise eher ausgestorben wirkt. Ein großer geschmückter Tannenbaum steht einsam im zentralen Springbrunnen, davor eine Bank mit „Feliz Navidad“ und Weihnachtsmann für die Selfiefraktion. Eher formal erkundige ich mich im Tourist Office nach Wandermöglichkeiten, ich weiß, dass die meisten Touren mehrere Tage dauern. Der Rest ist Spazierengehen. Ich kaufe mir einen bunten Aufkleber für den Mopedkoffer und im einzigen Outdoorshop eine neue Brille, da ich meine Super-Klarsichtbrille beim Sturz verbummelt haben. Ärgerlich, ein essentielles Ausrüstungsstück. Ein Glück, dass ich überhaupt eine hier in der Wildnis gefunden habe. Zum Abendbrot gibt es Pasta mit Gemüse und Parmesan. Lecker! Die ganzen minderwertigen, aber fast unumgänglichen Lebensmittel des bekannten Schweizer Großkonzerns, die den Namen „Lebensmittel“ nicht verdienen, erwähne ich der guten Laune wegen mal nicht. Die Monopolstellung in den chilenischen Supermärkten ist beängstigend. Abends treffe ich mich ein letztes Mal mit Tina der Französin auf einen Plausch, sie nimmt morgen die Fähre nach Puerto Natales. Gute Reise!

Am Samstag repariere ich meinen rechten Koffer. Der ist von dem Sturz etwas verbogen und schließt nicht mehr so richtig. Zwei Blocks weiter ist die größte und einzige Kfz-Fachwerkstatt von Cochrane, die haben bestimmt einen Wagenheber, damit wird es gehen. Señor mecánico ist äußerst nett und selbstverständlich darf ich den Koffer dort reparieren. Schnell finde ich mich in der Werkstatt zurecht, den Wagenheber hat er mir gezeigt, der Rest findet sich. Der Koffer ist mit dem professionellem Werkzeug schnell wieder gerichtet, noch ein lockerer Plausch unter Männern und wir wünschen uns ein schönes Wochenende. Dankeschön! Alles andere, was ich in dieser Fachwerkstatt gesehen habe, vergesse ich am besten für immer. Ich bin Chemiker und habe viele Jahre ein eigenes akkreditiertes Umweltlabor geleitet. Unfassbar! Ich versuche mit einem café cortado am Plaza auf andere Gedanken zu kommen.

Am Abend bereite ich mir einen frischen grünen Salat mit frischem Schnittlauch, frischen Tomaten und Instantdressing der bereits erwähnten Schweizer Firma. Der Kamin prasselt gemütlich und so langsam bekomme ich meine Fotos fertig bearbeitet und meine Geschichten geschrieben.

Der Sonntag hat ein ähnliches Protokoll. Zu Hause, Tür auf, die Sonne genießen, schreiben. Die Aktion des Tages ist aber die Reparatur aller meiner Reißverschlüsse an den Mopedklamotten. Sie schließen nicht mehr vor lauter Staub und drohen aufgrund der Stumpfheit abzureißen. An Motoröl komme ich nur umständlich dran, Speiseöl oder Streichfette habe ich nicht (deshalb auch Instantdressing im Salat s.o.), da hilft nur noch der Medizin- und Kosmetikbeutel. Was für einen wunden Hintern oder spröde Lippen gut ist, wird doch wohl auch für Reißverschlüsse heilsam sein: Eine Kamillensalbe und ein Lippenschutzstift. Erst alles mit dem abgeschraubten Hausbesen abbürsten, dann Kamillensalbe oder Lippenschutz sparsam auftragen. Wichtig sind die Anfangsteile zum Einführen der Schieber. Dann die kräftigen Ketten fetten. Rauf runter, rauf runter, mehrmals den Schieber und den Reverse-Schieber über die gesamte Bandlänge bewegen und, oh Wunder, wie neu! Den abgebrochenen Schiebergriff am Frontverschluss der Jacke ersetze ich durch zwei kleine, geschickt verflochtene Kabelbinder, so dass er auch wieder mit Handschuhen bedienbar ist. Noch einmal rauf runter, rauf runter. Fertig! Es gibt wieder Pasta, der Kamin flackert und ich begleiche alle meine Schreibschulden.

Morgen ist ein wichtiger Tag für mich, ich möchte den Meilenstein Paso Rodolfo Roballos und Argentinien erreichen. Ich werde berichten.

5. Dezember 2022 - Paso Rodolfo Roballos - Grenzerfahrung

Der Druck steigt. Nicht, dass es schon genug wäre, dass ich mir Gedanken mache, ob ich mir zu viel zumute, ob es klug ist, derart einsame und schwierige Strecken im Alleingang zu fahren. Einen glimpflichen Sturz - man könnte auch Umfaller sagen - habe ich schon hinter mir, das verunsichert mich zusätzlich. Nein, es kommen auch noch schlimme Nachrichten dazu. Gestern Abend habe ich mit drei argentinischen Motorradfahrern in meinem Hotel gesprochen, die tags zuvor ihren vierten Mitfahrer verloren haben. Er ist wenige Kilometer von hier auf der Piste bei einem Unfall ums Leben gekommen durch eine Kollision mit einem anderen Auto, wenn ich sie richtig verstanden habe. In dem Moment wurde mir klar, warum hier nachts um zwei Uhr ein Flugzeug gelandet ist. Abgesehen davon, dass mir im Spanischen immer Worte fehlen, hätte ich auch in meiner Muttersprache keine Worte gefunden.

Und nun ist es etwa elf Uhr, ich breche jetzt erst auf, weil der Regen dann durch ist und die Piste etwas abgetrocknet. Moped ist bereits gepackt und wider Erwarten scheint sogar die Sonne etwas. Ein Wassertanklaster blockiert die Straße in der ortsnahen Baustelle, die Piste ist hier sehr schmierig. Ich muss langsam fahren. Die ersten fünfzehn Kilometer führen mich den Weg zurück, den ich vor vier Tagen gekommen bin. Entlang am türkisen Barranco Río Cochrane. Seinerzeit hatte ich nicht die Muße, schöne Fotos zu machen, es war nur wenige Minuten nach meinem Sturz in den Kies. Und genau dort, wo der Río Chacabuco in den Río Cochrane mündet, biege ich rechts ab auf die kleine X-83 Richtung Paso Rodolfo Roballos. Es geht sofort schmal und steil hinauf, ein paar enge Kurven, die Piste ist gut und trocken. Schlagartig wird es grün um mich herum und zwei Guanakos stehen wie ein Begrüßungskomitee am Straßenrand. Ich habe das Gefühl, gerade ein Landschaftsmuseum betreten zu haben. Die Schönheit der Farben und die imposante Topografie übertreffen alle meine Erwartungen und die Piste ist zudem äußerst komfortabel zu befahren. Da bleibt Freiraum für Seitenblicke. Dennoch halte ich oft an und mache Fotos oder atme einfach nur ganz tief das Leben ein.

Bergansichten wechseln sich mit blauen Seen ab und Wiesen mit schroffem Gestein. Guanakos kreuzen meinen Weg und Nandus grasen in der scheinbar unendlichen Hochlandsteppe. Nach einer guten Stunde treffe ich Jorge, einen Polizisten auf Motorradurlaub. Wir plaudern und informieren uns über die Strecke. Leider kündigt er mir eine nicht so schöne Etappe auf argentinischer Seite an. Es geht weiter und tatsächlich wird die Strecke schon jetzt etwas härter und holperiger. Etwas eher als erwartet taucht dann hinter einer Kehre der chilenische Grenzposten auf.

Alles ist sehr ordentlich und man sieht sofort, dass es sich um eine Grenzstation handelt. Nationalflagge, geschlossener Schlagbaum, auf jeder Tür und jedem Tor die Insignien der Grenzpolizei. Autoritäre Schilder im staatsgewaltigen Imperativ: „Pare“, „Prohibido pasar!“ Ich stelle mein Motorrad ab, suche meinen Papierkram zusammen und betrete die Amtsstube. Freundlich begrüßen mich die Beamten, die gerade zwei Amerikaner in Gegenrichtung abfertigen, dann widmet man sich meinem Ausreisewunsch. Der formale Papierkram ist wichtiger als die physische Überprüfung meines Motorrades, nicht einmal mein Nummernschild hat der Beamte kontrolliert. Alles wird irgendwie gestempelt, ich unterschreibe einen bunten Zettel, dann begleitet mich der Grenzpolizist nach draußen, schließt rasselnd die Kette des Schlagbaums auf und lässt mich passieren. Ein freundliches Winken, ein Lächeln. Gracias Señor y adiós!

Nach elf Kilometern Niemandsland erreiche ich den argentinischen Grenzposten. Dieser Streifen heißt vermutlich Niemandsland, weil sich hier niemand auch nur um irgendetwas kümmert. Dass ich die Piste überhaupt gefunden habe, ist schon eine Leistung für sich. Die ganze Zeremonie noch einmal, nur etwas unmoderner. Computer gibt es hier keine, alles wird penibel handschriftlich ausgefüllt. Nicht zutreffendes wird mit einem Lineal ungültig gestrichen, Blaupapier sorgt für die simultane Kopie der Dokumente. Eine Version ist später für mich. Fünf rote Stempel geben den Passiergenehmigungen noch das offizielle und autoritäre Erscheinungsbild, dann wird mir auch hier der Schlagbaum geöffnet, allerdings ist er in der argentinischen Version nur mit einem Kabelbinder gesichert. Das bekannte Winken, eher militärisch, gelächelt wird nicht. Bienvenidos Republica Argentina!

Jorge hatte es ja angekündigt, es wird grob! Knallharte Piste, handballgroße Steine stecken wie halb einbetoniert im Boden, die ersten Meter gehen in engen Serpentinen bergauf, dann öffnet sich wunderschönes weites Land. Parque National Patagonia! Sumpfige Wiesen, blaue Seen, Schilf, Vögel, rote Bergmassive, grüne Steine und heftiger Wind. Sogar ein Gürteltier kreuzt meinen Weg! Für Fotos oder Seitenblicke muss ich tatsächlich anhalten, ich kann die Augen unmöglich von der Piste nehmen. Kies wechselt sich schlagartig mit tiefen Staublöchern ab, Steine so dick, dass ich sie umfahren muss. Die Betonung von „umfahren“ liegt auf der zweiten Silbe, alles andere hätte einen Sturz zur Folge. Die Wellblechpiste rüttelt Bienchen und mich heftig durch, ich höre Fahrgeräusche, die ich bislang nicht kannte und die sich nicht gut anhören. Zentimeterhoch aufgefahrene weiche Kieslinien zwingen mich zu Schritttempo, trotzdem rutscht und schlingert es mehrmals grenzwertig. Ich rufe ständig das Universum um Beistand und Wohlwollen an, doch statt Erlösung treffe ich zur Krönung des Abenteuers hinter einer engen Kurve plötzlich auf eine breite Furt. Bemerkenswerterweise steht genau an dieser Stelle ebenfalls ein Fahrzeug auf der anderen Seite. Eines von dreien auf achtzig Kilometern! Wenn hier etwas schief geht, ist jemand da, der helfen kann! Das Universum hat doch geantwortet. Schienbeintief rolle ich ins Wasser, es zischt am heißen Motor, meine Stiefel sind wasserdicht. Jetzt bloß nicht ablegen, Karre im Wasser wäre der Super-GAU. Nein, ich schalte die Headcam nicht ein. Es gibt gerade etwas Wichtigeres als Selbstdarstellung. Geschafft! Der Autofahrer staunt. Ein völlig verunsichertes, deutsches Touristenpärchen, das vermutlich zum ersten Mal im Leben eine Furt durchquert. Ich habe volles Verständnis, habe ich doch noch vor wenigen Momenten genauso die Hosen voll gehabt, im Wasser zu landen. Sie lassen sich von mir überzeugen, queren souverän das Wasser und haben heute Abend eine tolle Geschichte zu erzählen! Wie schön!

Nach wie vor erlauben nur wenige Streckenabschnitte mehr als vierzig Stundenkilometer, ich schaue bewusst nicht auf die verbleibenden Kilometer auf meinem Navi, es wäre frustrierend. Als ich einst mit Frau und Sohn die übelsten Berge Thüringens mit dem Fahrrad erklommen habe, hieß es immer gebetsmühlenartig: „Ir-gend-wann-ist-je-der-Berg-zu-En-de!“ Bis wir oben waren. Ich adaptiere diese Motivationsmethode auf heute: „Ir-gend-wann-ist-je-der-Dreck-zu-En-de!“ Und tatsächlich, es gelingt! Zwar wäre ich um ein Haar an den letzten 200 Metern feinem Sand gescheitert, aber das tut meiner Freude keinen Abbruch. Ich erreiche heile und sturzfrei die Asphaltkante der menschenleeren Ruta 40. In der Ferne treibt ein Gaucho seine Rinder zusammen und ich entlade mich in einem gewaltigen Jubelschrei, der vom patagonischen Wind davongetragen wird. Was für ein Ritt!

Die letzten Kilometer Ruta 40 bis Bajo Caracoles sind ein Genuss. Gegen 20:15h erreiche ich mein Ziel. Eine Tankstelle, Supermarkt, Kneipe, Hotel, Wechselstube, Kulturzentrum, alles in einem Laden. Mich erinnert das an den famosen Film „Bagdad Café“ von Percy Adlon. Superfreundlich ist man hier irgendwie nicht, eher pragmatisch und dienstbeflissen. Dennoch hilft man mir, ein Zimmer im Dorf zu finden. Ich tausche meine restlichen chilenischen Pesos, das reicht fürs Erste. Das Abendbrot nehme ich im „Caracoles Café“ ein, zwei kühle Bier und eine entspannte Nacht beschließen den Wahnsinnstag. Draußen stürmt es, ich liege im Bett und schlafe schnell ein. Gute Nacht.

Ich habe die Carretera Austral verlassen und fahre jetzt in Argentinien auf der Ruta 40 weiter bis Feuerland.

 

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