🇱🇮🇨🇭🇮🇹 🇫🇷 Motorradreise ohne Plan 2021

Freiheit ist Träume zu haben statt Pläne.

3. - 9. September 2021 - Der ungeplante Auftakt

Freitag, 16:00 Uhr Tecklenburg

Möglichst schnell weg, Schnitt, freitags nach der Arbeit, alles aus, abschalten, bin nicht mehr erreichbar, aufs Motorrad. Los. Auch wenn es nur zwei Stunden sind, erstes Ziel Sauerland. Abend mit alter Freundin. Nächster Tag, Allgäu. Abend am Lagerfeuer auch mit alter Freundin und Freund. Sonntag Vaduz, Davos, Alpenpässe, Prad am Stilfserjoch. Die Bergpanoramen heilen das Fernweh, die dünne Luft reinigt die Seele vom toxischen Alltag. Gipfelfoto, endlose Haarnadelkurven, Adrenalin. Ankunft, glückliche Erschöpfung, kühles Bier. Pause!

Sonntag, 18:00 Uhr Prad am Stilfserjoch

Familienbesuch mit zwei schönen Wandertagen. Nicht denken müssen. Führen lassen. Waale, Berge, Wiesen, Obstplantagen im Vinschgau. Wohltuende Entspannung, ja. Begeisterung stellt sich nicht ein. Zu viele Menschen, Ameisenhaufen-feeling auf dem ausverkauften Campingplatz, Kirmes, Enge. Spielregeln, nettes Campervolk, Wohnwagenharmonie. Platzruhe!

Mittwoch, 12:00 Uhr Lago di Garda

Die Wetteraussichten für die Weiterfahrt in die Schweiz sind schlecht. Änderung der Route: Sonne, Süden, Autostrada. Ich dachte mir, einen Bedenkabend am Gardasee einzulegen. Nun ja, da saß ich dann in einem netten Straßenhotel am südlichen Gardasee, habe Malcesine, meinen Kindheitsurlaubsort der 1970er auf der anderen Seeseite gesehen und mich durch den grauenhaften Verkehr auf der Westseite des Lagos gekämpft. Die alte, freundliche Frau an der Rezeption in Padenghe sul Garda sagte mir, das Zimmer sei auf der zweiten Etage. Klingt logisch, denn ich hatte ja ein Zimmer mit Aussicht gebucht. Aufzug gibt’s nicht und da das Motorrad hier auf einem öffentlichen Parkplatz steht, musste ich mein gesamtes Campingzeug ins Zimmer tragen. Dieses Erlebnis beeinflusste meine weiteren Entscheidungen ganz erheblich. Mehr und mehr setzte sich der Wunsch durch, an einem schönen, wirklich ruhigen Ort längere Zeit zu verweilen. Nach cucina italiana et vino Bardolino war der Entschluss schnell gefasst: Korsika! Die Schiffe nach Sardinien fahren eh zu ungünstigen Zeiten und Korsika liegt ja irgendwie auf dem Weg. On y va!

Donnerstag, 21:00 Uhr Savona, Ligurien

Fähren haben immer eine ganz besondere Wirkung auf mich, sie trennen mich zuverlässig vom Alltag. Ablegen am späten Abend. Fast geräuschlos verlassen wir den Hafen von Savona und als die Lichter der Stadt mit bloßem Auge nicht mehr auflösbar sind, sitze ich bereits zu Tisch und lasse mir das Bordmenü servieren. Das Bierglas ist gesprungen und hat messerscharfe Kanten. Ich lasse es freundlich zurückgehen und bekomme genauso freundlich ein neues. Den Verlust der Kohlensäure durch das Umschütten des Bieres in das unbeschädigte Glas nehme ich hin, es ist noch kalt genug, das soll mir reichen.

Die Kabine ist wie alle Kabinen auf Fähren: Sie bietet etwas Privatsphäre und man kann ruhig schlafen. Bis man von jenem immer gleichen, undefinierbaren Klaviergeklimper geweckt wird. Von Frank Sinatra über Beatles bis Lou Reed alles dabei. Gecovered und bis zur Unkenntlichkeit verwaschen im Stile jener charakterlosen Tischmusik, die zu Coq au vin genauso gut passt wie zu Labskaus mit schlecht gezapftem Bier.

Freitag, 10. September 2021 - Korsika

6:30 h Ankunft in Bastia: Durch den dunklen Hafen verlassen wir den stickigen Bauch der Fähre, die ersten Cafés haben schon geöffnet. Ich brauche ein französisches Frühstück. Café au lait und ein Croissant zum Tunken. Café heiß, Croissant noch warm! Perfekt! Ein unrasierter Korse am Nachbartisch brummt mir ein freundliches Bonjour herüber und zieht an seiner Gouloises. Wohlwollend tauche ich in den strengen Rauch ein und lasse mich von diesem Klischee liebkosen. Die Morgendämmerung kriecht orange von Osten in die kleine Hafenstadt, die Müllabfuhr entsorgt die Zivilisationsabfälle des Vortages. Corse, réveille-toi!

Mein Navigationsgerät weist mir zielsicher den Weg zu einem weit abgelegenen Hotel in den Bergen des Forêt de Libio. Ich verlasse die RN 11 Richtung Westen und der hektische französische Verkehr reißt hinter mir ab. Es wird ruhiger, es wird leerer. Wunderschöne gewundene Straßen durch felsige Schluchten begeistern mich. Bienchen summt und die neuen Reifen werden jetzt auch an den Kanten rundgefahren. Ein bisschen muss ich meinen Übermut zügeln, Selbstüberschätzung hat noch nie zu Gutem geführt. Hier auf Korsika stehen auch mal ein paar Kühe hinter den engen Kurven oder die schwarzen Schweine kommen unverhofft auf die Straße gerannt.

Ankunft im kleinen Hotel in Guagno-les-Bains gegen Mittag. Absteigen. Schluss für heute und für die nächsten zwei Tage. Madame und Monsieur sind sehr freundlich, Bienchen kann im Hof stehen, das Zimmer hat einen Balkon mit Ausblick auf Soccia. Wunderbar! Ich komme zur Ruhe. Corse centre!

Sept heures et demie: Menu regionale. Assiette de saucisse crudité, lapin aux tagliatelles, sélection de fromages corses. Die anderen Gäste treffen für französische Verhältnisse sehr pünktlich ein. Schwätzend nehmen sie zielsicher am großen Nebentisch Platz. Mein kleiner Tisch für eine Person steht am Rand, angenehm entfernt und mit Übersicht über den ganzen Gastraum. Am späten Nachmittag hatte ich mir schon einen Clos Capitoro blanc servieren lassen, den ich im Kühler mit an meinen gemütlichen Tisch nahm.

Die dezente Tischmusik setzte sich zusammen aus allem, was die letzten 70 Jahre Musikgeschichte hergaben. Peter Schilling folgte auf Dave Brubeck, Jaques Brel auf Sinéad O'Connor. Donna Summer war dabei und ich glaube auch Tom Waits... Warum nicht? Und außerdem will ich, dass mir heute alles gefällt.

Was Monsieur zusammengestellt und zubereitet hat, schmeckte vorzüglich. Die so sehnsüchtig erwartete Atmosphäre eines französischen Menüs ließ mich ankommen. Nicht dort, wo ich programmiert hatte anzukommen, sondern dort, wo mein innerster Wunsch mich unfehlbar hinleitete. France, ma „potesse“ adorée!

Samstag 11. September 2021 – Wieder Berge und ein Regenbogen

Nach einer wirklich entspannten und ruhigen Nacht weckte mich schon recht früh die Sonne. Keine Kilometerschinderei heute, kein Pflichtprogramm. Die zaghaft mit dem ersten Sonnenlicht angestrahlten Berge, die ich aus meinem Bett sehen konnte, luden mich ein, den Tag heute nicht tatenlos verstreichen zu lassen. Normalerweise bin ich zu dieser frühen Stunde und bei derart schönem Wetter hinreichend glücklich im Bett, so dass ich sehr gerne auch mal das eine oder andere Viertelstündchen gesunden Schlafes dranhänge, bevor ich in den Tag eintrete. Nicht so heute, ich will in die Berge!
Bis zehn Uhr gibt es Frühstück, französisches Frühstück wie ich annehme, dessen einziges Highlight sich gewöhnlich auf den sehr guten und starken Kaffee beschränkt. Und so war es auch, nur ein naiver oder unerfahrener Frankreichbesucher würde anderes erwarten. Croissant, pan au chocolat, du beurre, deux sortes de confiture (fraise et abricot), quoi d'autre? Et bien sûr, le café fort! Bonjour!

Es gibt kleine Seen hier und Canyons und auch eine ganze Menge Wanderwege, allerdings sind die Karten alle unzureichend und nicht geeignet für eine autonome Wanderung. Da hilft das Gespräch mit Monsieur, er hat auch eine Karte, allerdings ist es seine einzige und sie ist auch schon ca. 20 Jahre alt. Nun was soll’s, ich machte ein Foto von der Karte und merkte mir seine detaillierten Beschreibungen so gut ich konnte. Sehr sorgfältig speicherte ich die Empfehlungen ab, bei denen Monsieur der Puls höher ging und er geradezu ins Schwärmen kam. Er sprach von Lac und bleu und soleil und benutzte Worte wie phantastique, magnifique und extraordinaire und uhlala und überhaupt sei Korsika wunderschön und ganz besonders hier in den Bergen. Na dann, los, ich hoffe, ich habe alles richtig verstanden, ist aber auch egal, wenn’s überall schön ist, dann werde ich sicherlich hübsche Orte finden.
Verkehrsmittel gibt’s nur eins, mein Motorrad und da ich nicht im Bikerröckchen in die Berge wandern möchte, verstieß ich gegen alle Regeln der Sicherheitsbekleidung und fuhr in kurzer Hose, T-Shirt und Wanderschuhen los. Zehn Kilometer vorsichtige Fahrt und ich war am Startpunkt zum Lac de Creno. Die Sonne brannte jetzt schon kräftig vom blauen Himmel, Rucksack, Mütze und los...

Die Landschaft ist wunderschön, unten im Tal rauscht der Zoicu durch seinen Canyon, hier oben auf dem Anstieg in die Berge duftet es nach Rosmarin, Oregano und Thymian. Kräftige Schwaden von Liebstöckel unterbrechen die dominierenden Aromen der Lippenblütler. Sie verraten die Anwesenheit von Wildschweinen. Die reifen Edelkastanien hängen in Massen an den Bäumen und es ist Zeit für die Ernte der schmackhaften Nüsse. Gut anderthalb Stunden dauert der Aufstieg zum Lac de Creno und das grobe Geröll trägt das Seinige zur Mühe bei. Immer wieder bleibe ich stehen und lausche den Ziegen im Tal oder genieße die Abkühlung durch den frischen Wind. Die Farben hier in den Bergen lassen schon den Herbst erahnen, das warme Orange setzt sich schon deutlich sichtbar durch.

Vorbei an der Funtana di a Veduvella, ein letzter erfrischender Schluck Quellwasser und nach weiteren 15 Minuten erreiche ich den schön gelegenen Bergsee von Creno. Verschnaufen in der Sonne und die Idylle auf sich wirken lassen.
Ein paar Kühe grasten im Schilf, die Seerosen zogen mit ihrem kräftigen Rosa den Blick auf sich und riesige Libellen umkreisten mich, als wollten sie prüfen, ob hier Freund oder Feind einen Besuch abstattete.

Im Osten grenzt der Bergsee unmittelbar an das gleichnamige Tal des Creno, das imposant zwischen dem Bocca di u Capizzulo und dem Bocca di a Sarricciola hinabstürzt. Ich liebe es, an steilen Tälern zu verweilen und in die Ferne zu blicken. Der warme, stetige Aufwind streichelt das Gemüt und der würzig, harzige Duft der Bergkiefern ist Aromatherapie für meine Seele. Bunte Eidechsen teilen die wärmende Sonne mit mir, sitzen neben mir auf den Steinen und heißen mich stumm willkommen in ihrem Zuhause. In diesen Momenten ist die Frage nach dem Sinn des Lebens überflüssig, sie ist beantwortet.
Wieviel Zeit verging, weiß ich nicht, ich schnürte mein Bündel und machte mich auf den angenehmen Rückweg zu meinem Motorrad. Vorbei an Canyon, Kastanien und den Wassern von Veduvella. Jetzt noch hinab ins Tal, die Aussicht vom Balkon wartete schon auf mich. Ich sprach mit Madame über den ausbleibenden Regen in diesem Jahr, suchte mir einen Rouge de la Maison aus und widmete mich der Bergsicht. Und plötzlich kam er, der Regen. In dicken Tropfen, zusammen mit einem imposanten Gewitter in den Bergen. Die Sonne zauberte einen langanhaltenden, wunderschönen Regenbogen über Soccia und die Berge des Lac de Creno.

Ich höre Monsieur schon seit einiger Zeit in der Küche arbeiten und während ihr die Geschichte lest, werde ich vielleicht schon am Tisch sitzen und mich mit korsischen Spezialitäten verwöhnen lassen. A plus tard, mes amis!

Sonntag 12. September – Brückentag und ein überbewertetes Hotel

Wenn Motoradfahrer schwärmen, einen schönen Tag gehabt zu haben, bedeutet das genau genommen nur, dass schönes Wetter war, die Straßen trocken und gewunden, herrliche Pässe und Aussichten zum Anhalten einluden und alle Cafés stark und lecker waren. Und genau so ein Tag war es heute. Er begann wie gestern mit einem starken Café, die Franzosen nennen es Frühstück, das übliche Marmeladen-Croissant und etwas Butter. Klamotten packen und die Karre komplett aufrödeln. Eine herzliche Verabschiedung von Madame und Monsieur, es hat mir sehr gut gefallen und das leckere Essen und die gemütliche Atmosphäre werden in Erinnerung bleiben. Insbesondere im Gegensatz zu dem, was ich heute Abend als Unterkunft gebucht habe. Au revoir, Des Deux Sorru!

Ein Viertelstündchen warmfahren, dann in den Genussmodus. Wenn man keinen hetzenden Korsen hinter sich hat, lässt man es gemütlich angehen, man schwebt mehr um die Kurven als alles andere, Rennstrecken gibt es außerhalb der Routes Nationales eh keine. Zu oft liegen Sand, Kuhscheiße oder schlafende Schweine hinter den Kurven, an felsigen Hängen schmücken handballgroße Steine die Straße, Schlaglöcher so groß wie Suppenschüsseln. So muss das! Dafür ist man alleine in den Bergen, riecht und schmeckt die Landschaft, kann alles so tun und lassen wie’s gefällt. Ein Privileg, das ich schon seit Jahren pflege. Es ist die Freiheit zu reisen und der Luxus der Unerreichbarkeit.

An einer einsamen Brücke halte ich an. Le Pont génois de Truggia ist ihr Name. Ich klettere in die nahen Felsen, es ist Mittagspause. Die Sonne wärmt und das Wasser des Cruzzini rauscht leise und gleichmäßig. Stundenlang könnte ich ihm zuhören wie es unter dem Bogen hindurchfließt. Reisende kommen, Reisende gehen. Sie machen Fotos, posen auf der Brückenmauer. Bei manchen kann man absehen, dass diese Fotos einfach nur schlecht werden. Ich frage mich derweil viel lieber, wie lange diese Brücken schon stehen und wie lange sie noch stehen werden. Die Straßen sind teilweise derart kaputt und vernachlässigt, dass man kaum glauben mag, dass noch jemand hier entlang fährt. Und trotzdem sind diese alten, meist Steinbogenbrücken so unverzichtbar, bedenkt man nur, wie große Umwege man in Frankreich oft fahren muss, um Flüsse oder Schluchten überqueren zu können. Dann geht’s weiter.

Serpentinen folgen auf winzige Bergstraßen, ein Pass folgt dem anderen. Wie gestern schon kündigen sich die halbwilden schwarzen Schweine durch ihren Geruch nach Liebstöckel an. Wird er zu intensiv kann man fast sicher sein, hinter einer der nächsten Kurven eine Rotte anzutreffen.

Irgendwann komme ich in Petreto Bicchisano an und muss tanken. Eine gute Gelegeheit für einen Café und die Suche nach einer schönen Unterkunft. Es reicht für heute. Wenn ich nun über vier Stunden für runde 160 km gebraucht habe, ist das ein Kompliment an die gewählte Strecke. Es waren die kleinsten Straßen, die noch auf der Michelin-Karte Nr. 528 „Corse“ zu finden waren. Die mit den grünen Rändern. Vielleicht gibt der Ausschnitt aus Google Maps® ja ein wenig wieder, wie diese Lieblingsstraßen so verlaufen.

Es gab noch ein preiswertes Zimmer in einem sehr schön an einer Brücke gelegenen Hotel. Die Preise für Übernachtungen auf Korsika sind schon eine Ansage, an Wochenenden steigen sie teilweise auf das Doppelte. Das hab ich noch nirgendwo anders so erlebt. Wie auch immer, schnell gebucht und nochmal ein paar Kilometer über eine winzige Straße bis zum Auberge U Mulinu. Geschlossen! Einchecken ab 17:30h, so stand es im Buchungsportal. Ok. Aber, dass der ganze Laden abgeschlossen ist und man tatsächlich bis 17:00 h auf der Straße warten muss, bis jemand den Schuppen erst aufschließt, zeugt schon von einem sehr selbstbewussten Management. Madame noch im Bikini vom Sonntagsausflug und Monsieur in sehr wichtige Handy-Telefonate vertieft. Die Katzen werden liebevoller und vor den Hausgästen begrüßt. Nun ja, wenn das so Standard des Hauses ist, darf ich dazu auch eine Meinung haben: Denen geht’s zu gut, die Location ist echt Klasse, darauf ruht man sich aus und verfehlt eindeutig die aktuellen Dienstleistungsstandards des Hotelgewerbes. Mein Zimmer mit Aussicht habe ich mir dann auch anders vorgestellt, es bedeutet offensichtlich nur, dass es ein Fenster hat und man mit Mühe den Himmel sehen kann. Das Restaurant hat geöffnet. Toll, ich werde ja schon bescheidener. Das Menu, nun ja, dann wieder eine Enttäuschung. Man hat es sich bequem gemacht: Als Entrée einfache, frittierte Beignets mit etwas Salatbeilage und grobem Meersalz, 1er Plat ein Pasta-Pesto gebadet in zu viel Olivenöl mit etwas Salatbeilage und grobem Meersalz, zum Abschluss Käse mit etwas Salatbeilage und grobem Meersalz... Kreativ geht anders! Die Preise dafür sind wiederum Spitzenklasse und eines Sterne-Restaurants würdig.

Ich will mich aber jetzt nicht ärgern, hilft ja nichts, sondern genieße den restlichen Abend und werde eine sehr stille Nacht vor mir haben hier an der Brücke über den Taravo u Taravu.

Montag 13. September 2021 – Ohne Ziel im Paradies

Der neue Tag brach früh an und ich hatte tatsächlich eine wunderbare ruhige Nacht. Das Frühstück war nach den gestrigen kulinarischen Enttäuschungen besser als erwartet, abgesehen davon, dass heute früh Madame den gesamten Saal mit ihren Telefongesprächen beschallte. Doch ignorieren wir diesen groben Mangel an Achtsamkeit einfach mal und schauen positiv in den neuen Tag. Gestärkt mit reichlich Café au lait und Croissants packte ich mich auf mein Bienchen und zockelte mit den üblichen 430 kg Lebendgewicht von dannen. Noch einmal über die Brücke und dann Richtung Bocca d’Illarata, dem mit 990 m höchsten Pass zwischen Porto Vecchio und der hübschen Stadt Zonza im südlichen Zentralkorsika. Phantastische Straßen, paradiesische Aussichten auf die Gipfel Korsikas und die frische Bergluft, die mir die nötige Kühlung verschafft. Was wird der Tag heute bringen? Ein definiertes Ziel habe ich nicht, ich möchte eigentlich nur fahren und die Landschaft in mich aufsaugen. Den blauen Himmel, die kargen Gipfel und das karge Grün der Baumgrenze. Ein spontaner Stop in einem Straßencafé in Aullène, Café au lait, Biscuits und ein intensiver Blick auf die Karte, es gibt keinen falschen Weg hier, ein Paradies für mich.

Die Pässe und Kurven flogen noch eine ganze Weile unter mir davon und irgendwann lagen die Berge hinter mir und ich befand mich bereits auf der Straße nach Bonifacio. Es waren 40 km bis Bonifacio oder eine gute halbe Stunde, die mir blieben für eine Entscheidung, wohin die Reise heute noch geht. Über die südliche Hafenstadt Bonifacio hatte ich einiges gelesen, eine spannende Geschichte, traurigerweise immer mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden, was auch die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt prägt. Irgendwie war es dann auch keine echte Entscheidung mehr, direkt den kleinen Fährhafen anzusteuern und ein Ticket nach Sardinien zu lösen. Die knappe Stunde Wartezeit verbrachte ich mit dem Versuch der Beantwortung der Frage, ob die Besitzer der Yachten, die hier so prächtig im Hafen liegen, eigentlich glücklich sind. Was für eine bescheuerte und nutzlose Fragestellung.

Imbarcazione und Leinen los. Wir verlassen den hübschen Hafen von Bonifacio, kleine Segelboote kreuzen uns und die berühmte Grotte Marine di Bonifacio zieht Backbord an uns vorbei. Mit etwas mehr Abstand bewundere ich die Klippen und die Zitadelle von Bonifacio. Deutlich ist die Treppe des Königs von Aragon zu sehen, die der Sage nach von seinen Rittern in einer Nacht in den Fels geschlagen worden sein soll.

Knappe zwei Stunden Besinnung auf See. Sonne, Wind und die Vorfreude auf Sardinien. In Santa Teresa di Gallura der Ankunftsstadt auf Sardinien interessierte sich niemand für die Corona-Formalismen. Auf und davon, ob ich einen Zettel ausgefüllt habe oder nicht. Bei der hiesigen Handhabung der Regeln dürfte das wenig ausmachen. Mir war die nächste Übernachtung irgendwie unklar. Zelten? Nein, Campingplätze sind hier bunte Freizeitparks für den gleichen Preis wie Mittelklassehotels. Ungezählte Schilder am Straßenrand machten die Entscheidung nicht einfacher. In Oristano, ja in Oristano, da gibt es ein tolles Hotel, in dem ich 2013 schon einmal war. Mitten in der schönen Altstadt. Ich weiß nicht mehr wie es heißt, aber ich bin sicher, ich werde es finden. Und so war es auch. Auf Anhieb, fast schon gespenstisch, als wäre es gestern gewesen. Hotel Duomo ist der Name und ein Zimmer für mich hatten sie auch noch. Es war schon sehr spät, so weit zu fahren war ja auch gar nicht geplant, aber was sind schon Pläne? Noch ein kultiviertes Häppchen in der lebhaften Altstadt, noch einen Negroni auf dem Heimweg und ein nachdenkliches Amüsement, die Jugend zu beobachten... wie sie erwachsen sein will, wie sie sich profiliert, wie sie die essentiellen Themen dieser Welt diskutiert. Rauchen als Symbol von Erwachsensein. Auch ohne ausreichende Italienischkenntnisse ein Schauspiel. Waren wir auch so? Ich musste mich einem wohlwollenden Lächeln geschlagen geben. Ja, so waren wir auch.

14.-16. September 2021 – Auf alten Spuren und Basta Kirmes

So oft war ich in meinem Leben schon auf Sardinien und auch wenn ich niemals behaupten würde, die Insel zu kennen, so verbindet mich doch eine innige Freundschaft mit ihr. Vor vierzig Jahren entdeckten wir das touristisch unerschlossene Eiland als Pfadfinder zu Fuß. Mit der Diözese meiner Heimatstadt hatten wir nicht wirklich was am Hut, irgendwie war Pfadfinder zu sein cool und wir waren ein bunter Haufen, der einfach nur Spaß hatte, draußen zu sein. Tagelange Wanderungen unter der Sommersonne und wo es schön war blieben wir. Portoscuso, ein kleines unscheinbares Nest im Südwesten Sardiniens, ein paar Felsen am Meer, das war’s. Der Ort etablierte sich, der Name wurde in den Folgejahren für mich zur Institution. In der Bäckerei arbeitete die schöne Chiara und 1981 - ein Jahr später - empfing sie meinen besten Freund und mich als Moderatorin im hiesigen Radio: „Radio Portoscuso – Ti spacco la faccia“. Und wir waren Live-Gäste, ohne ein Wort Italienisch, das geht. Es folgten noch sehr viele Besuche zu allen Jahreszeiten, der letzte 2013 und heute, weitere acht Jahre später. Und immer noch ist es schön hier, die Veränderung ist spürbar, aber sie schreitet glücklicherweise langsam voran. Es ist eben nichts so konstant wie die Veränderung.

An diesem Strand standen 1980 noch keine Häuser, es gab keinen behindertengerechten Zugang, die Sarden nannten den Ort „Campo libero“. Man durfte dort wild zelten, genauer, man wurde dort geduldet, sogar von der Polizei. Das lag vielleicht auch daran, dass wir damals als „Scutti Tedesci“ einen ehrwürdigen Ruf hatten. Heute ist der Kuchen aufgeteilt, bebaut und weitgehend kommerzialisiert.

Nein, bleiben wollte ich hier nicht, es zog mich nach Sant’Antioco. Es gibt einen inoffiziellen Weg durch die Saline di Sant’Antioco. Das Durchfahrtsverbot habe ich versehentlich übersehen, dann geht es fünf Kilometer zwischen den Kristallisationsbecken über den Isthmus zur Insel Sant’Antioco. Eine unwirkliche Landschaft, man schmeckt das verwehte Salz, das hier meterhoch zu Haufen zur Weiterverarbeitung aufgeschüttet ist. Ein Halobacterium produziert in den Salzbecken Karotinoide, das sind rote Farbstoffe, die von kleinen Krebsen aufgenommen werden, von denen sich wiederum Flamingos ernähren. Deshalb sind Flamingos rosa.

Noch schnell zur Cantina Sociale Sant'Antioco, ein wunderbarer Weinladen, dann zum Campingplatz. Um es kurz zu machen, das impertinente, hysterische Gequengel von Kindern am Pool gepaart mit der fehlenden Handlungssouveränität unfähiger Eltern haben mich in der Rezeption umdrehen lassen und eine Ferienwohnung in den Hügeln mieten lassen. Soweit das Klischee. Positiv formuliert, ich wollte einfach nur Ruhe und habe die Kirmes gerne den Kindern und ihren glücklichen Eltern überlassen. Und wie es so oft ist, es sind die besten Unterkünfte, die man spontan am Wegesrand findet. Es werden sich ruhige Tage mit Schlafen, Schreiben und Lesen anschließen. Entschleunigung! „Mi accarezzerà mia faccia“.

Freitag 17. September 2021 – William Turner und was wir von den Italienern lernen können.

Kennt ihr das, wenn ihr egal wo an der Kasse seid und jedes Mal nach irgendeiner Kundenkarte gefragt werdet? Ihr kauft seit Jahren beim gleichen, kleinen Supermarkt, ohne eine Kundenkarte, man kennt Euch dort, aber jedes Mal: „Haben Sie die Soundso-Karte?“. Ihr könnt noch schnell die vergessene Tüte Erdnüsse nachkassieren lassen: „Haben Sie die Soundso-Karte?“. Nein, sagte ich doch gerade schon... Die Italiener sind als sehr kommunikatives Volk bekannt, bisweilen nervtötend redselig. Sie reden über alles, an allen Orten und zu jeder Zeit. An grünen Ampeln, mitten im Stadtverkehr wird für den Plausch auch gerne mal der Verkehr angehalten. Das volle Verständnis der Mitmenschen kann da vorausgesetzt werden. Für uns Deutsche nicht immer nachvollziehbar. Aber eines haben sie trotz allem besser verstanden: Es ist überflüssig und nicht ein einziges gesprochenes Wort wert, nach der Kundenkarte zu fragen. Das tut man nicht. Es muss der sinnloseste Dialog im Universum sein, wenn nicht einmal Italiener darüber reden wollen. Sie machen das so: Bevor der zahlende Kunde wie üblich seine Waren auf das Laufband legt, muss dort dieses Kassenlaufbandwarentrenndings positioniert werden. Ich weiß nicht, wie das korrekt heißt, ein paar prägnante Bezeichnungen aus dem Netz sind: Kassentoblerone, Laufbandpommes, Kassenprügel oder Stornostopper. Und dieses Dingsbums hat in Italien einen Schlitz. Der Kunde steckt seine Kundenkarte dort hinein und kündigt dem Kassierenden an: „Ja, ich habe eine Kundenkarte – siehe Schlitz!“ Keine Fragen, keine Nerverei. Fertig! Und wenn der Schlitz leer ist – keine Kundenkarte. Auch fertig! Der Vorschlag für einen einheitlichen EU Standard dieses Antikundenkartenterrorbolzens muss her! Lasst uns von den Nachbarn lernen.

Mit dieser Erleuchtung fuhr ich heute gedankenvoll vom Supermarkt heim. Die Sonne sank schon langsam ins Mittelmeer und der Himmel glich einem Gemälde von William Turner. Ich wusste nicht, was mein Herz mehr bewegt, das turnersche Firmament oder die Hoffnung, dass die Welt doch ein wenig besser werden könnte, Dank dem neuen EU Antikundenkartenterrorbolzen!

 

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